Seit kurzem ist der folgende Tagungsband auf dem Markt, der hier diskutiert werden soll:

Isabell Bausch, Rolf Biehler, Regina Bruder, Pascal R. Fischer, Reinhard Hochmuth, Wolfram Koepf, Stephan Schreiber, Thomas Wassong (Hrsg.), Mathematische Vor- und Brückenkurse, Springer Spektrum 2014

Darin werden zahlreiche Vor- und Brückenkurse an deutschen Hochschulen (auch an Fachhochschulen) beschrieben. Naturgemäß ist der Inhalt das, was man gewöhnlich "heterogen" nennt, denn die Kurse haben unterschiedliche Längen, unterschiedliche Zielsetzungen und natürlich auch eine unterschiedliche Klientel von Hochschule zu Hochschule.

In der Einleitung versuchen die Herausgeber das alles zusammenzufassen. Darin heißt es auf S. 2:

"Es scheint mittlerweile Konsens in der Vor- und Brückenkurscommunity zu bestehen, dass insbesondere in zentralen Bereichen der Sek-I-Mathematik erhebliche Lücken bestehen und dass diese es erschweren, sich in fortgeschrittenen Bereichen der Elementarmathematik flexibel Konzepte anzueignen und insbesondere auch anzuwenden. Bruchrechnen, Termumformungen, Variablenverständnis spielen eben auch in der Differential- und Integralrechnung oder bei nicht ganz trivialen Modellierungsaufgaben eine wichtige Rolle und werden gegebenenfalls zu einer unüberwindbaren Hürde, wenn sie nicht beherrscht werden."

Außerdem spricht man explizit von einem
"Heterogenitätsproblem" bei den unterschiedlichen Vorkenntnissen, die auch aus den vermehrten Hochschulzugangsberechtigungen ohne Abitur resultieren.
Dies ist eine der wenigen Literaturstellen, wo die "Heterogenität" nicht als "positive Chance" oder als "Herausforderung" gewertet wird, sondern als Hindernis. Ein anderes, aber ähnliches Hindernis wird auf S. 79 benannt: "Schulabschluss mit Minimalaufwand erworben".

Recht offen wird auch folgendes angesprochen:
"Darüber hinaus haben sich auch die mathematischen Inhalte und Anforderungen im Gymnasium und im klassischen Abitur geändert. Dies ist nur teilweise auf G8 zurückzuführen. Schon davor spielten beispielsweise Beweise eine deutlich geringere Rolle als noch vor etwa 25 Jahren."

Leider wird nicht gesagt, wie das mit dem Zurückdrängen der Beweise vonstatten ging und wer dies betrieben haben mag. Was sagen eigentlich die Bildungspläne dazu? In dem derzeit noch gültigen Bildungsplan in BW für das Gymnasium von 2004

www.bildung-staerkt-menschen.de/service/...rds/Gym/Gym_M_bs.pdf

heißt es zur Mathematik explizit:

"Die verstärkte Forderung nach verstehendem Lernen und Verbalisieren von mathematischen Sachverhalten wird begleitet von reduzierten Anforderungen im Bereich der Rechenfertigkeiten. Dies wird ermöglicht durch die angemessene, reflektierte Verwendung eines geeigneten Taschenrechners."

M.a.W.: Man hat ganz bewusst die "Rechenfertigkeiten" reduziert, zu denen ja wohl auch Bruchrechnung, Termumformungen etc. gehören. Also gibt es vielleicht die o.g. Defizite bei der Sek-I-Mathematik nicht trotz, sondern vielleicht gerade wegen der Bildungsreformen der letzten Jahrzehnte. Das wäre immerhin eine logische Erklärung. Man könnte sogar ketzerisch argwöhnen, dass dieselben Leute, die diese Reformen seinerzeit empfohlen hatten, jetzt deren Folgen beklagen, wozu ja auch eine "unreflektierte" Verwendung des Taschenrechners gehören könnte. In der Einleitung zu dem Buch hat man allerdings eher den Eindruck, als wären diese Probleme über uns gekommen wie schlechtes Wetter.


