Vor 500 Jahren, genau am 2. Februar 1522, wurde der Mathematiker Ludovico Ferrari in Bologna geboren. Er war Akteur in einem der wohl bemerkenswertesten Urheberrechtsstreite der Mathematikgeschichte: Dem Streit zwischen Ferraris Lehrer und Ziehvater Girolamo Cardano und dem Venezianer Nicolo Tartaglia über die Entdeckung der kubischen Formel. Vordergründig ging es bei der Auseinandersetzung um die Frage, welcher der Gelehrten als erstes eine Lösung der Gleichung ax^3+bx^2+cx+d=0 gefunden hatte; in Wirklichkeit jedoch ging es um mehr, denn der Gegenstand des Konfliktes sollte die damalige Vorstellung von Zahlen für immer verändern. Was war geschehen?

Bologna, Oktober 1526: Als der Mathematiker Scipione del Ferro im Sterben liegt, offenbart er seinem Schüler Antonio Fior und seinem Schwiegersohn Annibale del Nave ein gutgehütetes Geheimnis: Er – selbst Schüler des Universalgelehrten Luca Pacioli – habe, entgegen den Annahmen seines Lehrmeisters , eine Methode entdeckt, bestimmte Gleichungen dritten Grades zu lösen und wolle vermeiden, diese Erkenntnis mit ins Grab zu nehmen. Del Ferro stirbt am 5. November.

Eine Veröffentlichung dieser Entdeckung wäre eine Sensation gewesen, handelte es sich hierbei um eines der ersten mathematischen Probleme, mit denen sich die Griechen in der Antiken zwar beschäftigt hatten, sie aber nicht zu lösen in der Lage waren. Der alte Meister indes hatte gute Gründe, sein Wissen um die kubischen Gleichungen erst auf dem Sterbebett zu offenbaren: In der Renaissance fanden sich Mathematiker oft zu öffentlichen Schaukämpfen auf Marktplätzen zusammen, in denen sie sich gegenseitig eine Liste von Aufgaben stellten, die der je andere in einer begrenzten Zeit zu lösen hatte. Nicht selten hing die Entlohnung eines Mathematikers auf direktem Wege davon ab, wie er in den Wettkämpfen abschnitt. Die veröffentlichte Lösung eines Problems hieße folglich, nicht nur einen Wettbewerbsnachteil, sondern auch finanzielle Einbußen in Kauf zu nehmen.

Methode zur Berechnung der Lösungen einer reduzierten kubischen Gleichung. Gegeben sei die kubische Gleichung \[x^3+9x=26.\] Wähle \(y\) so, dass \(9=3\cdot y\cdot (x+y)\) gilt. Ergänze die Gleichung auf beiden Seiten um \(y^3\) und erhalte \[x^3+9x+y^3=26+y^3.\] Setze für \(9\) den Ausdruck \(3\cdot y\cdot (x+y)\) ein und erhalte \[x^3+3\cdot y\cdot (x+y)\cdot x+y^3=26+y^3.\] Klammere aus und erhalte \[x^3+3x^2y+3xy^2+y^3=26+y^3.\] Benutze für die linke Seite den binomischen Lehrsatz \((a+b)^3=a^3+3a^2b+3ab^2+b^3\) und erhalte \[(x+y)^3=26+y^3.\] Wegen \(9=3\cdot y\cdot (x+y)\) gilt \(x+y=\frac{3}{y}\), also \[\left(\frac{3}{y}\right)^3=26+y^3,\] also \[\frac{27}{y^3}=26+y^3,\]
substituiere \(a=y^3\), multipliziere beide Seiten mit \(a\) und erhalte die quadratische Gleichung \[a^2+26a-27=0.\] Löse diese nach den üblichen Methoden und erhalte die positive Lösung \(a=1\). Aus \(a=1\) folgt \(y=1\) und schließlich, wegen \(9=3\cdot y\cdot (x+y)\), also \(9=3\cdot (x+1)\), folgt als Lösung \(\mathbf{x=2}\).

Bestärkt durch das geheime Wissen seines Lehrers reiste Fior 1535 für einen Wettkampf nach Venedig, da er erfuhr, dass sich ein geheimnisvoller Rechenmeister mit dem Lösen kubischer Gleichungen einen Namen machte. Sein Name: Nicolo Fontana, genannt Tartaglia.

