In Baden-Württembergs Gymnasien ist der Unmut groß. Der Kultusminister Andreas Stoch (SPD) hat im Oktober vergangenen Jahres eine Entscheidung zum Mathematikunterricht getroffen, die völlig inkonsequent scheint. Es geht um digitalen Werkzeuge, die die Schüler*innen im Mathematikunterricht verwenden dürfen, deren Einsatz in den Prüfungen aber verboten ist.

Eltern, Lehrer*innen und auch einschlägige Organisationen haben sich zu Wort gemeldet und von einem Rückfall in die Zeit vor zwanzig Jahren gesprochen. Auch die Mathematik-Kommission Übergang Schule-Hochschule von DMV, GDM und MNU hat das Thema ausgiebig diskutiert und wird es auf der 2. Fachtagung „Bildungsstandards für die allgemeine Hochschulreife Mathematik“ im Herbst 2014 zum Thema machen.

Zitat aus der Stuttgarter Zeitung vom 22.06.2014 (kompletter Artikel hier: bit.ly/TUQK0Q)

Im Unterricht ja, im Abi nein

"... Kultusminister Stoch hat mit Schreiben vom 21. Oktober 2013 verordnet, dass an Baden-Württembergs Gymnasien „erforderlich“ sei, „Unterricht und Prüfung bei der Wahl der zum Einsatz kommenden Hilfsmittel getrennt zu betrachten“. Im Klartext: die Schüler an allgemeinbildenden Gymnasien lernen mit Hilfe von GTR und CAS. Eltern kaufen ihren Kindern einen CAS, der in der Regel gut hundert Euro kostet. Im Abitur aber dürfen die Schüler von 2017 an – inzwischen wurde der Termin auf 2019 verschoben – nur mit einem wissenschaftlichen Taschenrechner (WTR) arbeiten. Was der können soll und können darf, darüber werde das Kultusministerium die Schulen informieren, teilte es auf Anfrage der StZ mit. Lehrer sind ratlos: Auch den Umgang mit einem WTR müssen die Schüler erlernen. Soll der Unterricht sie mit zwei verschiedenen Geräten vertraut machen?

Schneller Überblick oder Arbeit am Detail – ein Gegensatz?

GTR und CAS können den Schülern viel mathematische Kleinarbeit abnehmen und sie schneller zu einem Ergebnis und seiner grafischen Darstellung führen. ... Schüler können damit auf Entdeckungsreise gehen – um so besser, je besser sie wissen, wie man eine Frage an die Natur mathematisch formuliert. Ohne solche Kenntnisse nützen die Geräte nicht viel.

Eine Frage der Kritiker ist: Wo bleibt die Fähigkeit, Mathematik mit Bleistift und Papier zu treiben? Einmal Erlerntes müsse trainiert werden, sagen sie. Fähigkeiten, die die Schüler nicht benutzten, gerieten in Vergessenheit. Lehrer, die im Unterricht mit den Geräten arbeiten, setzen dagegen darauf, dass die Schüler schneller einen Überblick über eine Aufgabe bekommen und nicht in langwierigen Berechnungen und Umformungen das Verständnis für Zusammenhänge verlieren. Und sie betonen, dass die mühsame Kleinarbeit des Umformens und Lösens von Gleichungen selbstverständlich weiterhin geübt werde.

In mehreren Bundesländern, auch in Baden-Württemberg, lernen die Schüler in beruflichen und allgemeinbildenden Gymnasien seit rund 15 Jahren den Umgang mit den komplizierten Geräten. Das Matheabitur besteht aus zwei Teilen, einem Pflichtteil, in dem Hilfsmittel verboten sind, und einem Wahl-Teil, in dem die Aufgaben mit Hilfsmitteln bearbeitet werden und zu dem an Klassen, die den GTR oder den CAS benutzen, speziell angepasste Aufgaben ausgegeben werden.

