Heute (25.5.) verleiht die Schweizerische Akademie der Naturwissenschaften den Prix Schläfli, die älteste Wissenschaftsauszeichnung in der Schweiz. Jedes Jahr werden damit die vier besten Doktorarbeiten in den Naturwissenschaften gewürdigt. Es geht um Mikroorganismen, die Atomendlager sicherer machen, Solarstrom aus Kunststoff, die Entschlüsselung einer Artenentstehung und Forschung in vierdimensionalen Räumen. Mario Nowak stellt auf higgs.ch die klugen Köpfe vor, die hinter den Projekten stecken:  den Mikrobiologen Alexandre Bagnoud (ETH Lausanne), den Chemiker Xiaojiang Xie (Universität Genf), die Genetikerin Hester Sheehan (Universität Bern) und den Mathematiker Livio Liechti (Universität Bern) . Sein Porträt Liechtis geben wir hier im DMV-Blog wieder. 

Unendliche Verknotungen
von Mario Nowak (@mnowak_ch) erschienen auf higgs.ch, zur vollen Version mit allen Porträts

Der Mathematiker Livio Liechti beschäftigt sich mit der sogenannten Knotentheorie. Dabei geht es nicht um das Knüpfen von Knoten, sondern um deren mathematischen Eigenschaften. Beispielsweise können Mathematiker*innen damit untersuchen, ob sich ein bestimmter Knoten in einer ringförmigen Schnur in einen anderen überführen lässt, ohne die Schnur zu zerschneiden. Solche Berechnungen ermöglichen Wissenschaftlern, verworrene Knäuel aus Proteinen zu studieren und so Vorgänge im Körper besser zu verstehen.

Beispiel für die mathematische Knotentheorie: Die beiden Knoten im ringförmigen Band können ineinander umgewandelt werden.
Beispiel für die mathematische Knotentheorie: Die beiden Knoten im ringförmigen Band können ineinander umgewandelt werden. (giphy / Clayton Shonkwiler) 

Liechtis Untersuchungen jedoch sind nicht ganz so anwendungsbezogen: Seine Forschung bewegt sich oft in der vierten Dimension – ein mathematisches Konzept, das die gewöhnliche, dreidimensionale Welt um eine zusätzliche Dimension erweitert. In dieser Gedankenwelt hat er studiert, wie sich die Komplexität von Knoten und Flächen im vierdimensionalen Raum mit rechnerischen Mitteln reduzieren lässt.

Ein jüngerer Herr in weissem Hemd steht vor einer grossen Wandtafel in einem Hörsaal. Er zeigt auf mathematische Formeln zu seiner Rechten. Links stehen ein paar englische Sätze.
Der Mathematiker Livio Liechti präsentiert seine Doktorarbeit in einem Hörsaal an der Uni Bern. (Foto: Walter Liechti)

Für Laien mögen Liechtis Forschungsobjekte ungreifbar sein, für ihn selbst sind sie völlig anschaulich. Seine Vorstellungskraft kapituliert auch vor vierdimensionalen Räumen nicht. Bei den Fragen zu Knoten stellt Liechti sich Fäden vor, wenn es um die Flächen zwischen den Knoten geht, taucht vor seinem inneren Auge ein Blatt Papier auf und für die vierte Dimension behilft er sich mit imaginären Temperaturunterschieden im Faden. Verglichen mit anderen Bereichen der Mathematik, etwa der Zahlentheorie, sei Liechtis Gebiet für ihn weniger abstrakt: «Diese Fassbarkeit hat letztlich auch den Ausschlag gegeben, dass ich Forscher geworden bin», erzählt er. «Ich war mir zu Beginn des Studiums gar nicht sicher, ob Mathematik wirklich das Richtige für mich ist. Aber im dritten Jahr hat es mir den Ärmel reingenommen.» Seit da fasziniert ihn die präzise mathematische Beschreibung von Objekten – die konkrete Anwendung hingegen ist ihm nicht so wichtig.

Zwar könnte der Mathematiker theoretisch manche der Knoten, die er rechnerisch löst, auch wirklich in eine Schnur knüpfen, doch das habe er noch nie getan. Spätestens wenn er in die vierte Dimension vorstösst, würde es mit dem Knüpfen in der Realität ohnehin problematisch. Deshalb bevorzugt Liechti ein Blatt Papier oder eine Wandtafel, denn so könne er die Rechnungen Schritt für Schritt nachvollziehen. Dabei stösst er immer wieder auf unerwartete Zusammenhänge mit anderen Gebieten der Mathematik, die ihn begeistern. «Es gibt so viele Verbindungen», sagt er, «das ist wahnsinnig.»