Im Frühjahr 2018 wurde das Projekt „Zeitzeugen der Wende" ins Leben gerufen, damit die Erinnerungen von Kollegen und Kolleginnen am Mathematischen Institut der Universität Potsdam an die Zeit der politischen Wende 1989, ihre Erlebnisse, Erfahrungen und individuellen Schicksale in dieser historisch einmaligen und umwälzenden Situation, nicht in Vergessenheit geraten und letztlich verloren gehen. "Unsere bisherige Erfahrung hat uns gezeigt, wie wichtig die Aufzeichnung solcher Zeugnisse sind, sowohl für die Interviewten — einige teilten uns mit, dass sie zum ersten Mal zu diesem Thema befragt wurden — als auch für die möglichen Zuschauer, die durch die Interviews mit konkreten Erlebnissen konfrontiert werden und dadurch ein lebendiges Bild der Ereignisse zur Wendezeit bekommen können", sagt Sylvie Paycha, Professorin für Mathematik an der Universität Potsdam.

Die Interviews, die mit finanzieller Unterstützung der DMV durchgeführt wurden,  sind hier online abrufbar und wurden (bis auf einige, die noch in Bearbeitung sind) mit englischen Untertiteln versehen, um sie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. "Unseres Erachtens bilden diese Interviews ein wertvolles Dokumentationsarchiv über die Wendezeit in der akademischen Welt", betont Paycha und berichtet:

Bildschirmfoto 2021 05 04 um 18.47.16Ausschnitt aus dem Interview mit Prof. Brehmer, Bildquelle: Institut für Mathematik der Uni Potsdam 

Die erste Serie von sechs Interviews am Institut für Mathematik der Universität Potsdam, wurden Anfang 2018  durchgeführt. Aufgrund der sehr positiven Resonanz haben wir das Projekt Anfang 2019 auf die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät der Universität Potsdam ausgeweitet und es wurden weitere fünf Interviews mit Physikern und einer Geographin von Frau Dr. Elke Rosenberger, Mitarbeiterin am Institut, durchgeführt. Um noch einen breiteren Blick auf die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse zur Wendezeit zu bekommen, haben wir uns nun vorgenommen, auch mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu sprechen, die diese Zeit außerhalb von Potsdam erlebt haben, etwa in Berlin, und die speziell auch zu den Prozessen an den Berliner akademischen Einrichtungen ihre persönlichen Geschichten, Erinnerungen und auch Bewertungen beitragen können.

Im Rahmen dieses erweiterten Fokus wurden 2020 weitere zwölf Interviews durchgeführt:  mit Klaus Altmann, Sonja Brentjes, Jochen Brüning, Lutz Hille, Thomas Kuczynski, Herbert Laitko, Roswitha März, Albrecht Pietsch, Gerhard Pfister, Michael Rapoport, Brigitte Sändig und Anette Vogt. Abgesehen von Frau Sändig (Literaturwissenschaftlerin), Herrn Laitko (Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftstheoretiker) und Thomas Kuczynski (Historiker), sind sie alle Mathematiker*innen oder Mathematik-Historiker*innen. Des Weiteren sind noch Interviews mit dem Historiker Wolfgang Küttler und der Wissenschaftshistorikerin Hannelore Bernhardt sowie mit dem Meteorologen Karl-Heinz Bernhardt geplant. Leider mussten die Interviews wegen der Corona-Pandemie verschoben werden; wir hoffen aber sie demnächst führen zu können, sagt Paycha.

Interessanterweise war oder ist ein großer Teil der oben genannten Personen in der einen oder anderen Weise mit der Humboldt Universität zu Berlin (HU) verbunden, teils schon vor der Wende, teils in und nach der Wendezeit. So hatten Frau März, Herr Pfister sowie Hannelore und Karl-Heinz Bernhardt vor der Wende eine Professur an der HU; Frau März und Herr Bernhardt behielten diese auch nach der Wende. Herr Küttler, angestellt an der Akademie der Wissenschaften der DDR, hielt vor der Wende im Rahmen einer Gastprofessur Vorlesungen an der HU. Herr Rapoport, Herr Laitko, Herr Altmann und Herr Pietsch waren vor der Wende Mitarbeiter an der HU. Herr Brüning war Mitglied der Struktur- und Berufungskommission, die den Übergang nach der Wende organisierte, und übernahm später selbst eine Professur an der HU. Frau Vogt, vor der Wende an der Akademie der Wissenschaften angestellt, hatte nach der Wende eine Honorarprofessur an der HU. Herr Hille hatte vor der Wende an der HU studiert. "Die Sammlung und Auseinandersetzung mit persönlichen Erfahrungen von Zeitzeugen sehen wir als eine  wichtige Ergänzung zu rein historischen oder beschreibenden Texten wie z.B. dem Bericht „Disziplinengeschichte Mathematik" von Helmut Koch und Jürg Kramer", resümiert Paycha.

Quelle: Zwischenbericht von Sylvie Paycha und Elke Rosenberger
Berlin, den 3. Mai 2021