Cédric Villani feierte im letzten Jahr seinen 40. Geburtstag. Das ist sein Glück, denn so konnte er 2010 die Fields-Medaille bekommen, den „Nobelpreis“ der Mathematik, der nur exzellenten Forschern unter 40 Jahren vorbehalten ist. Villani erhielt sie unter anderem für das Theorem, um dessen Beweis sich sein neues Buch für alle dreht: "Das lebendige Theorem", eine Beschreibung des Ringens um die Beschreibung des Verhaltens nichtlinearer Lösungen der Wlassow-Poisson-Landau-Gleichung, des Standardmodells der klassischen Plasma-Physik. Erstaunliche Phänomene wie „Echos“, die nach der Anregung von Plasmen auftreten können, erklären sich durch die Arbeit von Villani und seiner Mitstreiter wie von selbst. Aber schafft er das auch mit der Mathematik in seinem Buch? Klare Antwort: Nein, aber das will er auch nicht. „Das Buch versetzt den Leser in die Rolle einer kleinen Maus, die auf der Schulter des Mathematikers sitzt und ihm zuschaut“, behauptet Villani gerne in Interviews. Sicher ist: Die Maus wird größere Teile des Buches überblättern, weil sie keinen TeX-Quellcode lesen kann.

Villanis Buch ist nämlich eine Collage aus E-Mail-Fetzen (regelmäßig auch in LaTeX), Auszügen aus Aufsätzen, Gedanken- und Gesprächsprotokollen, Liedertexten, Gedichten. Dazwischen streut er sparsam ein paar Anekdoten und einfache Erklärungen von ein bis zwei Seiten Länge. Phasenweise liest sich das Buch wie der Bewusstseinsstrom eines Spitzenmathematikers, der sich gerne in Szene setzt (ohne allerdings je arrogant zu wirken): „Anscheinend bin ich ein Katalysator!“ „Und Musik bitte, oder ich sterbe!“ Dazu passt, dass man Villani in der Öffentlichkeit nur in Anzug und mit einer seiner vielen faustgroßen Spinnenbroschen am Revers kennt.

Dennoch ist das Buch keine Autobiographie; sein privates Leben als Familienvater zweier Kinder bleibt vage im Hintergrund. Ausführlicher wird es bei der Schilderung von Villanis musikalischen Vorlieben. Das Buch ist auch kein populärwissenschaftliches Werk, das Mathematik erklären will. Villani schreibt eher Literatur, wobei er sich stilistisch in der Vergangenheit bedient: Er kreuzt Mathematik-Poesie mit dem Stream of Consciousness von James Joyce und dem Dandytum von Oscar Wilde. Vermutlich ist es diese „postmoderne Erzählweise“, die bei Feuilletonisten Hochgefühle auslöst. Wirklich schätzen können dieses Buch aber wohl nur Leser, die fortgeschrittene Ahnung von Mathematik, am Besten von Analysis, haben – für sie ist es jedoch ein schräger, neuartiger Genuss.

Andreas Loos