Die Kultusminister sagen ja, der Landesminister nein

Die „digitalen Mathematikwerkzeuge“ haben durchaus hochoffizielle Unterstützung. Die Kultusministerkonferenz hat in ihren „Bildungsstandards“ vom 18. Oktober 2012 keinen Zweifel an ihrem pädagogischen Sinn angemeldet. Da ist vom Entdecken mathematischer Zusammenhänge „durch interaktive Erkundungen beim Modellieren und Problemlösen“ die Rede, und von „Verständnisförderung für mathematische Zusammenhänge“. Und anschließend heißt es lapidar: „Einer durchgängigen Verwendung digitaler Mathematikwerkzeuge im Unterricht folgt dann auch deren Einsatz in der Prüfung.“

Fast genau ein Jahr später verkündete Baden-Württembergs Landesregierung in dem zitierten Schreiben das Gegenteil. Kultusminister Stoch (SPD) erläuterte später: „Die hochmodernen Taschenrechner bieten immer umfangreichere technische Möglichkeiten, sodass wir bei den künftigen Mathe-Prüfungen die gleichen Bedingungen für alle Abiturienten gewährleisten und für mehr Sicherheit sorgen müssen.“

Proteste von Lehrern

Das sehen viele nicht ein. Die Deutsche Mathematiker Vereinigung, die Gesellschaft für Didaktik der Mathematik und der Verein zur Förderung mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts beklagten gemeinsam „einen Rückschritt in die Aufgabenkultur vor 20 Jahren“, den technischen Stand der 1970er Jahre „sowie die Gefahr einer großen Verunsicherung für Lehrpersonen“.

[Anmerkung von Stephanie Schiemann: Es gibt in allen drei Vereinen (Deutsche Mathematiker Vereinigung, die Gesellschaft für Didaktik der Mathematik und der Verein zur Förderung mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts) Vertreter von Pro- und Contra-Argumenten zu diesem Thema. Der Eindruck, der hier erweckt wird, alle wären sich hier einig, stimmt nicht.]

Mitarbeiter an einem wissenschaftlich begleiteten Versuch mit dem Einsatz von GTR und CAS in der Sekundarstufe I in Sindelfingen und Herrenberg schreiben in einem offenen Brief von einem „Steinzeitkeil aus den Anfängen elektronischer Unterstützung“ und berichten von „sehr positiven Erfahrungen“ ihres Schulversuchs. Dem Argument des Kultusministers, die neue Regelung werde von den Hochschulen begrüßt, halten sie entgegen, die Wünsche der Universitätsmathematik nach Förderung besonders leistungsfähiger Schüler dürften nicht das Maß für die Schulen sein. Vielmehr solle das Ziel ein breites Verständnis – eine „Republikanisierung“ – mathematischen Denkens und mathematischer Begriffsbildung sein.

Doch Minister Stoch bleibt bei seiner Entscheidung. In einer Antwort auf eine Anfrage der Landtagsfraktion der CDU vom November 2013 bekräftigte er sein Argument, es gehe ihm um Chancengleichheit und Sicherheit in der Prüfung. Und als die CDU sich nicht zufrieden gab und Anfang April eine eigene Anhörung nachschob, kritisierte das Ministerium auf Anfrage der StZ die „einseitige Auswahl der geladenen Experten“ und bekräftigte, dass die Universitäten „von den Abiturienten vor allem mathematische Grundkenntnisse und Fertigkeiten und weniger den Umgang mit technischen Geräten“ erwarteten.

Mit der Forderung nach mehr Sicherheit meint der Minister wohl unter anderem die Gefahr, dass mit den komplexen Geräten im Abitur getrickst werden könnte. So ist es in diesen Geräten zum Beispiel möglich, eigene Dateien abzuspeichern. Doch auch diese Gefahr sehen Lehrer, die die Geräte kennen, nicht. Die Geräte haben eine Funktion namens Press-to-Test. Damit kann der Lehrer eine Auswahl an Funktionen deaktivieren. Erst nach der Prüfung kann dann der Schüler wieder an seine elektronischen Spickzettel."

