Gastbeitrag von Dr. Mechthild Koreuber zum 100-jährigen Jubiläum der Habilitation Emmy Noethers

,,I always went my own way in teaching and research", schrieb Emmy Noether (1882-1935) Anfang 1935 an einen amerikanischen Kollegen. Es ist gleichsam eine Reflexion über ihr mathematisches Handeln wie auch der Grundton ihrer Biografie. Noether gehört zu den bedeutendsten Mathematiker_innen weltweit. Mit ihren Forschungen und ihrem Wirken als Lehrende hat sie in entscheidender Weise zur Entwicklung der modernen Algebra und zur Ent- stehung und Verbreitung eines strukturellen Zugangs zur Mathematik beigetragen.

Emmy Noethers Geburtsstadt Erlangen war Ende des 19. Jahrhunderts durch ein wohlsituiertes Bürgertum , eine florierende Wirtschaft und insbesondere durch seine Universität geprägt. Am Mathematischen Institut lehrten die beiden Professoren Max Noether und Paul Gordan. Emmy Noether, ältestes Kind Max und Ida Noethers, wuchs gemeinsam mit ihren drei Brüdern in einer Atmosphäre assimilierten jüdischen Bürgertums auf. Bildung und Aus­bildung - auch der Töchter - hatten in dieser Schicht eine gewisse Selbst­verständlichkeit, und so besuchte Noether die Höhere Töchterschule und legte 1900 die Staatsprüfung für Lehrerinnen in Französisch und Englisch ab. Doch zielte ihr akademisches Interesse nicht auf eine Tätigkeit als Lehre­rin ab. Im Winter 1903 begann Noether das Mathematikstudium - zunächst als Hospitantin in Göttingen (da Frauen sich in Preußen nicht immatriku­lieren durften) - dann, ein Jahr später, als Studentin eingeschrieben als eine von zwei Frauen an der Universität Erlangen. Ihre 1907 eingereichte Doktor­arbeit wurde mit summa cum laude bewertet, sie stand ganz in der von ih­rem Doktorvater Gordan vertretenen klassisch-algebraischen Tradition und zeigte noch nicht die herausragende Theoretikerin, der jedes Rechnen ein Gräuel war.

Nach der Promotion arbeitete Noether unentgeltlich am Erlanger Mathe­ matischen Institut, unterstützte Gordon und ihren Vater in der Lehre und betreute bereits inoffiziell Doktoranden, ihr Name aber taucht in den Vorle­sungsverzeichnissen dieser Zeit nicht auf. Invariantentheorie blieb zunächst ihr Forschungsgebiet und ihre weiteren Publikationen wiesen sie bereits als ausgezeichnete Mathematikerin aus. Mathematische Korrespondenzen Max Noethers mit Felix Klein und David Hilbert lenkten die Aufmerksamkeit der beiden Göttinger Mathematiker auf diese außergewöhnliche Mathematike­rin. Im Frühjahr 1915 wurde sie zur gemeinsamen Arbeit an mathematischen Fragestellungen der Relativitätstheorie nach Göttingen eingeladen, verbun­den mit dem Angebot, sie zu habilitieren. Vermutlich hatten Hilbert und Klein ein starkes Interesse an einer exzellenten Nachwuchsmathematikerin, denn ihre Assistenten hatten jederzeit mit der Einberufung zu rechnen , sofern sie sich nicht bereits freiwillig gemeldet hatten. Eine Frau zu sein erwies sich zum ersten und einzigen Mal als Vorteil für Noethers mathematische Karriere.

