Kristina Vaillant hat sich als freie Journalistin für die Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung von 2010 bis 2022 mit der Frage beschäftigt, wo Mathematiker*innen nach ihrem Studium beruflich verbleiben. Für die Reihe „Mathe studiert – und dann?“ hat sie in zahlreichen Interviews Mathematiker*innen befragt und so einen vielfältigen Einblick in den mathematischen Arbeitsmarkt erhalten. An den gewonnenen Erkenntnissen lässt sie uns im nachfolgenden Interview teilhaben.

 

Kristina Vaillant. Quelle: https://www.textetage.com/home/journalismus/show/kristina-vaillant.html

Was hat Sie besonders an der Interviewreihe „Mathe studiert – und dann?“  für die DMV Mitteilungen begeistert? Was hat Sie am meisten überrascht?

„Am meisten begeistert hat mich die Vielfalt der Tätigkeitsfelder von Mathematikerinnen und Mathematikern. Das ist sehr überraschend gewesen. Was mich auch begeistert hat, war, dass die Suche nach ihnen immer mit ein bisschen Detektivarbeit verbunden war. Wir haben uns ja auf Mathematikerinnen und Mathematiker konzentriert, die in Unternehmen arbeiten und die sind oft wie eine Art Blackbox. Auf der Unternehmenswebsite gibt es in der Regel gar keine Informationen. Vielleicht findet man bei LinkedIn noch einen knappen Lebenslauf, aber das ist dann eigentlich alles, was man im Netz über diese Person herausfinden kann. Dann versucht man über Recherche zu Schlüsselbegriffen zumindest noch etwas zum Tätigkeitsgebiet herauszufinden. Und dann die Überraschung, wenn man die Interviewpartner*innen trifft und versucht im Gespräch herauszufinden, was sie eigentlich machen. Es gab nur eine Ausnahme. Das war Martin Hikel, der Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, der ist eigentlich Mathematiklehrer von Beruf. Ich habe ihn 2018 interviewt, da war er gerade erst Bürgermeister geworden und das war dann eben eine öffentliche Person. Durch die Interviews bekommt man einen Einblick in Branchen, mit denen man bisher noch gar keine Berührung hatte. Ich würde mal sagen, die exotischste bisher war wahrscheinlich die Spieleautomaten-Industrie. Der betreffende Mathematiker hat Spiele für Einarmige Banditen konzipiert. Ich kann mich überhaupt nicht mehr erinnern, wie wir auf den gekommen sind, aber das ist auch schon acht Jahre her. Das war eine sehr überraschende Begegnung. Wir haben auch über Spielsucht gesprochen und er hatte dazu eine sehr klare und reflektierte Haltung.“

Wie sind Sie zu Ihren Interviewpartner*innen gekommen?  Haben Sie stets versucht den Arbeitsmarkt zu repräsentieren oder wollten Sie vor allem die ungewöhnlichen Beispiele zeigen?