Zitat: Leserbrief dazu von Dieter Brandt aus Freiburg vom 9. Juli 2014:

"Argumente prallen im Ministerium ab"

"Für den Erlass, fortschrittliche Rechner wie grafische Taschenrechner oder Computer-Algebrasysteme im Abitur zu verbieten, im Unterricht aber zu fordern, gibt es keine vernünftigen Gründe. Wesentliche Aspekte haben Sie in Ihrem Artikel überzeugend offengelegt.

Der Erlass scheint mir gegen die eigene Intention der Landesregierung gerichtet, mehr Individualisierung im Unterricht zu ermöglichen. Er unterminiert die Bildungsstandards, weil einer durchgängigen Verwendung digitaler Mathematikwerkzeuge im Unterricht eben nicht deren Einsatz in der Prüfung folgt. Schlimmer noch: die Arbeit, die viele engagierte Lehrer seit vielen Jahren in die Verbesserung des Mathematikunterrichts gesteckt haben, wird gleichsam handstreichartig ohne nachvollziehbaren Grund zunichte gemacht. Die "neuen" Rechner - eigentlich auf dem Stand der Möglichkeiten, die wir vor 40 Jahren hatten - können im Übrigen anscheinend recht einfach manipuliert werden. Das wesentliche Argument für die Einführung dieser Rechner - mehr Sicherheit und Chancengleichheit - scheint also eher vorgeschoben.

Viele Argumente für die Beibehaltung der fortschrittlichen Rechner wurden von vielen Seiten an das Kultusministerium übermittelt, sie sind allesamt abgeprallt. Bei solchen Vorgehen von Seiten der Entscheidungsträger verliert man das Vertrauen, dass eine angemessene Abwägung der Sachargumente zu dem Erlass geführt hat. Meine Erfahrungen mit dem Umgang mit solchen Argumenten sprechen eher dafür, dass persönliche Einschätzungen von Ministerialbeamten, die sich einseitig über aussagekräftige wissenschaftliche Erkenntnisse und langjährige Erfahrungen von Fachberatern und Lehrern hinweggesetzt haben, die Entscheidung herbeigeführt haben."

sts

Liebe Leser,

es sei an dieser Stelle zunächst auf die Stellungnahmen unter

dmv.mathematik.de/index.php/forum/bildun...kwerkzeuge-im-abitur

verwiesen.

Nochmals zur Sachlage: Nach dem neuen Erlass wird der Einsatz jeglicher
elektronischer Hilfsmittel im Unterricht (GTR, CAS, Tablet, Laptop, Maple
usw.) ERMÖGLICHT. Die Zielvorgabe im Abitur ist aber geräteunabhängig und
bindet nur einen WTR ein.

Im Gegensatz dazu wird bisher der Einsatz einer sehr engen Geräteklasse
durch gerätespezifische Aufgaben im Abitur ERZWUNGEN. Es ist der Wegfall
dieses Zwanges, der einige (aber bei weitem nicht alle) Gemüter erregt:
Offenbar gelingt es selbst hartnäckigen Unterstützern von GTR/CAS trotz
zehnjähriger Erfahrung an den Schulen nicht, Eltern und Schulträger ohne
diesen Zwang vom Sinn dieser Geräte zu überzeugen. Dies wurde jedenfalls
mir gegenüber so offen zugegeben.

Viele Lehrer an den Gymnasien in Baden-Württemberg nehmen diese Sachfrage
eher gelassen auf, so dass ich keine allgemeine Unruhe fürchte.

Bedenklich finde ich vielmehr, wie aus dem Zitat aus der StZ zu
erkennen ist, dass eine Stellungnahme der Gemeinsamen Kommission Schule - Hochschule,
welche stark mit GTR/CAS-Befürwortern besetzt ist,
in der Presse als Stellungnahme "der DMV" wahrgenommen wird.

Das ist kein reiner Zufall oder nur ein Versehen:
Schliesslich wurde dieser Text
zunächst tatsächlich als Stellungnahme der DMV lanciert.
Erst auf die Intervention einzelner
DMV-Mitglieder hin wurde dies korrigiert.