Zur Oberstufe (Kursstufe) heißt es in demselben Bildungsplan:

"Der Mathematikunterricht in den Klassenstufen 11 und 12 ist gekennzeichnet durch eine zunehmende Wissenschaftsorientierung (!) und vermittelt so eine allgemeine Studierfähigkeit (!). Die Schülerinnen und Schüler festigen die in den bisherigen Klassen angebahnten Kompetenzen. Sie lernen Begriffe präzise zu definieren, zunehmend komplexere Verfahren zu entwickeln und auch aufwändigere mathematische Beweise (!), insbesondere in der Geometrie, zu führen.
Die Schülerinnen und Schüler sind zunehmend in der Lage, sich Basiswissen und Basisfertigkeiten selbstständig (!) mithilfe geeigneter Literatur anzueignen."

Ähnliche Passagen stehen auch in den KMK-Abiturstandards von 2012, s. unten. In dem Buch über Vor- und Brückenkurse ergibt sich aber ein gänzlich anderes Bild: Die "allgemeine Studierfähigkeit" ist gerade nicht das Resultat des Unterrichts bis zur Hochschulzugangsberechtigung (in der Regel Abitur). Dies ist ein wachsender Widerspruch zwischen Anspruch und Realität, der aber leider nicht als solcher thematisiert wird.


Es ist hier nicht der Platz, die über 20 Berichte über Vor- und Brückenkurse (auch in Paris und Wien) einzeln zu würdigen. Vielmehr beschränken wir uns auf vier dieser Berichte nach einem gewissen Proporz (FH, TU, Uni, Lehramt (ehem. PH)). Der an den Anfang als Nr. 2 gestellte Bericht "28 Jahre Esslinger Modell" ist insofern besonders interessant, als hier tatsächlich über eine Art von Langzeittest berichtet wird, beginnend 1979. Dazu heißt es:

"Die Ergebnisse und Aussagen dieser Tests sind über viele Jahre relativ stabil geblieben. Allerdings ist festzustellen, dass die erreichten Mittelwerte im Laufe der letzten 20 Jahre doch erheblich gesunken sind." Und weiter: "Die Tests zeigen erschreckende Schwächen der Studienanfänger in der Elementaren Mathematik: mangelnde Kenntnisse in 'bürgerlichem Rechnen', Unsicherheit bei einfachsten algebraischen Umformungen, ...". "31 % halten die Gleichung \(1/(a-b) = 1/a - 1/b\) für richtig."

Das ist besonders gravierend, weil die HS Esslingen hauptsächlich Ingenieurstudiengänge hat. Es geht also nicht um Defizite bei Germanistik- oder Philosophiestudenten. Als weiteres Problem wird u.a. benannt: "Totale Abhängigkeit vom Taschenrechner bereits bei einfachsten Rechnungen".
Nach dem Lesen dieses Abschnitts sollte jeder Leser überzeugt davon sein, dass ein Vorkurs nahezu unerlässlich ist. Seine Wirksamkeit wird in einer Grafik beschrieben, die einen entscheidenden "Ruck" hinsichtlich der Leistungen vor und nach dem Kurs aufweist. Schließlich wird noch auf die Arbeitsgruppe COSH eingegangen, ein aktuelles Thema, nachdem der COSH-Katalog in der DMV jetzt eingehender diskutiert wird.

In Nr. 17 wird über einen Kurs an der TU Braunschweig berichtet. Aus den Erfahrungen ergaben sich dort drei Hypothesen, in Kurzform:
1. Die Mehrheit der Ingenieurstudierenden hat zunehmende Schwierigkeiten bei mathematischen Grundfertigkeiten.
2. Die mangelnden Fertigkeiten lassen sich Inhalten niedriger Klassenstufen zuordnen.
3. Der intensive Gebrauch grafikfähiger Taschenrechner oder Computeralgebrasysteme im Unterricht führt zu mangelnden mathematischen Fähigkeiten in immer niedrigeren Klassenstufen.

Es wird dann berichtet, wie diese drei Hypothesen durch die Klausuren und Interviews gestützt werden. Das alles widerspricht jedenfalls nicht den Erfahrungen in Esslingen, sondern ergänzt sie im Bereich einer Technischen Universität gegenüber einer Fachhochschule. Als Besonderheit berichtet man aus Braunschweig auch über Schwierigkeiten bei den Kursen selbst, was in den anderen Berichten eher vermieden wird. Danach gibt es drei Motivationsgruppen von Teilnehmern (wie wohl auch bei regulären Lehrveranstaltungen): 1. Die hoch motivierten, 2. die durchschnittlich motivierten und 3. die gering motivierten Studierenden. Es wird offen berichtet, dass die dritte Gruppe eine hohe Belastung für die Tutoren darstellte. Eigentlich könnte es interessant sein, dies auch für reguläre Anfängerveranstaltungen zur Höheren Mathematik für Ingenieure vertiefend zu untersuchen, bevor vorschnell dem Lehrpersonal die Schuld für das Scheitern gegeben wird (Abbruchquoten sind ja ein aktuelles Thema. Nach Erkenntnissen von Heublein (HIS) sind sie besonders hoch bei Absolventen der nicht-gymnasialen Bildungsgänge, die zur sogenannten "Hochschulreife" führen, die aber keine mehr ist).