Tatsächlich beantragte Noether im gleichen Jahr die Habilitation. Doch auch die Argumentation der Göttin­ger Mathematiker, Noether sei eine Ausnahmeerschei­nung unter den wissenschaftlich ausgebildeten Frauen und deshalb der Antrag gerechtfertigt, konnte das durch das preußische Kultusministerium formulierte Verbot der Habilitation von Wissenschaftlerinnen nicht über­winden. Selbst Noethers hochkarätigen Unterstützern Klein und Hilbert, später auch Albert Einstein, gelang es nicht, innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Strukturen eine Akzeptanz der wissenschaftlichen Betä­tigung von Frauen zu erreichen. Die Habilitation blieb weiterhin ein Bollwerk und Frauen das Recht zu leh­ ren vorenthalten. So ist die Geschichte der Habilitation Noethers zugleich eine Geschichte des Ringens um das Recht von Frauen wissenschaftlich an Hochschulen tä­tig zu sein. Erst der äußere Druck tiefgreifender gesell­schaftlicher Veränderungen in der Weimarer Republik veränderte auch die universitäre Struktur, und im Juni 1919 erhielt Noether die Venia Legendi. Als Habilitati­onsschrift wurde ihre Arbeit „Invariante Variationspro­bleme" angenommen, deren Hauptsätze seit den 195oer Jahren als Noether-Theoreme in der Theoretischen Phy­sik bekannt und als ein wesentlicher Beitrag zur mathe­matischen Fassung der Relativitätstheorie zu betrach­ten sind. Mit der Habilitation war nun das Recht eigene Lehrveranstaltungen anzubieten für Noether zugleich auch die Chance, ihre mathematischen Interessen und insbe­sondere ihre neuen methodischen Ansätze intensiv zu verfolgen. Ihre 1921 veröffentlichte Arbeit „Idealtheorie in Ringbereichen" markiert die Veränderungen ihrer „Arbeits- und Auffassungsmethoden"(2), in denen sie sich von der Tradition des symbolischen Rechnens abwandte und eine hoch abstrakte, an Begriffen und Strukturen orientierte Sichtweise vertrat.

Noether hielt Seminare und Vorlesungen ab, hatte in­tensiven wissenschaftlichen Kontakt zu den in Göttingen arbeitenden Mathematikern sowie den auswärtigen Gäs­ten des Instituts und nahm am gesellschaftlichen Leben der Fakultät teil. Berühmt wurden ihre mathematischen Spaziergänge, die Noether gemeinsam mit ihren Kolle­gen und Schüler_innen in Göttingen und der näheren Umgebung unternahm. 1922 erhielt Noether den Titel „nichtbeamteter außerordentlicher Professor", ein Jahr später wurde ihr ein halbjährlich zu erneuernder vergü­teter Lehrauftrag für Algebra erteilt. Noether war jetzt 41 Jahre alt. Viele ihrer Kollegen waren erheblich jünger und hatten bereits ordentliche Professuren, darunter ei­nige ihrer Schüler. Doch ihre finanzielle und institutio­nelle Situation blieb prekär, und bis zu ihrer Emigration 1933 erhielt sie keine Möglichkeit der beruflichen Weiter­entwicklung, sondern war weiterhin als Lehrbeauftragte tätig, nur unterbrochen durch Gastprofessuren in Frank­furt a. M. und Moskau.

