Mathemacherin des Monats Januar/Februar 2018 ist Nadine Kiesewalter. Die junge Mathematiklehrerin der Gesamtschule Horst aus Gelsenkirchen hat mit ihrer 7. Klasse das erste Mal am Klassenspiel bei „Mathe im Advent 2017“ teilgenommen. Das Erstaunliche dabei war, wie sich die Klasse selbständig – ohne die Hilfe der Lehrerin – organisiert hat: In Kleingruppen mit unterschiedlichen Lernniveaus wurde außerordentlich engagiert über Mathematik diskutiert. „Dabei sein ist alles“, lautete die Devise. Schwächere und leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler knobelten gemeinsam, hatten viel Spaß und außerdem noch viel gelernt! Stephanie Schiemann vom DMV-Netzwerkbüro Schule-Hochschule sprach mit Frau Kiesewalter.

Nadine KiesewalterFoto: Julian Wagner

Sie waren das erste Mal bei „Mathe im Advent“ dabei. Was hat Sie und Ihre Schülerinnen und Schüler motiviert mitzumachen? Sind Ihre Erwartungen erfüllt worden?

Mich hat es vor allem motiviert, den Schülerinnen und Schülern zu zeigen, dass Mathematik viel mehr ist, als das, was wir ihnen in der Schule zeigen können. Vor allem, was Mathematik für einen Rätselspaß auslösen kann. Mir war es sehr wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler unbefangen an Aufgaben herangehen können, da die Aufgabentypen vorher nicht im Unterricht besprochen wurden. Somit mussten sie hier sehr stark mithilfe ihres logischen Denkens arbeiten. Ich habe gehofft, dass sie bemerken, wie viele Aufgaben sie ohne Hilfe lösen können.

Diese Erwartungen wurden vollkommen erfüllt. Teilweise sind sie sogar übertroffen worden, sodass ich dank „Mathe im Advent“ und meiner Klasse fast täglich Gänsehautmomente hatte.

Konnten Sie auch leistungsschwächere Kinder motivieren?

An unserer Gesamtschule erfolgt ab der der 7. Klasse eine äußere Differenzierung im Fach Mathematik. Die Schülerinnen und Schüler einer Klasse sind je nach Fähigkeit in Erweiterungs- und Grund-Kurs aufgeteilt. Hier war es mir sehr wichtig, nicht nur mit den E-Kurs Schülerinnen und Schülern bei „Mathe im Advent“ teilzunehmen. Dies führte dazu, dass die Kinder nicht nur mich, sondern auch sich selbst immer wieder mit kreativen Lösungen überraschten, unabhängig davon, aus welchem Kurs sie stammten. Nur ein paar Schülerinnen und Schüler hatten Probleme die Aufgaben zu lösen. Allerdings war es toll zu sehen, welchen Eifer sie entwickelten und wie gut sie die 24 Tage durchgehalten haben. Das war mir persönlich auch viel wichtiger als die richtigen Antworten. Die Schülerinnen und Schüler überraschten mich mit einer zunehmenden hohen Frustrationstoleranz. Das „Dranbleiben“ ist meiner Meinung auch der Schlüssel zum Erfolg.

Wie lief das Aufgabenlösen in Ihrer Klasse? Hat jeder für sich geknobelt oder immer die Klasse zusammen…?

Das Aufgabenlösen war eins der Dinge, die mich in der Zeit am meisten fasziniert haben. Die Schülerinnen und Schüler haben sich hierbei vollkommen selbstständig organisiert. Sie haben, ohne es zu wissen, ein „Think-Pair-Share System“ eingesetzt. Sie haben die gesamte Klasse in vier heterogene Kleingruppen eingeteilt. In jeder Kleingruppe gab es einen Sprecher. Diese Sprecher haben sich in einer weiteren Gruppe per WhatsApp ausgetauscht. So haben die Kinder erst in der Kleingruppe über die Aufgaben diskutiert. Sind sie dann zu einer Lösung gekommen, haben die Sprecher ihre Gruppenlösungen verglichen. Wenn diese Lösungen gleich waren, haben sie diese Online abgegeben. Bei unterschiedlichen Lösungen haben sie mit diesem neuen Impuls noch einmal in ihrer Gruppe über die Lösung diskutiert. Somit hat erst jeder alleine geknobelt und ist dann in die Kommunikation mit den anderen getreten. Ich habe meine Klasse selten so wundervoll über Mathematik diskutieren gehört.

... sie immer wieder zum Knobeln und Rätseln einlädt.

Läuft auch ohne Sie?!? Was war Ihre Rolle?