Tartaglia entstammte einfachen Verhältnissen; er wuchs als Halbwaise auf, besuchte nie eine Universität und eignete sich sein gesamtes Wissen autodidaktisch an. Seinen Beinamen (Tartaglia heißt „der Stotterer“) erhielt der Veneter durch eine schwere Kieferverletzung, die er sich während einer Belagerung seiner Heimatstadt Brescia zuzog. Tartaglia hatte ein breitgefächertes Interessensspektrum: Er beschäftigte sich mit Ballistik, übersetzte Euklid ins Italienische und erfand, während er sich in Venedig als Buchhalter verdingte, die doppelte Buchführung. Seine bedeutendste mathematische Leistung aber war die Entdeckung einer Lösungsformel für reduzierte kubische Gleichungen, die er unabhängig von del Ferro, Mitte der 1530er Jahre erdachte und, ähnlich wie del Ferro, nie veröffentlichte.

Niccolò TartagliaNiccolò Tartaglia

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Der Wettkampf zwischen Tartaglia und Fior endete für Letzteren in einem Debakel: Während es Tartaglia gelang, die dreißig Aufgaben, die ihm Fior gestellt hat, innerhalb eines Tages zu lösen, konnte sein Herausforderer innerhalb des festgelegten Zeitlimits von vierzig Tagen keine einzige lösen. Gedemütigt verließ Fior die Lagunenstadt und kehrte nach Bologna zurück.

Die Nachricht über die Schmach des Rechenmeisters verbreitete sich daraufhin wie ein Lauffeuer in der Gelehrtenwelt Norditaliens. Tartaglia brachte der Triumph Bewunderer ein, von denen einer der Mailänder Arzt und Naturforscher Girolamo Cardano war, dessen Name heute in den cardanischen Formeln, der allgemeinen Lösungsformel für kubische Gleichungen, verewigt ist.

Girolamo Cardano war ein Superstar im italienischen Wissenschaftsbetrieb: Er war über die Grenzen seiner Wirkungsstätte hinaus bekannt als renommierter Mediziner, humanistischer Philosoph, Mathematiker, Astronom und Architekt. Cardano, der selbst bereits vergebliche Versuche unternommen hatte, eine Lösung kubischer Gleichungen zu finden, war entzückt von der Leistung Tartaglias und lud ihn nach Mailand ein, um mit ihm über seine Methode zu diskutieren. Doch Tartaglia, der befürchtete, sein Gastgeber könnte die Ergebnisse gegen seinen Willen veröffentlichen, weigerte sich, seine Entdeckungen preiszugeben. Erst als später, Tartaglia war bereits nach Venedig zurückgekehrt, Cardano ihm bei seiner Ehre schwor, die Ergebnisse nicht zu veröffentlichen, willigte Tartaglia ein und verriet Cardano seine Methode – bemerkenswerterweise in Versform.

Girolamo Cardano. Line engraving by C. Ammon the younger 16 Wellcome V0001002Girolamo Cardano

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Die Methode, die Tartaglia erdacht hatte, hatte erhebliche Schwächen: Sie war, dem Usus ihrer Zeit entsprechend, im Wesentlichen eine Manipulation geometrischer Gebilde. Man stellte sich die Größe x^3 beispielsweise als Volumen eines Würfels mit unbekannter Seitenlänge, nicht jedoch als eine von der geometrischen Anschauung unabhängige abstrakte Größe vor. Insbesondere kannte die Mathematik bis dato keine negativen Zahlen (Man unterschied bspw. verschiedene Typen kubischer Gleichungen, wie x^3=ax^2+bx+c und x^3+ax=bx^2+c, die man dank negativer Zahlen heute in der allgemeinen Form ax^3+bx^2+cx+d=0 zusammenfassen würde). Ein weiteres Manko an Tartaglias Methode war, dass es mit ihr nicht möglich war, nichtreduzierte kubische Gleichungen zu lösen, also solche, in denen auch zweite Potenzen vorkommen.