„Wir sind da überhaupt gar nicht systematisch vorgegangen. Es gab auch nicht den Anspruch, den Arbeitsmarkt zu repräsentieren oder abzubilden. Es gab nur wenige Vorgaben. Das war einmal, möglichst keine Mathematiker*innen aus der wissenschaftlichen Forschung, also aus Unis und Forschungsinstituten zu befragen. Da haben wir ein paar Ausnahmen gemacht. Zum Beispiel ein Umweltwissenschaftler, der angewandte Mathematik studiert hatte und zu Biodiversität forscht.[1] Und dann ein Mathematiker, der hat am Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung in der Klimamodellierung gearbeitet.[2] Beide haben mit mathematischen Modellen gearbeitet. Sie haben also die gleichen Tools benutzt, aber auf verschiedenen Gebieten. Es gab auch Interviews auf dem Gebiet der angewandten Forschung, beispielsweise Medizintechnik. Es wurden mir nur sehr selten von der Redaktion Interviewpartner*innen vorgegeben. Dies war eigentlich nur ein einziges Mal der Fall. Ich sollte zwei Aktuare interviewen, deren Anliegen war es, Werbung für ihren Berufsstand zu machen, da sie offensichtlich Nachwuchsprobleme hatten. Es war also keine systematische Suche. Das ist wichtig. Zu Beginn der Interviewreihe vor knapp zehn Jahren haben wir aber tatsächlich viele Interviewpartner*innen rekrutiert, die ursprünglich Doktorand*innen an der TU gewesen waren. Einfach weil unsere Redaktion da angesiedelt war. Manchmal haben mir auch Freund*innen oder Kolleg*innen Mathematiker*innen vorgeschlagen, die sie kennen, weil sie wussten, dass ich mich dafür interessiere. So ist zum Beispiel ein Interview mit einer Mathematikerin mit dem Spezialgebiet kombinatorische Optimierung zustande gekommen, die Fahrpläne für die niederländische Bahn entworfen hat.[3] Wer auch immer ganz fleißig ist mit Vorschlägen ist Christoph Eyrich, der das Magazin layoutet. Genauso wie ich hat er immer Augen und Ohren offen gehalten. Er hat zum Beispiel im letzten Jahr einen Mathematiker aus Berlin vorgeschlagen, der in reiner Mathematik promoviert hat und dann Künstler*innen bei Installationsprojekten beraten hat.[4] Zuvor hatte er auf dem Gebiet Neurowissenschaft geforscht und dann kürzlich ein erfolgreiches Startup mit einer Software für die Immobilienbranche gegründet. Und dann gab’s auch mal zufällige Begegnungen. Einmal saß ich im Zug von Berlin nach Frankfurt und neben mir saß ein junger Mann, mit dem ich ins Gespräch gekommen bin. Er hatte als Mathematiker gerade seinen ersten Job nach der Uni in Berlin, und zwar als Datenanalyst in einem Startup, eine Agentur, die Werbung auf Handys vermarket. Das war damals noch ein relativ neuer Beruf und noch ein relativ neues Tätigkeitsfeld.[5] Zusammenfassend kann man sagen, dass wir das Berufsfeld von vielen Seiten her eingekreist haben, und an dieser Suche haben sich viele beteiligt. Insofern denke ich, dass wir eine relativ große Bandbreite abgebildet haben. Das war letztendlich auch unser Ziel. Wir wollten nicht in jedem zweiten Interview einen Data Analyst oder eine*n Aktuar*in vorstellen. Die Interviewreihe sollte schon möglichst breit angelegt sein. Ich denke dieses Ziel haben wir auf jeden Fall erreicht.“

Was sind heute typische Tätigkeitsfelder für Mathematiker*innen?

„Typisch kann man gar nicht sagen, weil das Feld wirklich so breit ist.  Ich bin mir sicher, wir haben das auch noch gar nicht abgedeckt. Da verbergen sich noch Mathematiker und Mathematikerinnen an Orten, wo wir sie überhaupt gar nicht vermuten würden. Da bin ich mir sicher. Nur um mal ein paar Branchen zu nennen, auf die wir gestoßen sind in den Interviews: Politik, Medizintechnik, Klimaforschung, Automobilindustrie, Stahlindustrie, Marketing, öffentlicher Nahverkehr, öffentliche Gesundheitsfürsorge, Spielautomatenindustrie, optische Industrie, Logistik, Biometrik. Wenn ich jetzt noch die Berufe dazu nehme, wird die Liste richtig lang. Ich glaube, einen typischen Beruf gibt es da nicht. Natürlich eint viele Berufe die Arbeit mit Daten. Die Digitalisierung hat viele neue Berufsfelder eröffnet. Ob das jetzt Modellierung, Simulation, maschinelles Lernen oder auch Industrieprozesse sind, die durch Algorithmen gesteuert oder wissenschaftliche Forschung, die auf Algorithmen beruht. Es gibt solche Schnittstellen, die ganz verschiedene Berufsfelder miteinander verbindet. Das hat man natürlich schon auch an den Berufen gemerkt, die wir gefunden haben. Relativ früh, das muss 2014 gewesen sein, bin ich auf einen Datenanalysten gestoßen, der hatte Mathematik studiert und war gleichzeitig ein leidenschaftlicher Hockeyspieler und -trainer. Sein Beruf war Digital Coach, seine Tätigkeit Performanceanalyse.[6] Er hat Hockeyspiele auf der Basis von Daten analysiert. Das ist heute relativ normal, aber war damals noch neu. Durch die Digitalisierung und das datenbasierte Arbeiten in so vielen Branchen hat sich einfach das Spektrum der Berufe und Tätigkeiten für Mathematiker*innen enorm erweitert. Ich habe nochmal in das erste Interview von 2012 reingelesen. Da gab es einen kleinen Vorspann zu dem Interview und an dem Vorspann merkt man, dass diese Vielfalt damals noch nicht so selbstverständlich war. Da stand: „Wer Mathematik studiert hat, hat sich für viele spannende Jobs qualifiziert. Neben den klassischen Tätigkeiten als Wissenschaftler(in) in der Forschung oder als Lehrer(in) an der Schule gibt es zahlreiche neue Einsatzgebiete für Mathematikerinnen und Mathematiker. Sie arbeiten heute in der Finanz- und Versicherungswirtschaft, in Konstruktion und Simulation in Unternehmen der Fahrzeug- und Flugzeugbranche, in Unternehmensberatungen, in Schulbuchverlagen und in der Softwareentwicklung.“ Das war eine Beobachtung, die damals relativ neu war und die man daher betonen musste.“