Alles wird illustriert mit konkreten Aufgabenbeispielen, etwa:
"Das Lösen einfacher linearer Gleichungen aus den Klassen 7 und 8 scheitert bei vielen Studierenden an der Rechenfertigkeit. Als Beispiel sei hier die Umformung von 3 + 1x genannt, das mit 4x gleichgesetzt wird."


Neben dem Ingenieurbereich soll hier noch auf den Lehramtsbereich eingegangen werden. Dazu gibt es speziell die Abschnitte 4 und 5 in dem Buch mit einem Beiträg u.a. von der prominenten Didaktikerin Kristina Reiss mit dem Anspruch einer "theoretischen Fundierung" im Titel sowie einem Vorkurs an der LMU.
Diese Fundierung beginnt mit Feststellungen zu den zweifellos vorhandenen Unterschieden zwischen Schul- und Hochschulmathematik. Da ist aber Erstauliches zu lesen:

"Wesentliche fachbedingte Differenzen entstehen durch eine veränderte Sicht auf die Disziplin Mathematik sowie durch eine neue Lernkultur." Sollte am Ende die neue Lernkultur hinderlich sein?

"Mathematikunterricht an allgemeinbildenden Schulen ist auf den Erwerb von Kompetenzen ausgerichtet, die zur Bewältigung von Anforderungssituationen in Alltag, Beruf und gesellschaftlichem Leben befähigen sollen (KMK 2003)."
Hinter dem Kürzel "KMK 2003" verbergen sich aber die Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss! Wie bitte? Sind die jetzt für die Erstsemester an der Universität maßgeblich? Wo bleibt denn die Wissenschaftsorientierung in der gymnasialen Oberstufe, die zumindest theoretisch noch auf den ersten Seiten der KMK-Abiturstandards von 2012 zu lesen ist? Wörtlich heißt es dort in der sogenannten Fachpräambel:

"Das Fach Mathematik leistet einen grundlegenden Beitrag zu den Bildungszielen der gymnasialen Oberstufe und der Kompetenzentwicklung der Schülerinnen und Schüler bis zur Allgemeinen Hochschulreife. Vermittelt werden eine vertiefte Allgemeinbildung, allgemeine Studierfähigkeit sowie wissenschaftspropädeutische Bildung."

Im Lehrplan von Bayern ist unter

www.isb-gym8-lehrplan.de/contentserv/3.1...ex.php?StoryID=26378

explizit von "intensiver Schulung des Denkens und des Abstraktionsvermögens" die Rede und eben nicht nur von Alltagsmathematik. Zu Baden-Württemberg siehe oben.

Die Unterschiede zwischen Schul- und Hochschulmathematik werden dann anhand des Begriffs "Axiomatik" erläutert. Auf S. 39 oben heißt es:
"In der universitären Mathematik geht es hingegen um eine formale Axiomatik, so wie sie durch die Arbeit von David Hilbert begründet wurde(z. B. Grundlagen der Geometrie, 1899)."
Ob das wohl so stimmt? In den Modulbeschreibungen der üblichen Anfängerveranstaltungen erinnert kaum etwas an Axiomatik im Sinne von Hilberts "Grundlagen der Geometrie": Die analytische Geometrie wird normalerweise gar nicht im Sinne von Hilbert behandelt, Lineare Algebra und Analysis werden aus präzisen Definitionen aufgebaut, aber Axiome? Beide Themen - Vektorrechnung und Analysis - sind prinzipiell aus dem üblichen Gymnasialunterricht bekannt, zumindest als Vektorrechnung im dreidimensionalen Raum und als Analysis einer Veränderlichen. In Schulbüchern gibt es viele dieser Definitionen auch schon, und zwar in akzeptablen Formulierungen (auch den Grenzwertbegriff). Hier liegt möglicherweise ein Missverständnis vor.

