"1514 stach Albrecht Dürer eine seiner geheimnisvollsten Radierungen: "Melencolia I". Seit Jahrhunderten fasziniert sie Mathematiker und Mysteriker gleichermaßen, nicht nur wegen des magischen Quadrates, der Kugel und des seltsamen Körpers, vor dem die geflügelte Frau sitzt. Eine Frage war auch: Was soll die Leiter im Bild? Und: Hatte Dürer eine Rechtschreibschwäche -- oder schrieb er "Melancholia" mit Absicht falsch?

Melencolia I Durero

(Bild: Wikipedia)

Der britische Mathematiklehrer und Dichter Nicholas MacKinnon hat nun eine neue Theorie dafür entwickelt, was auf dem Bild tatsächlich zu sehen ist. Seine Idee: Der weiße Bogen am Himmel ist ein Regenbogen, die Sonne folglich im Rücken des Betrachters. 1514 aber fand ein besonderes astronomisches Ereignis die Aufmerksamkeit der wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit - zu der Dürer zweifelsohne gehörte: Am 5. Mai standen Saturn und Jupiter einander genau gegenüber.

MacKinnons Vermutung: Genau dieses Ereignis zeigt Dürer. Der "Stern" vor uns ist eigentlich ein Planet: Saturn. Jupiter verschwindet unterdessen hinter unserem Rücken gerade in der Sonne. Passender Weise wird Saturn in der Astrologie mit Melancholie verbunden. Und die Leiter? Die könnte die Ekliptik darstellen, so MacKinnon. Etwas wackelig wird schon die nächste These: Die Kugel links vorne sei der Mond -- am 5.5.1514 stand der eigentlich oberhalb von Saturn am Himmel, aber ok. Das Objekt im Vordergrund ist ein Rhombikuboktaeder, eine Art Kreuzung zwischen Würfel und Oktaeder, was ebenfalls auf die Gegenüberstellung von Saturn und Jupiter hindeuten soll. Und weil der am Abend des 5.5.1514 im Sternbild Virgo stand, sehen wir rechts: Die Jungfrau.

MacKinnons Vermutungen gehen noch weiter: Dürer war -- Mode seiner Zeit -- ein großer Fan von Rechenspielchen, der Geometrie mehr oder minder regelmäßiger Körper und der Gematrie. Der Name "Melencolia" entschlüssele sich nach einem Schema, das der Astrologe Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim wenige Jahre zuvor in seinem "Zauberbuch" De occulta philosophia in die Welt geworfen hatte: die Buchstaben A-I entsprechen den ganzen Zahlen 1-9, es folgen mit K-S die entsprechenden Vielfachen von 10 und mit T-Y Vielfache von 100. Ferner entsprächen 1 und 4 der Sonne, 5 dem Merkur, 6 der Venus, 2 und 7 dem Mond, 8 dem Saturn, 3 dem Jupiter und 9 dem Mars.

Addiert man nun die Buchstabenwerte von MELENCOLIA, ergibt sich 183, bei Division durch 9 also der Rest 3, mithin Jupiter. MELANCOLIA (etwas weniger falsch also) ergebe entsprechend 8, also Saturn. "Stellen Sie sich vor, wie aufgeregt ich war, als ich das entdeckt habe!", schreibt MacKinnon uns in einer E-Mail. Doch warum gerade Division durch 9? Zu Dürers Zeit gab es sechs Planeten, dazu Mond, Sonne und Erde -- ist das der Grund?

Vielleicht aber gibt es noch eine andere Erklärung (und jetzt spekulieren wir auch mal etwas): Wenn hinter dem Titel tatsächlich die erwähnte Zahlenspielerei steckt, dann war Dürer vielleicht auch durch die Neunerprobe dazu animiert worden, eine gängige mittelalterliche Methode zur raschen Überprüfung von Additionen, Subtraktionen und Multiplikationen, die im arabischen Raum entwickelt worden ist. Das Prinzip ist einfach: Soll die Rechung a + b = c überprüft werden, dann führt man die Rechnung einfach nur für die Reste durch, der bei Division durch 9 verbleibt; Mathematiker sagen dazu "a mod 9" und "b mod 9". Man vergleicht also ( (a mod 9) + (b mod 9) mod 9) mit c mod 9. Stimmen die beiden Zahlen nicht überein, dann ist die Rechnung fehlerhaft. Stimmen sie, dann hat man sich höchstens um ein Vielfaches von 9 verrechnet. Und warum gerade 9? Für alle Zahlen a lässt sich a mod 9 ganz einfach mit einem Trick berechnen: Man rechnet die Quersumme von a aus, dann die Quersumme der Quersumme und so weiter, bis man eine einstellige Zahl k erhält. Ist k zwischen 0 und 8, dann ist a mod 9 = k, ist sie 9, dann ist a mod 9 = 0.

Mal ein Beispiel für eine Neunerprobe: Gilt

65743482 + 5648292 = 71391773 ?

Die Quersumme von 65743482 ist 39, die Quersumme davon 12, die Quersumme davon 3. Also gilt: 65743482 mod 9 = 3 (oder, anders ausgedrückt: Bei Division von 65743482 durch 9 bleibt der Rest 3). Analog berechnet man 5648292 mod 9 = 0. Addiert ergibt das auf der linken Seite einen Rest von 3. Und auf der rechten Seite? Man berechnet schnell: 71391773 mod 9 = 2 -- also kann die Rechnung nicht stimmen!"

Andreas Loos