Ich will damit nicht suggerieren, dass es innerhalb der DMV eine klare
Meinung pro oder kontra gibt. Aber bei dem Vorgehen in diesem
Fall stellt sich für mich schon die Frage nach der Rolle der DMV in
einer solchen Kommission und deren konkreten Besetzung.

Hier haben wir einmal ein Thema für eine Diskussion innerhalb der DMV.

Mit freundlichen Grüßen,

Timo Weidl

Beitrag von Hans-Jürgen Elschenbroich
"Rechnen wie in der Steinzeit"
So titelten die Stuttgarter Nachrichten am 03.04.2014 - Was war der Anlass?

aus: Zur Diskussion gestellt, MNU 67/4 (1.6.2014)

sts

Im Auftrag von dem Mathematiklehrer Heinz Böer (NRW) einem Gründungsmitglied der MUED e.V. möchte ich folgenden Beitrag von ihm posten:

In einem guten, modernen Mathematikunterricht nimmt die Lehrperson natürlich neue Medien auf, weil mit ihnen anwendungsnäher, anschaulicher, handgreiflicher Mathematik im Lebensumfeld der Schüler_innen betrieben werden kann, z.B.:

mit dem Smartphone GPS-Daten verarbeiten und den Differenzen- und Differentialquotient einführen,

Daten aus Zeitungs- bzw. Onlinenachrichten schnell verarbeiten und bewerten…

Aus solchen Situationen speist sich ein Mathematikunterricht, der von sich beansprucht, Relevantes fürs Leben zu lehren, zur Allgemeinbildung beizutragen, zur allgemeinen Hochschulreife zu führen. Dazu gehört auch viel Mathematiktreiben mit Papier und Stift, klar. Aber eben auch noch mehr.

Wer einen GTR- oder CAS-Rechner im Abitur verbietet, der sollte wissen, dass sich dann auch im MU diese Rechner nicht durchsetzen. Wer erwartet ernsthaft, dass zukunftsorientierte Mathematik-Lehrpersonen sich auf einen Kampf mit Eltern und Schüler_innen einlassen, einen zusätzlichen teuren GTR- oder CAS-Rechner zu kaufen? Lehrpersonen, die konservativ wie die Hochschulen nur für Papier und Stift argumentieren, werden sich schon gar nicht in die mathematische Moderne bewegen!

Hier muss eine Kultusbürokratie vorangehen und sich abmühen, brauchbare, tragfähige Lösungen in Übergangszeiten zu finden. Außer BW versuchen das alle anderen Kultusministerien ja auch. Rigide Verbote sind eine klare Entscheidung – schön einfach, aber untauglich.

Übrigens: Schön wäre es, wenn die Taschenrechnerproduzenten einfach keine dieser untauglichen BW-Taschenrechner entwickeln würden. Ihr Argument: „Wir beschränken nicht künstlich Gerätefunktionen, die zukunftsorientiert sind!“ Dann könnten BW-Schüler_innen und auch Lehrpersonen wieder das schriftliche Wurzelziehen üben oder sollen etwa wieder nur die schönen Quadratzahlen herauskommen und schlecht verkleidete Aufgaben?

sts

Sehr geehrter Herr Böer,
sehr geehrter Herr Elschenbroich,
liebe Mitleser,

eigentlich wollte ich mich nach meinen früheren Beiträgen zu diesem Thema nicht weiter äussern. Da aber insbesondere im Schreiben von Herrn Böer eine echte Betroffenheit anklingt, möchte ich in dieser verquerten Diskussion nochmals einige Sachverhalte an die rechte Stelle rücken.

Zwei Dinge sind zu trennen: Der Sinn oder Unsinn des Einsatzes von GTR/CAS im Unterricht und deren Einsatz in der Abiturprüfung selbst.