Was aber nicht genannt wird als entscheidender Unterschied, ist die Geschwindigkeit: Wofür in der Schule ein halbes Jahr verwendet wird, wird an der Universität u.U. in einer Woche abgehandelt. Zum Ausgleich hat man aber dann nicht so viele verschiedene Fächer zu bedienen. Ob diese "theoretische Fundierung" wirklich eine ist, mögen andere entscheiden. Ich bin etwas skeptisch, ob die Autoren das zutreffend eingeschätzt haben. In der Sprache der Politik oder Diplomatie wünschte ich mir zudem mehr Betonung von Gemeinsamkeiten (etwa Rechenregeln, Beweise) als eine theoretische Pflege der Abgrenzung von Schul- und Hochschulmathematik.

Es folgt dann als Nr, 5 noch ein konkreter Bericht zu einem 2-wöchigen Brückenkurs an der LMU München speziell für das nicht-gymnasiale Lehramt (für das gymnasiale Lehramt hat man einen anderen Brückenkurs). An Selbstbewusstsein scheint es den Organisatoren nicht zu mangeln:
"Die Studierenden erfahren somit einen idealen und strukturiert organisierten Start in ihr Studium", heißt es gleich am Anfang.

Es heißt, der Brückenkurs wolle keine Aspekte des Studiums vorwegnehmen. Jedenfalls soll Aussagenlogik sowie Terme, Gleichungen und Ungleichungen enthalten sein, und auch zur Geschichte der Mathematik soll einiges gesagt werden. Aufhorchen lässt der Satz: "Bei der inhaltlichen Ausrichtung soll besonderes Augenmerk auf die universitären Denk- und Arbeitsweisen der Mathematik gelegt werden, indem das Problemlösen durch Modellbildung fokussiert wird." Dies wird durch jene Grafik erläutert, die schon tausendfach in didaktischen Abhandlungen zur mathematischen Modellierung erschienen ist. Was soll das wohl mit der universitären Mathematik zu tun haben? Neben Wurzelgleichungen wendet man sich dann einem für Studienanfänger des Faches Mathematik verblüffenden Thema zu, nämlich der Herleitung der binomischen Formel \((a+b)^2 = a^2 + 2ab + b^2\). "... dabei wenden sie in jedem Schritt die Rechengesetze der reellen Zahlen wie Definition des Quadrats, Distributivgesetz, Assoziativgesetz der Addition und Multiplikation sowie das Kommutativgesetz der Multiplikation an und diskutieren diese Gesetzmäßigkeiten. In der Übung sollte entsprechend die Herleitung der beiden anderen binomischen Formeln erfolgen und als Anwendungsbezug dieser Formeln die Ausdrücke \(104^2\), \(98^2\) und \(53 \cdot 47\) berechnet werden," gerade so, als wäre das nicht irgendwie Stoff der Mittelstufe. Und dann passiert das nahezu Unfassbare: Man nimmt anhand konkreter Aufgaben explizit Bezug auf die Kompetenzen für die mittleren Schulabschluss! Man fühlt sich teilweise in ein Lehrbuch für die Haupt- oder Realschule versetzt und reibt sich verwundert die Augen. Das zeigt jedenfalls, dass das obige Zitat "KMK 2003" aus Nr. 4 kein Versehen ist, sondern, dass das ernstgemeint ist.

M.a.W.: Themen, die dem mittleren Schulabschluss zuzuordnen sind, werden in universitären Brückenkursen behandelt (und zwar für Lehrämtler, die später Mathematik lehren werden, wenngleich nur an Grund, - Haupt- oder RealschuleN), so als hätten die Teilnehmer nicht längst ein Abitur oder -äquivalent. Wie tief sind wir denn gesunken? Typisch scheint auch zu sein, dass bei der Bewertung des Kurses durch die Studierenden die beiden am häufigsten genannten Punkte die folgenden waren: "Kennenlernen von Kommilitonen" und "Kennenlernen vom Team." Um den Inhalt ging es den Studierenden weniger.

