Stellen Sie sich vor, Sie malen die natürlichen Zahlen an, in den zwei Farben rot und blau, und zwar nach irgend einer Regel - die übrigens auch darin bestehen kann, bei jeder Zahl eine Münze zu werfen.

Nun gehen Sie den Zahlenstrahl entlang und zählen, wie viele unter den ersten 100 Zahlen Sie blau und wie viele Sie rot angemalt haben. Dann gehen Sie nochmal den Zahlenstrahl ab, lassen jetzt aber jede zweite Zahl aus und zählen dafür, wie viele rote und blaue Zahlen Sie bis 200 finden. Und dann nochmal - jetzt aber mit jeder dritten Zahl und bis 300, und so weiter. Wie groß kann der Unterschied zwischen den Anzahlen der roten und der blauen Zahlen werden? Klare Sache: Höchstens 100, nämlich dann, wenn Sie bei einem der Durchgänge 100 rote und keine einzige blaue Zahl getroffen haben, oder 100 blaue und keine rote.discrepancy small 2015 09 22

Was passiert, wenn man dasselbe Spiel nun für 1000, 10.000 Zahlen spielt, und so weiter? Dies fragte sich Paul Erdős, der legendäre Kombinatoriker, im Jahre 1957.

Natürlich kann man sich leicht eine Regel zum Färben ausdenken, die sicher eine beliebig lange Reihe gleichfarbiger Zahlen liefert: Man malt zum Beispiel einfach alle Zahlen blau an. Diese Regel liefert einem bei jeder Zählung 100, 1000, 10.000 und so weiter blaue Zahlen -- und keine einzige rote. Der Unterschied zwischen rot und blau wächst so ins Unermessliche, während man mehr und mehr Zahlen betrachtet.

Wir ändern also eine Spielregel: Die Regel, nach der die Zahlen gefärbt werden, wird nun von einem Spielleiter vorgegeben. Wie sieht es jetzt aus? Kann es jetzt passieren, dass der Unterschied zwischen den Anzahlen an roten und blauen Zahlen bei irgend einer Regel beschränkt bleibt? Das war die Frage von Erdős, und er vermutete: Nein.

Nein, sagt jetzt auch Terence Tao. Vor wenigen Tagen veröffentlichte er seine Lösung für das "Erdos discrepancy problem" in einem 20-Seiten-Paper. Er griff dabei auf Vorarbeiten aus dem polymath-Projekt zurück. (Ähnlich wie man in der Physik Berechnungen seit Jahren auf viele PCs verteilt und so Daten aus dem ATLAS-Experiment am LHC oder Gravitationswellen analysiert, lassen Mathematikerinnen und Mathematiker seit 2009 im polymath-Projekt gemeinsam die Köpfe rauchen und diskutieren ihre Ideen auf einem Blog, den Timothy Gowers ins Leben gerufen hat und zusammen mit Terry Tao und anderen gemeinsam betreibt.)

Gowers war es übrigens auch, der das Erdős-Problem erst vor wenigen Jahren wieder mal ausgegraben und ausführlich diskutiert hat. Was ihn faszinierte, war unter anderem die Tatsache, dass die bis dato bekannten Extrem-Beispiele den Zufall außen vorließen: Die Regeln für die Färbungen waren deterministisch. Das Problem spielt daher auf dem Übergang zwischen Ordnung und Chaos - einem Leib- und Magenthema von Terry Tao.

Andreas Loos