Weil dies so gut lief, habe ich meinen Schülerinnen und Schülern öfters im Unterricht die Zeit gegeben, über die Aufgaben nachzudenken. Dabei fand ich es besonders toll, dass ich in der gesamten Zeit nie nach einer fertigen Lösung gefragt wurde. Die Schülerinnen und Schüler konnten differenziert ausdrücken, wenn sie Probleme oder Fragen hatten. Diese haben sie aber vor allem unter sich geklärt. Aufgrund mancher Sprachprobleme habe ich den Schülerinnen und Schülern höchstens dabei geholfen, die Aufgabenstellung richtig zu verstehen. Es war mir auch wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Lösungswege und vor allem Darstellungsarten nutzten. Überraschend war es für mich auch, dass die Schülerinnen und Schüler so unbeschwert und selbstbewusst an teilweise sehr komplexe Aufgaben herangegangen sind. Die Schülerinnen und Schüler zeigten ein Selbstvertrauen ins eigene Können. Gerade dieses Selbstvertrauen fehlt leider im Mathematikunterricht oft.

Wer oder was hat Sie damals für die Mathematik begeistert? Wann fing Ihr Interesse an? Erzählen Sie mir ein wenig davon.

Mein Interesse fing etwa in der sechsten Jahrgangsstufe an. Hier war ich vor allem an der Geometrie interessiert. Die Hintergründe der Schulmathematik lernte ich erst im Studium kennen und das begeisterte mich. Hier habe ich aber auch deutlich gemerkt, wie sich das mathematische Denken ändern muss, um Sätze und Beweise verstehen zu können. Mein schönster Moment passierte am Ende des Studiums: In einer Didaktik Vorlesung ging es um einen Beweis aus der ersten Analysis Vorlesung und wie man diesen in der Schule umsetzen kann. Mich interessierte es, ob wir in der ersten Analysis Vorlesung den gleichen Beweis genutzt haben. Ich hatte mir zu Beginn des Studiums ein Analysis Buch gekauft, welches ich in den ersten Semestern leider überhaupt nicht verstanden habe. Es stand daher mein ganzes Studium unberührt in einem Regal. Am Ende des Studiums suchte ich eben dieses Buch und schlug den Beweis nach. Dann passierte etwas Wundervolles: Ich konnte es ohne Probleme lesen. Ich verstand jeden einzelnen Satz.

Ist die Begeisterung im Beruf als Lehrerin erhalten geblieben?

Definitiv ja! Ich finde es schön, wie vielfältig die Mathematik ist. Mir ist es wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler vor allem Strategien zum Aufgabenlösen entwickeln, anstatt auswendig gelernte Regeln auszuführen. Ich denke auch, dass man als Lehrerin eine Begeisterung für sein Fach haben muss, nur dann kann man seine Schülerinnen und Schüler für das Thema begeistern.

Hätten Sie einen Wunsch für die Mathematiklehrer-Ausbildung? Wenn ja, welchen?

Ich bin froh, dass es in meiner Universität keine separaten Mathematikvorlesungen für Lehramtsstudierende gab, sodass ich während meines gesamten Studiums engen Kontakt zu Kommilitonen hatte, die nur Mathematik studiert haben. Dadurch habe ich keine „abgespeckte“ Version der Mathematik vermittelt bekommen und konnte tiefe Einblicke in das Fach erhalten. Die dabei erlernten Denkmuster und Herangehensweisen an Probleme haben mir – wie oben beschrieben – dabei geholfen, auch Schulstoff anders wahrzunehmen und meinen Unterricht zu untermauern. Ich hoffe, dass dieses differenzierte Bild der Mathematik auch zukünftigen Lehramtsstudierenden ermöglicht wird. Auch wenn viele Lehramtsstudierende klagen, dass sie mit den meisten Inhalten des Studiums im Unterricht nicht wieder in Berührung kommen werden, lernt man doch hauptsächlich abstraktes Denken. Außerdem ist es doch toll, wenn man auch den Hintergrund dessen, was man in der Schule lehrt, verstanden und durchdrungen hat. Denn dadurch wird das Denken viel flexibler und es ist sehr viel besser möglich, auf die Schülerinnen und Schüler einzugehen, sie für die Mathematik zu begeistern und noch eine andere Erklärung für etwas schwer Verständliches zu finden.

Im Referendariat haben wir viel über Grundvorstellungen und über verschiedene Aufgabentypen in der Mathematik gelernt und das hat mir sehr dabei geholfen, den Unterricht noch angepasster zu gestalten. Dies wünsche ich auch allen anderen in der zweiten Ausbildungsphase.