Decken sich die angebotenen Jobs mit den Wunschvorstellungen der Bewerber*innen?

„Ich glaube, da ist sehr häufig – wie bei vielen Berufswegen – der Zufall im Spiel. Manchmal sind es auch Nebenschauplätze oder Nebeninteressen, die erstmal gar keine beruflichen Interessen sind, wo es dann aber plötzlich beruflich hingeht. Mein letztes Interview mit Swantje Gährs ist so ein Beispiel. [7] Sie hat auf dem Gebiet der reinen Mathematik promoviert, sich aber schon immer für Klimaschutz interessiert. Sie war dann erst in der Unternehmensberatung tätig, wo sie eine Fortbildung im Bereich Energiewirtschaft gemacht hat. Schließlich ist sie dann als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Forschungsinstitut für ökologische Wirtschaftsforschung gelandet. Das private Interesse ist somit auch ein berufliches Interesse geworden. So wie bei Swantje Gährs sind das vielleicht Stellenangebote gewesen, die gar nicht ausdrücklich an Mathematiker*innen gerichtet waren. Diese Personen haben sich dennoch beworben und das hat sicher ein bisschen Mut gebraucht. Die Arbeitgeber*innen waren dann aber offenbar für Mathematiker*innen aufgeschlossen, auch wenn sie gar nicht explizit nach ihnen gesucht haben.“

Sind heute plötzlich alle Data Scientists? Ist es mittlerweile wirklich der Beruf für Mathematiker*innen (wie in einem Interview zu Beginn des Jahres 2021 postuliert wurde[8])?

„Ich weiß nicht, ob es der Beruf ist, aber auf jeden Fall wird es mehr Data Analysts geben als noch vor zehn Jahren. Da bin ich sicher. Dieser Beruf oder zumindest die Bezeichnung ist relativ neu. Andrea Nestler, eine Datenanalystin bei Zalando, sagte 2021 im Interview, dass dieser Beruf, als sie 2013 angefangen hatte, noch Quantitative Analyst hieß und sich die Bezeichnung Data Analyst erst später durchgesetzt hat.[9] Ich bin mir sicher, es gibt heute viel mehr Datenanalysten, aber ich kann nicht sagen, ob der Beruf jetzt auf alle Absolvent*innen so eine Anziehungskraft hat, wie das bei der Zalando-Mitarbeiterin der Fall war.“

Wo sehen Sie auf dem Arbeitsmarkt der Mathematiker*innen die größten Veränderungen in den letzten 10 Jahren?

„Das sind auf jeden Fall die Veränderungen, die die Digitalisierung nach sich zieht. Im Grunde sind damit den Tätigkeitsfeldern von Mathematiker*innen keine Grenzen mehr gesetzt. Solange Branchen und Betriebe datenbasiert arbeiten, sind sie eigentlich immer gefragt. Das ist aus meiner Sicht, aus der Erfahrung mit den Interviews die wichtigste Beobachtung, ohne dass ich das systematisch untersucht hätte.“

Was sind Ihrer Einschätzung nach die Berufsfelder der Zukunft? Welche Rolle nimmt dabei das Aktuariat im mathematischen Arbeitsmarkt ein?