Beginnen wir mit letzterem. Bei weitem nicht alle Aspekte der gymnasialen Schulbildung werden im Abitur geprüft. So wird von jedem Schüler die Nutzung von Powerpoint bei Präsentationen (und damit implizit der Umgang mit einem Laptop) erwartet. Dies ist aber nicht Gegenstand irgendeiner einer schriftlichen Abiturprüfung (z.B. Deutsch). Ähnliche Beispiele lassen sich in anderen Fächern finden, z.B. der Verzicht auf die Durchführung von Versuchen in den schriftlichen Prüfungen der Naturwissenschaften (zumindest in BaWü). Gleiches gilt für jede Art von Projektarbeit, vom Brot backen bis zum Heißluftballon basteln. Nicht jeder Unterrichtsgegenstand eignet sich also gleichermaßen für die schriftliche Abiturprüfung. So etwas kann in einer GFS, einer Projektarbeit oder auf andere geeignete Weise benotet werden. Gleiches gilt für den Einsatz von GTR/CAS, Laptop o.ä. - der Lehrer kann die lokal eingesetzten Geräte natürlich nach seinem Ermessen in Projekte, aber auch Klassenarbeiten einbinden.

Wenn wir uns aber auf den fachübergreifenden Einsatz von Laptop & Co hin bewegen, dann werden bald sehr unterschiedliche Modelle mit unterschiedlichsten Eigenschaften und Software in Schülerhand sein. Keine Abiturkommission kann diese Vielfalt durch Aufgabenvarianten in einem Zentralabitur mehr berücksichtigen. Schon daraus folgt die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Unterrichts- und Abiturprüfungssituation.

Der Einsatz von GTR/CAS macht den Mathematikunterricht nicht a priori "modern". Ebenso ist ein Unterricht ohne diese Geräte nicht automatisch rückwärts gewandt. Es gibt guten Unterricht mit und ohne GTR/CAS. Aber es gibt eben eine ganze Menge schlechten Unterricht mit GTR/CAS, besonders wenn Lehrer dazu gezwungen werden. Die Fähigkeit zum dosierten und gezielten Einsatz der Geräte ist sehr unterschiedlich ausgeprägt, auch bei den Fachberatern. Ich habe selbst aus diesem Kreis heraus wirklich gute aber auch eher beunruhigende Unterrichtsbeispiele erleben dürfen. Schlechter Unterricht ist mit GTR/CAS gefährlicher als ohne, da dem Schüler nicht einmal mehr die Routinen bleiben. Die Hauptkritik der Hochschulen richtet sich gegen fehlende Kenntnisse und Fertigkeiten aus dem Mittelstufenbereich. Diese werden zum einen nicht genügend eingeübt als auch in späteren Klassen zu wenig wiederholt. Gerade hier kann exzessiver GTR/CAS-Einsatz Schaden anrichten. Das ist nicht Zufall, sondern Programm. Im Bildungsplan 2004 steht wörtlich: "Die verstärkte Forderung nach verstehendem Lernen und Verbalisieren von mathematischen Sachverhalten wird begleitet von reduzierten Anforderungen im Bereich der Rechenfähigkeiten." Einige Lehrer wendeten sich vehement gegen den Termin 2017 für das erste GTR/CAS-freie Abitur, da man mit den nach dem bisherigen Bildungsplan ausgebildeten Schülern (jetzt 9. Klasse) bis zum Abitur (dann 12. Klasse) so schnell nicht mehr umsteuern könnte. Das ist meiner Meinung nach ein Armutszeugnis! Und leider stellt sich das (natürlich notwendige und sinnvolle) verstärkte Verstehen bei mangelnden Grundkenntnissen auch nicht wirklich ein.

Diese aus den Hochschulen heraus geäußerte Kritik sollte man ernst nehmen. Die heutigen Kollegen an einer technisch geprägten Universität sind meist keine konservativen Papier- und Stift-Ideologen. Als aktive Forscher, welche die moderne Mathematik mitformen, sind sie vielmehr grundsätzlich offen für neue Ideen, wissen aber auch, deren Wirkung und Nutzen kritisch einzuschätzen. Wenn dieser durchaus technikaffine Personenkreis begründete Skepsis äußert, dann nicht um einige Lehrer und Didaktiker zu ärgern, sondern weil wir wünschen, dass ein ordentlicher Abiturient mit der allgemeinen Hochschulreife in der Tasche in der Lage sein sollte, erfolgreich ein MINT-Studium aufzunehmen.

