Der Mathematikdidaktiker Wilfried Herget bereichert seit 20 Jahren die beliebte Mathematik-Lehrerzeitschrift „mathematik lehren" des Friedrich Verlags mit der Rubrik „Die etwas andere Aufgabe" – ein treffender Anlass nun für die Auszeichnung als Mathemacher des Monats. Auch das Buch „Die etwas andere Aufgabe" mit interessanten und „frag-würdigen" Ausschnitten aus der Zeitung regte viele Mathematiklehrer*innen an, nach mathematischen Aufgaben in ihrem Umfeld, in der Zeitung, in der Umwelt zu suchen und sie für den Unterricht zu nutzen. Wilfried Herget ist seit 20 Jahren Mit-Herausgeber der Zeitschrift „mathematik lehren". Nach dem Mathematik-Diplom 1971 und der Promotion 1975 an der TU Braunschweig wandte er sich der Mathematikdidaktik zu und arbeitete viele Jahre an der TU Clausthal – einschließlich Unterricht am Gymnasium. Nach der Habilitation an der U Hildesheim folgten Professuren an der U Bielefeld und schließlich ab 1997 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Stephanie Schiemann vom Netzwerkbüro sprach mit ihm.

Mathemacher Dez 2014 Herget

(Foto: Ernst Schwarzer)

Wie kamen Sie vor 20 Jahren darauf, „Die etwas andere Aufgabe" zu entwickeln, und was verbirgt sich dahinter?

Mir ging es damals um einen gelegentlichen „Ausstieg" aus dem alltäglichen Schulbuch-Aufgaben-Ritual – Lernen ist ein emotionaler Vorgang. Es ging mir aber auch um die Veränderungen angesichts zunehmend leistungsfähiger Hardware und Software. Damals, vor 20 Jahren, schrieb ich:

Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, daß unsere Gymnasiasten bereits in wenigen Jahren über erschwingliche, aber leistungsfähige Taschencomputer verfügen. Vereinfachen komplizierter Terme, Differenzieren, Integrieren, Kurvenzeichnen, Lösen von Gleichungen und Gleichungssystemen und vieles mehr werden damit zu Aufgaben, die grundsätzlich nicht schwerer sind als etwa "Berechne (0,98765)4,321 " oder "Berechne cos2(-0,123)".

Was ändert sich dadurch im Mathematikunterricht? Erfordert dies nicht eine entsprechende Verschiebung der Schwerpunkte im Unterricht, weniger Einüben von Rechentechniken, sondern stärkeres Betonen eher schöpferischer, beschreibender, begründender und beurteilender Fähigkeiten?

Dafür bedarf es eben auch „etwas anderer Aufgaben" im Mathematikunterricht, und die vertrauten Rechen-Rezept-Aufgaben können dann auf die – weiterhin notwendigen! – Grundfertigkeiten hin ausgerichtet werden.

Viele Jahre sind vergangen. Was waren die Highlights der „Etwas anderen Aufgabe"?

Toll finde ich, wie viele Kolleginnen und Kollegen mir ihre Anregungen zusenden. Viele greifen dabei die Idee „Mathematik aus der Zeitung" auf. Doch es gibt auch viele andere „etwas andere" Aufgaben, die sich für einen interessanten, gehaltvollen Unterricht eignen. Ein Beispiel, das mir Hans-Karl Eder schickte:

Zeichne auf ein leeres, unliniertes Blatt Papier irgendeine Gerade.
Nun kommt es: Die Gerade soll die Gleichung f(x) = 2x + 3 besitzen.
Zeichne dazu ein passendes Koordinatensystem mit gleich skalierten Achsen.

Dies ist eine typisch „umgekehrte" Aufgabe: Das, was üblicherweise zu zeichnen (oder zu berechnen) ist, ist hier gegeben – dagegen wird das gesucht, was sonst üblicherweise vorgegeben ist. Diese Aufgabe ist für alle ausgesprochen verblüffend – und durchaus anspruchsvoll, selbst wenn alle „Werkzeuge" zum Zeichnen von Graphen zu linearen Funktionen längst gut bekannt sind. Das Schöne: Es gibt sehr verschiedene Ansätze, um hier zu einer Lösung zu kommen (Herget/Strick 2012, S. 47).

Sie haben bei „Mathematik anders machen" im Duo mit der Lehrerin Ines Petzschler Fortbildungsangebote gemacht. Auch das war ein Hit, der oft abgerufen wurde. Worum ging es da? Wo kann man das nachlesen?