„Das kann ich nur schwer beurteilen, aber ich könnte mir vorstellen, dass das Aktuariat ein wichtiges Berufsfeld bleiben wird und dass die Finanzbranche auch weiterhin Mathematiker*innen einsetzen wird. Ich weiß nicht, ob das an der Auswahl unserer Gesprächspartner*innen liegt, aber die meisten, mit denen ich gesprochen habe, hatten sich nach dem Studium meist bewusst dagegen entschieden, da sie sich den Beruf langweilig vorstellten. Es gab auch eine Mathematikerin, die sagte, sie möchte mit ihrem Wissen nicht einer Bank oder einer Versicherung bei der Gewinnoptimierung helfen, sondern lieber etwas tun, was aus ihrer Sicht sinnvoll ist. Die Motivation, etwas Sinnvolles tun zu wollen, etwas, was einem selbst wichtig ist, das habe ich öfter einmal gehört, vor allem von Mathematikerinnen. Das sind aber natürlich persönliche Meinungen und individuelle Einschätzungen, was den Aktuarsberuf angeht und keine objektiven Urteile. Meine Vermutung ist, es liegt vielleicht auch daran, dass es im Bankenwesen einige Skandale gab in den letzten Jahren und die Finanzbranche insgesamt seit der Krise 2008 nicht den allerbesten Ruf genießt.“

Man hört immer wieder davon, dass Unternehmen gar keine eigenen Mathematiker*innen mehr beschäftigen, sondern lieber gezielt Aufträge an Forschungsinstitute und spezialisierte Unternehmen vergeben, die dann die gewünschte mathematische Forschung leisten. Haben Sie diese Erfahrung auch gemacht?

„Das kann ich nicht beurteilen, aber es würde mich wundern. Es sei denn, es handelt sich ganz gezielt um mathematische Aufgaben. Die Mathematiker*innen, mit denen ich gesprochen habe, die schienen sehr wertvoll für ihre Unternehmen zu sein, aber nicht unbedingt nur, weil sie für mathematische Aufgabenstellungen gebraucht wurden, sondern so viel mehr als das. Sie hatten viel mehr als rein mathematische Expertise im engeren Sinn. Einige der Interviewten arbeiten auch gar nicht mehr als Mathematiker*innen, aber sie bringen Kompetenzen ein, die sie durch ihre Ausbildung als Mathematiker*innen erworben haben. Es war bei den wenigsten so, dass mathematische Aufgabenstellungen die Hauptaufgaben waren. Das kam mal am Rande vor, bei manchen kam es gar nicht vor. Es war wirklich ein breiteres Verständnis von mathematischem Denken, das gefragt war und das sie auch als ihre eigene Stärke angegeben haben.“

Wie finden junge Mathematiker*innen beruflich am besten einen Einstieg? Was sollte man mitbringen, insbesondere wenn man aus einem Fach wie der Mathematik kommt, wo der Weg nicht zwangsläufig vorgezeichnet ist?

„Diese Frage habe ich meinen Interviewpartner*innen immer gestellt und eigentlich haben fast alle Praktika während des Studiums empfohlen. Also einfach um mal in ein Anwendungsgebiet oder eine Branche reinzuschnuppern. Natürlich auch um Kontakte zu knüpfen, aber auch, um eigenen Interessen nachzugehen. So wie Swantje Gährs, die sich schon während ihres Studiums für Fragen des Klimaschutzes interessiert hat.[10] Die hat dann auch den Tipp gegeben, sich bei Nachhaltigkeitsinitiativen an Unis zu engagieren, wenn man sich für das Thema interessiert. Auch so ein Engagement kann einem ein Stück weit den Weg in eine Branche hinein ebnen. Manche haben auch betont, dass es wichtig ist, sich schon im Studium Anwendungskompetenzen anzueignen, wie beispielsweise Programmieren. Und diejenigen, die reine Mathematik studiert haben, haben eigentlich immer gesagt, dass diese eine sehr gute Grundlage ist, um später in alle möglichen Branchen einzusteigen. Der Weg dahin ist dann nicht vorgegeben, aber die Befragten fühlten sich damit sehr gut auf alle möglichen Tätigkeiten vorbereitet.“

Wie gestaltet sich die Situation für Frauen in der Mathematik? Wie divers ist die Mathematik heute?