Es ist schon paradox: Während z.B. in BaWü die natürliche Anwendung der Mathematik in den Naturwissenschaften, insbesondere in der Physik, kaum noch Eingang in den Unterricht findet (von manchem als "barrierefreier" Zugang zur Physik bezeichnet), soll der Nutzen der Mathematik ersatzweise an den "Pseudomodellierungsaufgaben" demonstriert werden. Nicht nur enthalten diese Aufgaben meist keine wirklichen Modellierungsaspekte sondern sind nichts als eingekleidete Sachaufgaben, nicht nur zeichnen diese Aufgaben oft ein verzerrtes Bild vom Sinn der Mathematik, nein die Betonung dieses Ansatzes beim gleichzeitigen Verzicht auf immermathematische Begrifflichkeiten und die deduktive Struktur des Faches schadet vielmehr sogar der Anwendbarkeit der Schulmathematik selbst - z.B. bei der Aufnahme eines MINT-Studiums.

Ja, und jetzt spreche ich auch als betroffener Vater, ich erwarte, dass der Einsatz eines nicht ganz billigen Gerätes im Unterricht von der Schule und den Lehrern inhaltlich und didaktisch glaubhaft begründet und zusammen mit den Eltern z.B. im Rahmen von Schulkonferenzen beschlossen wird. Dabei sind durchaus schuleinheitliche als auch differenzierte Lösungen vorstellbar. An der Schule meiner Kinder entscheidet man sich bei Schuleintritt für eine Streicher-, Bläser- oder Gesangsklasse. Im Wissen um den Bildungswert eines Instrumentalunterrichts bezahlen die Eltern der Streicher und Bläser gern einen kleinen Beitrag für diese Ausbildung, der insgesamt weit über dem Anschaffungspreis von GTR und CAS liegt. Warum soll die Schule also nicht auch differenziert bei digitalen Hilfsmitteln im Mathematikunterricht vorgehen? Dazu bedarf es jedoch eines überzeugenden Konzepts, welches nicht nur aus dem Satz: "Kommt im Abitur vor, also muss es sein!" bestehen kann. Ohne eine solche substantielle Begründung kann ja der Sportlehrer auch die Anschaffung einer besonderen Turnschuhmarke oder der Sprachenlehrer den Kauf eines Hexaglott-Sprachcomputers fordern. Wenn dies selbst nach 10jähriger Erfahrung mit GTR und CAS innerhalb des Lehrergremiums und gegenüber den Eltern nicht gelingen sollte, wenn diese Geräte aus sich heraus nicht überzeugen, dann erübrigt sich eigentlich jegliche weitere Diskussion zum Sinn dieser Geräte und eine Indoktrination von oben ist nicht zielführend. Ohne den Zwang des Abiturs stehen dann aber plötzlich ganz neue Optionen offen, die vorsichtig, sinnvoll und fachübergreifend ausgelotet werden können.

Dem aufmerksamen Beobachter ist sicher aufgefallen, dass es in dieser Diskussion nicht immer nur um Sachfragen ging. Diese Beiträge sind richtigerweise im DMV-Forum unter den bildungspolitischen Themen zu finden. Und wie immer in der Politik geht es eigentlich um Macht.

"Welche Macht?" werden Sie fragen und sich vielleicht an das Henry Kissinger zugeschriebene Zitat "Academic politics are so vicious precisely because the stakes are so small." erinnern. Es geht vor allem um die Deutungshoheit darüber, was Schulmathematik soll und was sie ausmacht, sowie um den Zugang zu den Entscheidungsträgern.