Noethers Vorlesungen galten wegen des hohen Abs­traktionsgrads und der Spontanität ihrer Ausführungen als außerordentlich schwierig, doch in ihren Veranstal­tungen geschah Mathematik und Noether inspirierte zahlreiche Hörer_innen zu eigenen Forschungsfragen und neuen Forschungsrichtungen. Wenigstens 15 Pro­motionen lassen sich in der Göttinger Zeit auf sie zu­ rückführen (darunter eine von einer Frau), zwölf beglei­tete Noether offiziell. Aber auch Mathematiker wie Bar­tel L. van der Waerden, der seine Arbeit in Amsterdam einreichte, und Kenjiro Shoda, der in Tokio promovierte, zuvor aber in Göttingen einige Semester verbracht hatte, sind zu ihren Doktoranden zu zählen. Ab Mitte der 192oer Jahre kamen zudem zahlreiche Postdoktorand_innen, aber auch etablierte Mathematiker_innen nach Göttin­gen, um neueste mathematische Entwicklungen ken­nenzulernen. Hierzu gehörten auch der Besuch der Lehrveranstaltungen Noethers und die Auseinanderset­zung mit ihren modernen algebraischen Konzepten und Methoden. Viele ihrer oft nur für ein oder zwei Semester in Göttingen verweilenden Hörer_innen blieben bis in ihr spätes Werk von Noether 'scher Auffassung und Me­thodik geprägt. Die Noether-Schule entstand, ein loser Kreis von Mathematiker_innen um Noether, nicht getra­gen durch eine institutionelle Anbindung an die Fakultät, sondern durch gemeinsame mathematische Auffassun­gen und der Freude an einer „Kultur des abstrakten ma­thematischen Denkens", wie es Pawel S. Alexandroff und Heinz Hopf in ihrem Lehrbuch „Topologie" beschrieben. Im April 1933 wurde Noether ebenso wie viele an­dere ihrer jüdischen Kollegen beurlaubt und im Herbst entlassen. Sowohl in Oxford wie am Frauencollege in Bryn Mawr bemühte man sich um die Finanzierung einer Gastprofessur; auch in Moskau gab es den Ver­such, einen Lehrstuhl für Noether einzurichten. Noe­ther selbst reagierte zunächst gelassen und führte ihre für das Sommersemester angekündigte Lehrveranstal­tung, die Beurlaubung ignorierend, bei sich zu Hause durch. Nach der Entlassung Mitte September 1933 war die Situation in Göttingen kritischer geworden und so akzeptierte Noether das Angebot aus Bryn Mawr, auch wenn es nicht ihren Vorstellungen einer mathematisch angemessenen Umgebung entsprach und sie lieber nach Oxford gegangen wäre.

Noether MFO 9265Berühmt waren Noethers Mathematische Spaziergänge rund um Göttingen, mit Kolleg_innen und Schüler_innen: v.l.n.r.: Ernst Witt, Paul Bernays, Helene Weyl, Hermann Weyl, Joachim Weyl, Emil Artin, Emmy Noether, Ernst Knauf, (unbekannt), Chiungtze Tsen, Erna Bannow, 1932, Göttingen, Ortsteil Nikolausberg

Foto: Natascha Artin, Quelle: MFO

Doch die Anstellung in Bryn Mawr sicherte ihren Lebensunterhalt und mehr als das. Noether wusste dies wohl zu würdigen und bemühte sich erfolgreich, sich in die Collegewelt zu integrieren . Innerhalb kürzester Zeit gelang es ihr - auch dank der ihr zu Ehren eingerichteten Noether-Fellowships - einige engagierte Nachwuchswissenschaftlerinnen um sich zu versammeln. Zu ihnen gehörte die bereits promovierte Österreicherin Olga Taussky, später eine der ersten Pro­fessorinnen am California Institute of Technology. Meh­rere deutsche Kollegen, so Hermann Weyl und Richard Brauer, hatten im benachbarten Princeton am Institute for Advanced Study Arbeitsmöglichkeiten erhalten , eine Position, die Noethers mathematischer Bedeutung si­cherlich angemessen gewesen wäre, doch war die An­stellung von Frauen hier nicht zulässig. Gleichwohl er­hielt Noether die Möglichkeit, dort Seminare anzubieten und damit zugleich den Kontakt zu ihren deutschen Kol­legen zu halten. Viele amerikanische Mathematiker wa­ren allerdings von Noethers radikalen mathematischen Auffassungen irritiert. Bei anderen hingegen, wie etwa dem Algebraiker Nathan Jacobson, dem späteren Her­ausgeber der „Gesammelten Abhandlungen Emmy Noe­thers", hinterließen ihre Vorträge nachhaltigen Eindruck und prägten ihre weiteren Forschungsinteressen. Im Ap­ril 1935 starb Noether in Bryn Mawr an den Komplikatio­nen einer zunächst erfolgreich verlaufenen Tumoropera­tion. Zahlreiche Nachrufe weltweit und auch in Deutsch­land würdigten ihre Verdienste um die Mathematik.

Quelle: Auszug aus Emmy Noether, die begriffliche Mathematik und der Denkraum Noether-Schule, Zum 100-jährigen Jubiläum der Habilitation Emmy-Noethers – Ein Essay von Dr. Mechthild Koreuber, Zentrale Frauenbeauftragte der Freien Universität Berlin, Wissenschaftlerinnen-Rundbrief  Nr.1/2019, Seiten 7-9.