Wir bieten über das DZLM praxisorientierte Fortbildungen an, die auch von einzelnen Schulen gebucht werden können, zu Themen wie „Etwas andere Aufgaben", „Funktionen haben viele Gesichter", „Stochastisches Denken", „Geometrie zum Anfassen", „Neues im Mathematikunterricht". Die Teilnehmenden haben dabei die Chance, ihre eigenen Erfahrungen als Lehrkraft im Unterricht zu reflektieren, neue Ideen aus der Praxis für die Praxis kennenzulernen, diese selbst zu „durchleben" und zu diskutieren und die so gewonnenen Möglichkeiten für einen lebendigen und gehaltvollen Mathematikunterricht zu nutzen.

... sie „natürlich" ist – es gibt sie, sie ist überall, faszinierend, schön, vielseitig, hilfreich, nützlich. Aber man kann sie auch manipulativ missbrauchen. Wilfried Herget


Auch andere Veränderungen im Mathematikunterricht haben Sie vorangetrieben. Was war Ihnen früher und was ist Ihnen jetzt an der Entwicklung des Mathematikunterrichts besonders wichtig?

Mir geht es gar nicht vordergründig darum, etwas zu „verändern" – ich unterrichte einfach gern! Und ich frage mich dabei immer, wie ich meine Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten, Kolleginnen und Kollegen jetzt in der jeweiligen Situation wohl erreichen könnte. Anfangs ging es mir vor allem darum, den Mathematikunterricht „frischer" und anwendungsorientierter zu gestalten – heute dagegen ist mir viel stärker bewusst, wie sehr das Gelingen des Unterrichtens davon abhängt, wie ich die Beziehung zwischen den Lernenden und mir und die Beziehung zum Fach gestalte. Und wie wichtig es ist, regelmäßig die Grundkenntnisse wachzuhalten.

Wenn Sie 50 Jahre zurückblicken (1965 war Ihr Abitur), was meinen Sie: Wie würden Sie den Unterricht damals und heute vergleichen? Welche generellen Unterschiede gibt es?

Zumindest der Unterricht in der Grundschule sieht heute meist deutlich anders aus als damals – lebendiger, kindgerechter, lernfreundlicher. Auch für die Sekundarstufen gibt es begrüßenswerte Ansätze, den fragend-entwickelnden Frontalunterricht Schritt für Schritt zu öffnen. Und natürlich sind die jungen Leute heute anders als damals ... aber sind die Unterschiede wirklich so grundlegend? In meiner Erinnerung waren wir damals neugierig, flippig, etwas faul, auch etwas fleißig ... und fanden unsere Lehrerinnen und Lehrer sowohl interessant als auch manchmal etwas schrullig – ich glaube, das dürfte auch heute so sein.

Was sollten wir jetzt in den Schulen angehen, um den Mathematikunterricht zeitgemäßer zu gestalten? Hätten Sie eine Empfehlung?

Lernen ist ein emotionaler Vorgang. Das hängt bei mir über dem Schreibtisch. Die Erstklässler lieben noch die Zahlen – wie können wir erreichen, dass diese Freude erhalten bleibt und nicht in Angst vor Mathe umschlägt? Dafür müssen wir uns die Zeit nehmen. Wenn es uns gelingt, die Freude am Lernen und Lehren zu bewahren, dann dürfte das nachhaltiger wirken als so manche Reform, davon bin ich überzeugt. Die Mathematik-Adventskalender von der DMV und dem Forschungszentrum MATHEON sind da ein gelungenes Beispiel. Hier können alle Spaß und Freude am Tüfteln mit Mathe haben – Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer und auch die Eltern.

Abschließend möchte ich Sie noch etwas Persönliches fragen: Wie kamen Sie zur Mathematik, zum Mathematikunterricht und zur Didaktik der Mathematik?

Als ich etwa 9 Jahre alt war, musste ich die Buchhaltung für die kleine Schneiderei meines Vaters übernehmen. Ich lernte, lange Zahlenkolonnen zu addieren, Fehler zu entdecken, Zusammenhänge zu verstehen ... und: Meine Fähigkeiten waren nützlich für andere! Mit 16 kam ich als Beifahrer zu Auto-Orientierungsfahrten – Fahrtzeiten rechnen, Strecken austüfteln, nach Landkarte orientieren, das war mein Ding – und konnte schließlich damit mein Studium finanzieren: als erfolgreicher Rallye-Beifahrer, der auch Reportagen schrieb und Lehrgänge durchführte. Beim Mathematik-Studium an der TU Braunschweig erlebte ich faszinierende Lehrer, die mich über die Promotion hinaus prägten: Hans-Joachim Kowalsky, Bernhard Hornfeck, Hans-Heinrich Kairies. Und Horst Hischer war es, der mich zum Unterrichten an die Gaußschule in Braunschweig lockte, weil damals Lehrermangel herrschte. Da sprang der Funke endgültig über!