Als erstes Indiz für diese These ziehe ich die Sprache der Beiträge einiger GTR/CAS-Verfechter heran. Hier wird vom "Rechnen wie in der Steinzeit" und "Steinzeitkeilen" gesprochen, von "Aldi-Rechnern" und vom "Rückschritt in die Aufgabenkultur vor 20 Jahren". Und notwendigerweise weiß man in Berlin offensichtlich, dass an "Baden-Württembergs Gymnasien der Unmut groß" ist. Diese Polemisierung versucht offensichtlich, die Sachfrage zu emotionalisieren um damit eine inhaltliche Diskussion zu erschweren. Das dringende Bedürfnis zur Meinungsäußerung (nicht unbedingt zur Diskussion) verspüren manche GTR/CAS-Befürworter erst, nachdem die entsprechende Entscheidung gegen den Einsatz im Abitur getroffen wurde. Es sei darauf hingewiesen, dass in Baden-Württemberg seit 2004 nahezu jede kritische Analyse der Folgen des GTR/CAS mit dem Hinweis auf dessen verpflichtenden Einsatz im Abitur abwürgt wurde.

Als zweites Indiz ziehe ich den geradezu missionarischen Eifer heran, mit dem einige versuchen, allen anderen Lehrerkollegen die Einbindung und Nutzung spezifischer Geräte überzustülpen. Bei der Einführung in Baden-Württemberg - ebenso wie jetzt in NRW - wurden diese Geräte bei weitem nicht von allen Lehrern uneingeschränkt begrüßt. Und nicht etwa, weil diese Kollegen faul und rückwärtsgewandt sind. Im Gegenteil, durch unsere intensive Arbeit mit Schülern kenne ich eine ganze Reihe hochengagierter Lehrer, welche bis heute eine - vorsichtig ausgedrückt - differenzierte Position einnehmen. Andererseit konnte man mit Hilfe von GTR und CAS Karriere machen: Man brauchte neue Lehrbücher, was die Verlage freute. Manch ein Mitautor dieser Lehrbücher saß oder sitzt in Bildungsplankommissionen und setzt gleichzeitig als Fachleiter oder Ausbildungslehrer entsprechende Beschlüsse durch. Aus dieser Verquickung von Interessen heraus erwächst wohl der größte Widerstand. Letztendlich steht der GTR/CAS auch als Symbol für eine - von Lehrern und Fachberatern anerkannte - negative Entwicklung des Mathematikunterrichts an den Schulen in Baden-Württemberg, wobei die Geräte eigentlich nur einen kleineren Teilaspekt dieses Trends ausmachen. Die Verkürzung der effektiven Unterrichtszeit, die Entmathematisierung der anderen Naturwissenschaften, die gerade mit dem GTR/CAS einher gehende Vermittlung von Rezepten statt des von allen geforderten Verständnisses sind viel schwerwiegender. Darüber können - wie oben angedeutet - auch GTR/CAS-spezifische Pseudoanwendungsaufgaben nicht hinwegtäuschen. Damit wären wir aber bei dem Thema, ob sich die Aufgabenkultur in der Schule in den letzten 20 Jahren wirklich zum besseren gewandelt hat. Das will ich hier nicht auch noch anschneiden.

Eigentlich gibt es viel zu tun für die gemeinsame Kommission Schule-Hochschule. Mir bleibt ein Rätsel, warum sie sich dann von einigen Mitgliedern, die bei diesem Thema ganz offensichtlich Interessenkonflikten ausgesetzt sind, instrumentalisieren lässt. Schließlich war die Stellungnahme nicht als Anfang einer inhaltlichen Diskussion sondern vielmehr als Steilvorlage für CDU-BaWü-Landtagsabgeordnete gedacht. Und das ist Indiz Nummer drei: Politik, wie schon gesagt.

Mit freundlichen Grüßen,

Timo Weidl

PS Nochmals: Auch weiterhin dürfen GTR und CAS an den Gymnasien in Baden-Württemberg eingesetzt werden. Nur nicht in der Abiturprüfung.

PPS Ich erhalte keinerlei Förderung von CASIO und TEXAS INSTRUMENTS oder von anderen Herstellern solcher Geräte.

Zu dem Beitrag von H.-J.Elschenbroich
"Rechnen wie in der Steinzeit"

Wolfgang Kuehnel