„Was Geschlechter anbelangt, herrscht Diversität. Ich hatte jedenfalls überhaupt kein Problem, immer mindestens die Hälfte der Interviews mit Frauen zu führen. Insofern könnte ich mir vorstellen, dass es in Unternehmen recht divers ist. Schon das erste Interview im Jahr 2012 habe ich mit einer Mathematikerin geführt. Und die Mathematikerinnen, mit denen ich gesprochen habe, die arbeiten auch fast alle in sogenannten klassischen Männerbranchen – also Raumfahrt, Metallindustrie – da gab es gar keine Grenzen. Wo die Diversität der Geschlechter offenbar eher ein Problem ist, ist in der akademischen Mathematik. Ich habe einmal ein ausführliches Interview mit Alexandra Carpentier, Professorin an der Uni Magdeburg, begleitet, die ursprünglich aus Frankreich kommt. Sie hat in Deutschland vor allem die Hierarchien im akademischen System dafür verantwortlich gemacht, dass es Mathematikerinnen da so schwer haben.[11] Sie hat aber auch gesagt, dass in dieser Hinsicht gerade viele Veränderungen angestoßen werden, aber dass eben Frauen, nur weil sie Frauen sind, noch immer sehr zu kämpfen haben. Im Unternehmensbereich hatte ich nicht den Eindruck, dass es da so schwierig ist. Wenn Sie jetzt über Diversität sprechen und damit Herkunftsländer meinen oder kulturelle Hintergründe, da war die Gruppe der Interviewten schon sehr homogen.“

Sie haben immer wieder die Frage gestellt „Mathematik – Beruf oder Berufung?“. Was ist Ihrem Eindruck nach eher der Fall?

„Für die meisten war ihr Beruf schon Berufung und sie haben sich auch als Mathematikerinnen und Mathematiker definiert, selbst dann, wenn ihre berufliche Tätigkeit gar nicht mehr so viel damit zu tun hatte. Meine Interviewpartner*innen haben mir eigentlich durchgehend berichtet, dass sie dieses strukturelle und lösungsorientierte Denken, die Fähigkeit zur Abstraktion und die systematische Suche nach Lösungen auszeichnet als Mathematiker*innen. Über diese Kompetenzen haben sie sich identifiziert, wenn die Tätigkeit an sich nichts mehr mit Mathematik zu tun hatte. Es gab eigentlich nur eine Ausnahme und das war wiederum Swantje Gährs, die über sich sagt, sie sei wissenschaftliche Mitarbeiterin. Allein mit der Berufsbezeichnung Mathematikerin, hat sie gesagt, da würde ihr etwas fehlen. Aber sie hat auch gesagt, dass sie die Mathematik liebt.“

Welche Karrieren haben Sie am meisten beeindruckt und sind im Gedächtnis geblieben?

„Da sind mir ein paar im Gedächtnis geblieben. Zum einen Raneem Almasri, eine syrische Studentin, die mit größter Selbstverständlichkeit dieses Studienfach gewählt hatte.[12] Sie hatte schon vor ihrer Flucht aus Syrien in ihrer Heimatstadt Homs Mathematik studiert. Ihr Wunsch war, später in einem großen Unternehmen zu arbeiten, egal welche Branche, oder als Dozentin an der Uni zu unterrichten. Und sie berichtete, dass sie mit diesem Berufswunsch keine Ausnahme in Syrien gewesen sei. Das fand ich interessant. Dann die Begegnung mit Julia Ehrt, auch eine promovierte Mathematikerin, die sich während der Postdoc-Zeit komplett aus der akademischen Forschung verabschiedet und eigentlich ihr Hobby zum Beruf gemacht hat.[13] Sie war politische Aktivistin bei einer Organisation, die sich für Transpersonen eingesetzt hat. Mittlerweile ist Julia Ehrt Programmdirektorin[14] bei einem bei den Vereinten Nationen akkreditierten Dachverband, der sich weltweit für die Menschenrechte von Schwulen und Lesben, von bisexuellen, intersexuellen und transgeschlechtlichen Personen einsetzt. Das finde ich sehr mutig, so einen radikalen Schnitt zu machen, den Beruf zu verlassen, in den man viel Zeit und Energie gesteckt und sich eine Reputation aufgebaut hat. Und dann hat mich auch das Gespräch selbst mit ihr sehr berührt. Ich habe das erste Mal so intensiv und ausführlich mit einer Transgenderfrau gesprochen und sie hatte so eine natürliche, selbstverständliche Weiblichkeit. Diese Gelassenheit hat mich total beeindruckt. In Erinnerung geblieben ist mir auch Sofya Spiridonova. Sie war 2019, als ich sie getroffen habe, Flight Dynamics Engineer beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Oberpfaffenhofen bei München.[15] Sie überwacht den Start von Satelliten in die Umlaufbahn und deren Flug. Das ist eine junge Frau, die ein unglaubliches Selbstbewusstsein und auch Sicherheit ausgestrahlt hat und dabei irgendwie trotzdem bescheiden war. Das fand ich sehr beeindruckend. David Muschke ist mir auch in Erinnerung geblieben.[16] Er ist ein Mathematiklehrer. Und als ich ihn 2017 getroffen habe, unterrichtete er als Referendar an einer sogenannten Brennpunktschule in Berlin-Kreuzberg. Er hat mich in seinen Unterricht eingeladen und das fand ich mutig, dass er mich da zuschauen lässt. Er hat unglaublich engagiert unterrichtet. Das war übrigens ein Interviewpartner, den ein Mathematikprofessor der FU vermittelt hat. Muschke hatte bei ihm studiert und war offenbar sehr begabt, so dass der Professor ihn gerne bei einer wissenschaftlichen Karriere unterstützt hätte. Muschke ist aber begeisterter Pädagoge und hatte sich deshalb dagegen entschieden. Und dann muss ich noch Martin Hikel, den Bezirksbürgermeister von Neukölln erwähnen.[17] Der hat mich auch beeindruckt, und zwar, weil ich ihn als Politiker äußerst authentisch fand. Er hat keine Floskeln von sich gegeben und er war sehr glaubwürdig. Ich habe mit ihm über alle möglichen Themen wie Schulabbrecher*innen in Neukölln und das, was man landläufig Clankriminalität nennt, gesprochen und er hat alle Fragen sehr offen und sehr glaubwürdig beantwortet.“