Methode Cardanos zur Reduktion einer kubischen Gleichung: Cardanos Rückführung einer kubischen Gleichung auf eine reduzierte kubische Gleichung gegeben ist eine kubische Gleichung der Form \[ax^3+bx^2+cx+d=0.\] Setze \(x=y-\frac{b}{3a}\), (und beachte, dass man x und y beliebig ineinander umrechnen kann). Setzt man den Ausdruck in die obige Glecihung ein, erhält man \[a(y-\frac{b}{3a})^3+b(y-\frac{b}{3a})^2+c(y-\frac{b}{3a})+d=0,\] was man zu \[ax^3+\left(c-\frac{b^2}{3a}\right)x+d+\frac{2b^3}{27a^2}-\frac{bc}{3a}=0\] umformen kann.
Dies ist eine reduzierte kubische Gleichung.

Cardano, der wie besessen an den Methoden seines venezianischen Konterparts arbeitete, erzielte wichtige Fortschritte auf dem Weg zur allgemeinen Lösungsformel. Er löste nicht nur den nichtreduzierten Fall mit Hilfe einer geschickten Substitution, sondern fand, unterstützt durch seinen Freund und Ziehsohn Ludovico Ferrari, den er als Waisenkind bei sich aufgenommen hatte, auch die Lösung der quartischen Gleichung, also einer Gleichung vierten Grades.

Die größte Leistung Cardanos war jedoch die Bearbeitung des Casus irreducibilis, eines seltsamen Typus kubischer Gleichungen: Während die Gleichung x^3=15x+4 ganz offensichtlich die Lösung x=4 hatte, brachte Tartaglias geometrische Methode in diesem Fall eine eigenartige Obskurität zu Tage: In einem Schritt in Tartaglias Algorithmus hätte man beim Lösen der obigen Gleichung eine Figur mit dem Flächeninhalt von 30 mit einem Quadrat A ergänzen müssen, sodass die entstandene Figur ein Quadrat B der Seitenlänge 5, also dem Flächeninhalt 25 ergibt. Das bedeutet, Quadrat A hätte negativen Flächeninhalt haben müssen.

Vor Cardanos Arbeiten zum Casus irreducibilis wurde, der geometrischen Intuition entsprechend, ein Quadrat mit negativem Flächeninhalt als Absurdität abgetan, als eine andere Art, „es gibt keine Lösung“ zu sagen: Es ist beispielsweise, nach damaligem Verständnis, nicht möglich, einem Quadrat der Seitenlänge x ein Rechteck mit der Fläche 5 hinzuzufügen, um eine Figur mit dem Flächeninhalt 1 zu erhalten.

Im Unterschied zu allen anderen bisherigen Vorkommen negativer Quadrate hatte der Casus irreducibilis aber eine Besonderheit: Obwohl er einer offensichtlich absurden geometrischen Anschauung unterlag, lieferte er, wenn man Quadrate mit negativem Flächeninhalt akzeptierte, absolut korrekte und vernünftige Ergebnisse. Was Cardano noch als Skurrilität abtat, verstand 30 Jahre später der Mathematiker Rafael Bombelli in seinem Werk Algebra bereits als tatsächlich existente Größen der Form a+sqrt{-D}. Dies war nichts Geringeres als die Geburtsstunde der komplexen Zahlen und Cardano war – ohne es zu wissen – der erste Mathematiker, der mit ihnen rechnete.

Cardano wollte seine Ergebnisse, die stellenweise weit über jene Tartaglias hinausgingen, veröffentlichen. Als feste Größe im universitären Leben Mailands war er, anders als del Ferro und Tartaglia, nicht daran gebunden, seine Erkenntnisse aus finanziellen Gründen geheim zu halten. Des Weiteren arbeitete Cardano seit Ende der 1530er-Jahre an einem Kompendium über den Wissensstand der Algebra seiner Zeit, das ohne eine Abhandlung zu kubischen Gleichungen unvollständig gewesen wäre. Cardano, an den Schwur gebunden, über sein Wissen zu kubischen Gleichungen Stillschweigen zu bewahren, suchte zusammen mit Ferrari Rat in Bologna, wo er auf Annibale del Nave, den Schwiegersohn von Scipione del Ferro, traf. Del Nave, der den Nachlass seines Schwiegervaters verwaltete, erörterte Cardano, dass del Ferro lange vor Tartaglia eine Lösung (des reduzierten Falls) der kubischen Gleichung kannte.

