Der jungen Mathematikerin Yulia Zdanovska gewidmet, die Anfang März 2022 im ostukrainischen Charkiw bei einem russischen Angriff tödlich verletzt wurde. Von Agnes Handwerk*
in memoriam Yulia Zdanovska, Zeichnung von Constanza Rojas-Molina 2022
„Wir sehen mit Bitterkeit, dass unser Land, das einen entscheidenden Beitrag zum Sieg über den Nationalsozialismus geleistet hat, nun zum Anstifter eines neuen Krieges auf dem europäischen Kontinent geworden ist. Wir fordern die sofortige Einstellung aller Militäraktionen gegen die Ukraine. Wir fordern die Achtung der Souveränität und territorialen Integrität des ukrainischen Staates. Wir fordern Frieden für unsere Länder. Lassen Sie uns Wissenschaft betreiben, nicht Krieg!“ (https://t-invariant.org/en/). Diese Resolution haben bisher über achthundert russische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterzeichnet. Eine verschwindende Minderheit. Aber sie beziehen mutig Position gegen ein Schweigen über die Grausamkeit dieses Krieges. Wie lange hat die Wissenschaft gebraucht, die Folgen des Zweiten Weltkriegs und die Grenzen zwischen Ost und West zu überwinden! Während des Kalten Krieges konnten Mathematikerinnen und Mathematiker aus Ost und West nur selten z.B. am Mathematischen Forschungsinstitut Oberwolfach zusammenkommen. Über Jahrzehnte hat der Mathematiker Friedrich Hirzebruch mit großem Engagement und Ausdauer den Austausch zwischen Ost und West in Gang gebracht und nach dem Fall der Mauer viele russische und ukrainische Mathematikerinnen und Mathematiker an das Max-Planck-Institut für Mathematik nach Bonn geholt.
Yuliia Zdanovska, Foto: privat
Auf dem ECM in Berlin 2016 waren ukrainische Mathematikerinnen sehr zahlreich vertreten. In Gesprächen schwang eine Art Nationalstolz mit, der befremdlich wirkte auf einem Kongress, der ausgerichtet war auf die Zusammenarbeit über nationale Grenzen hinweg. Aber mit diesem Krieg entstehen in der Wissenschaft erst recht neue Fronten. Wie lange wirkte der Zweite Weltkrieg nach! Der französische Mathematiker Marc Yor erzählte, dass er seinem Vater, einst Gefangener der Deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, noch in den 1970er Jahren nicht vermitteln konnte, dass er die Einladung zu einer Tagung am Mathematischen Forschungsinstitut Oberwolfach angenommen hatte. Der Mathematik wegen nach Deutschland, das bedeutet dreißig Jahre nach Kriegsende für den Vater noch immer Verrat.
*Agnes Handwerk, Freie Journalistin in Hamburg und Trägerin des DMV-Journalistenpreises 2008.