 

 

[1] Das Interview gibt es zum Nachlesen in den DMV Mitteilungen: Kristina Vaillant. Mathe studiert – und dann? Kristina Vaillant im Gespräch mit Ralf Seppelt. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 24 (2), 2016, pp. 72-74.

[2] Kristina Vaillant. Mathe studiert – und dann? Kristina Vaillant im Gespräch mit Nicola Botta. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 26 (4), 2019, pp. 201-203.

[3] Kristina Vaillant. Mathe studiert – und dann? Kristina Vaillant im Gespräch mit Birgit Heydenreich. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 21 (4), 2013, pp. 198-199-

[4] Kristina Vaillant. Mathe studiert – und dann? Kristina Vaillant im Gespräch mit Benjamin Staude. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 29 (3), 2021, pp. 137-141.

[5] Kristina Vaillant. Mathe studiert – und dann? Kristina Vaillant im Gespräch mit Alexander Eck. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 22 (1), 2014, pp. 6-7.

[6] Kristina Vaillant. Mathe studiert – und dann? Kristina Vaillant im Gespräch mit Jens Hillmann. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 22 (3), 2014, pp. 138-139.

[7] Kristina Vaillant. Mathe studiert – und dann? Kristina Vaillant im Gespräch mit Ralf Swanje Gährs. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 30 (1), 2022, pp. 59-61.

[8] Kristina Vaillant. Mathe studiert – und dann? Kristina Vaillant im Gespräch mit Andrea Nestler. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 29 (1), 2021, pp. 36-39.

[9] Ibid.

[10] Kristina Vaillant. Mathe studiert – und dann? Kristina Vaillant im Gespräch mit Ralf Swanje Gährs. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 30 (1), 2022, 59-61.

[11] Timo de Wolff. Existiert überhaupt eine Methode, die das bewirkt, was man erreichen möchte? Alexandra Carpentier im Gespräch mit Timo de Wolff. Kristina Vaillant. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 28 (4), 2021, pp. 220-225.

[12] Kristina Vaillant. Mathe studiert – und dann? Kristina Vaillant im Gespräch mit Ranem Almasri. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 25 (1), 2017, pp. 14-16.

[13] Kristina Vaillant. Mathe studiert – und dann? Kristina Vaillant im Gespräch mit Julia Ehrt. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 28 (1), 2020, pp. 44-47.

[14] International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, and Intersex Association.

[15] Kristina Vaillant. Mathe studiert – und dann? Kristina Vaillant im Gespräch mit Sofya Spiridonova. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 27 (1), 2019, pp. 22-25.

[16] Kristina Vaillant. Mathe studiert – und dann? Kristina Vaillant im Gespräch mit Daniel Muschke. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 25 (2), 2017, pp. 66-70.

[17] Kristina Vaillant. Mathe studiert – und dann? Kristina Vaillant im Gespräch mit Martin Hikel. Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, 26 (2-3), 2018, pp. 72-75.