Diese Erkenntnis nahm Cardano zum Anlass, das Dilemma seines einstigen Schwurs auflösen zu können. Zwar hatte er geschworen, Tartaglias Ergebnisse nicht zu veröffentlichen, doch der Schwur, so Cardanos Argumentation, schloss eine Veröffentlichung der Ergebnisse del Ferros, die nachweislich älter waren als jene Tartaglias, nicht aus. So veröffentlichte er 1545 sein Werk Artis magnae sive de Regulis algebraicis, liber unus, genannt Ars Magna, in welchem erstmals die Lösungsformeln für die kubische und quartische Gleichung verhandelt wurde. Die Ars Magna wurde ein voller Erfolg und avancierte im Verlauf des Jahrhunderts zu einem Standardwerk der Algebra.

ArsMagnaTitelblatt der Ars Magna

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Tartaglia, der in der Ars Magna als einer der Entdecker der kubischen Formel gelistet wurde, sah den Schwur Cardanos als gebrochen an und bezichtigte ihn des Meineides. In einer Verlautbarung bezeichnete er den Verräter Cardano als „dümmer als er dachte“, in anderen als „erbärmlich“ und „frei von Talent“. Cardano selbst äußerte sich nicht zu den Vorwürfen, sondern schickte für die Auseinandersetzung mit Tartaglia seinen hochbegabten Schüler Ludovico Ferrari als seinen Stellvertreter vor. Ferrari war ein mathematisches Genie und hatte erheblichen Einfluss auf das mathematische Oeuvre seines Lehrers. Die Vorwürfe gipfelten 1548 in einer öffentlichen Diskussion zwischen Ferrari und Tartaglia, der inzwischen wieder in Brescia lehrte, auf dem Vorplatz der Kirche Santa Maria del Giardino in Mailand, die Ferrari, insbesondere wegen seiner Tartaglia weit überlegenen mathematischen Fähigkeiten, mühelos für sich gewinnen konnte.

Nachdem ihn darüber hinaus ein mailändisches Gericht dazu verurteilte, seine Anschuldigungen öffentlich zu widerrufen, verließ Tartaglia verbittert und geschlagen die lombardische Metropole und kehrte nach Brescia zurück, wo ihm später, als Strafe für seine Niederlage gegen Ferrari, sein Jahreshonorar verweigert werden sollte.

Die historische Anerkennung für seine Leistungen blieb Tartaglia lange verwehrt; aufgrund des immensen Einflusses der Ars Magna wurden die Lösungsformeln lange Zeit – und größtenteils auch heute noch – cardanische Formeln genannt. Allerdings gibt es seit neuestem vermehrt Autor_innen, die, Tartaglias Rolle bei in der Entdeckung der kubischen Formeln anerkennend, die Lösungsformel „Lösungsformel von Cardano-Tartaglia“ oder „Lösungsformel von Cardano-Tartaglia-Del-Ferro“ nennen.

Die Ars Magna und insbesondere die obskuren negativen Quadrate des Casus irreducibilis stellen den Beginn eines mathematischen Paradigmenwechsels dar, der durch die Mathematiker der frühen Moderne, wie Bombelli, Vieta und René Descartes vollendet werden sollte. Es ist der Beginn des Übergangs von der antiken zur modernen Mathematik, bei der nicht länger die Geometrie die vorherrschende Methode mathematischer Argumentation war, sondern die Algebra, deren Variablen abstrakte Entitäten sind, die, losgelöst von geometrischen Interpretationen, negativ, oder wie im Falle des Casus irreducibilis, gar komplex sein können.

Übrigens: Zur Entwicklung der Mathematik in der Renaissance erschien kürzlich ein lesenswertes Buch des Berliner Wissenschaftspublizisten Thomas de Padova namens "Alles wird Zahl - Wie sich die Mathematik in der Renaissance neu erfand", für das de Padova 2021 den Medienpreis der DMV bekommen hat. Eine Rezension des Buchs lesen Sie in unserer Leseecke hier und bei Springer hier.

Konrad Krug