Man mag das als "lehramtstypisch" ansehen, aber es zeigt jedenfalls, dass Brückenkurs nicht gleich Brückenkurs ist.Das erwartete Eingangsniveau scheint sehr variabel zu sein. Man soll ja auch die Studierenden "dort abholen, wo sie sind". Allerdings besteht die Gefahr, dass damit an den allgemeinbildenden Schulen jeder Anspruch ausgebremst werden könnte, die Abiturienten noch mit ernsthaften Kenntnissen auszustatten. Es könnte sich einbürgern zu sagen: "Das alles kommt ja sowieso im Brückenkurs dran". Manche warnen schon vor einer institutionellen und flächendeckenden Einführung solcher Vor- und Brückenkurse nach einheitlichen Prinzipien und ECTS-Punkten, womöglich nach dem Prinzip der Kompetenzorientierung von PISA & Co.


Dies alles kann nur einen oberflächlichen Eindruck vermitteln und das Lesen dieses Buches nicht ersetzen. Empfohlen werden kann das Buch durchaus, denn neben einiger Standard-Phraseologie zur "Heterogenität" usw. (eine Kostprobe von S. 320: "Ein solches didaktisches Konzept gibt die Möglichkeit, Heterogenität gezielt zu nutzen und damit das, was als Binnendifferenzierung in der Schuldidaktik diskutiert wird, in die Hochschule einzuführen") bietet es einige konkrete, teils überraschende Einsichten in die Realität. Letztlich muss jeder, der an der Hochschule mit mathematischen Anfängerveranstaltungen zu tun hat, sich mit solchen Dingen auseinandersetzen.


FAZIT ZU DEM BUCH:

POSITIV ist hervorzuheben, dass hier eine realistische Einschätzung gegeben wird, die sehr viel Ehrlichkeit ausstrahlt. Schonungslos werden auch psychologische Dinge benannt wie mangelnde Motivation, mangelndes Selbstmanagement, unrealistische Selbsteinschätzung usw., von denen man an den Hochschulen eigentlich nicht auszugehen glaubte (mangelnde Intelligenz scheint aber nach wie vor ein Tabuthema zu sein). Ein Zitat von S. 328: "Erhalten die Studierenden dann erstes Feedback, so führt dies in vielen Fällen zu herben Enttäuschungen - und dies sogar teils in wörtlichem Sinne, insofern zahlreiche Studienanfänger zunächst tatsächlich einer Täuschung unterliegen. Sie sind es aus der Schule gewohnt, zu den Besten im Fach Mathematik zu zählen, an der Universität werden plötzlich Defizite sichtbar."

NEGATIV ist anzumerken, dass trotz ihrer Bemühungen um eine Zusammenfassung die Herausgeber offenbar die Frage "warum ist das alles so?" weder konsequent stellen noch ansatzweise beantworten wollten. Stattdessen klingt in der Einleitung ganz leise die Forderung an, dass sich die Hochschulen doch bitte auf die neue "mathematische Modellierung" und den Gebrauch des Taschenrechners einstellen und nicht mehr so altmodische Rechenregeln verlangen sollten. Seit über 10 Jahren haben wir nun den postulierten "Paradigmenwechsel", der angeblich nach TIMSS und PISA erforderlich wurde. Und als Resultat geht es mit den Mathematikkenntnissen der Studienanfänger in MINT-Fächern weiter bergab. WARUM ?


FAZIT ZU DEN KURSEN SELBST:

1. Die Nützlichkeit der Vor- und Brückenkurse wird niemand ernstlich bestreiten können.

2. Eine Notwendigkeit der Vor- und Brückenkurse ergibt sich weniger durch gestiegene Anforderungen der Hochschulmathematik als vielmehr durch abgesenkte Anforderungen der Schulmathematik auf dem Wege zur Hochschulzugangsberechtigung.

3. Dieser Band dokumentiert eine riesige Diskrepanz zwischen den offiziellen Bildungszielen und der Wirklichkeit. Die postulierten Kompetenzen scheinen in der Realität nicht erreicht zu werden. Diese theoretischen Bildungsziele werden aber
nicht explizit gegenübergestellt, obwohl das sehr lohnend, ja geradezu spannend gewesen wäre.

4. Die Ursachen für die gestiegenen Probleme der Studienanfänger im Lichte der jüngeren Schulreformen scheinen noch nicht hinreichend erforscht bzw. nicht hinreichend klar benannt zu sein. Die Fachdidaktik hätte hier noch ein Betätigungsfeld. Eine präzise und schonungslose Bestandsaufnahme erscheint als wünschenswert.

Wolfgang Kuehnel