Dr. Johann Sjuts ist Oberstudiendirektor und Leiter des Studienseminars Leer für das Lehramt an Gymnasien. Zugleich ist er in der Schule - am Ubbo-Emmius-Gymnasium in Leer - tätig, und parallel arbeitet er als Professor für Mathematikdidaktik am Institut für Kognitive Mathematik der Universität Osnabrück. Seit Jahrzehnten fördert er Schülerinnen und Schüler in Mathematik-Arbeitsgemeinschaften, bereitet sie auf Wettbewerbe vor und initiiert eigene Wettbewerbe. Stephanie Schiemann vom DMV-Netzwerkbüro Schule-Hochschule sprach mit ihm.

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(Foto: privat)

Sie sind Seminarleiter, Lehrer in der Schule und Mathematikdidaktiker in der Universität. Das hört sich sehr umfänglich an. Wo liegt Ihr Schwerpunkt?
Hauptamtlich bin ich Seminarleiter. Mein beruflicher Werdegang ist allerdings in erster Linie durch das Studium in Mathematik und Physik, durch die langjährige Unterrichtstätigkeit in diesen Fächern sowie durch Forschung und Lehre in Mathematikdidaktik geprägt. Den Reiz, die Kraft und die Bedeutung des mathematischen Denkens zu vermitteln, ist stets mein Anliegen in verschiedenen Aktivitäten gewesen.
In der Wissensgesellschaft hat Mathematik einen hohen Rang. Folglich gilt: Mathematik muss man verstehen, über das Instrumentarium des mathematischen Denkens muss man verfügen. Dabei ist mathematisches Denken allen zuzutrauen und ebenso zuzumuten. Die Devise lautet: Bewältigung statt Vermeidung. Gelingt es nämlich, Mathematik als herausfordernd und anspruchsvoll zu erleben, wird sie auf ganz eigene Weise gesellschaftsfähig.

Soweit ich weiß ist der monatliche Schülerwettbewerb „MATHEMATISCHE PROBLEME" vor 30 Jahren von Ihnen ins Leben gerufen worden. Was hat es damit auf sich?
Ganz wichtig ist: Spitzenförderung setzt Breitenförderung voraus. Neben dem Mathematikunterricht sollte es auch für alle eine Ergänzung durch Wettbewerbe geben. Mathematische Probleme wecken Interesse durch ihren Anspruch. Es ist folglich zu beachten, dass sie fachlich substantiell sind und ausgewiesene Denkleistungen erfordern.
Obwohl alles auf Freiwilligkeit beruht, ist die Teilnahme überaus erfreulich. Mittlerweile sind fast 1.000 mathematische Probleme gestellt und insgesamt weit mehr als 10.000 Lösungen abgegeben worden. Dabei haben mehrere tausend Schülerinnen und Schüler teilgenommen. Und der Elternverein der Schule hat für besondere Erfolge bislang mehr als 400 Buchprämien vergeben.

Nennen Sie doch bitte Ihre Lieblingsaufgabe aus all den Jahren.
Das fällt mir sehr schwer. Ein aufschlussreiches Beispiel ist vielleicht die Aufgabe „Wanne": Man braucht zwei Minuten, um eine Wanne zu füllen, und drei Minuten, um sie zu leeren. Wie lange dauert es, die Wanne zu füllen, wenn der Stöpsel herausgezogen ist?
Hier kann es recht verschiedenartige Lösungen geben:

Mathemacher Sujets loesung1

Mathemacher Sujets loesung2

Neben der Breitenförderung engagieren Sie sich auch für die Spitzengruppe. Wie sieht Ihre Förderung hier aus?
Seit 1995 leite ich an der Schule die Mathematik-Olympiade-Arbeitsgemeinschaft. Sie richtet sich an interessierte und talentierte Schülerinnen und Schüler. Im Mittelpunkt steht mathematisches Problemlösen. Eine Ergänzung bilden Schnupperstudien an verschiedenen Universitäten (Oldenburg, Osnabrück, Groningen). Später übernehmen einige dieser Schülerinnen und Schüler dann tutorielle Aufgaben in der Arbeitsgemeinschaft. Ein Nebeneffekt ist: Sie erwerben so selbst die Fähigkeit, Lernprozesse in Mathematik wirkungsvoll zu planen und zu gestalten.

Und wie ist dazu die Bilanz?
Seit 1996 sind beachtliche Erfolge bei der Mathematik-Olympiade zu verzeichnen. 14-mal waren Schülerinnen und Schüler an der Bundesrunde beteiligt. Seit 2002 richtet die Universität Göttingen die Landesrunde der Mathematik-Olympiade für ganz Niedersachsen aus. Für die Zeit von 2002 bis 2013 gilt: Jedes Jahr war das Ubbo-Emmius-Gymnasium nennenswert beteiligt. Es kann 68 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit insgesamt 25 Preisen vorweisen. Und im Jahr 2011 hat das Team vom Ubbo-Emmius-Gymnasium Leer bei der Mathematik-Olympiade den Niedersachsen-Pokal als Auszeichnung für die beste Schule des Landes erhalten.

Im Jahr der Mathematik haben Sie mit Ihren „Kopfnüssen" in der Ostfriesen-Zeitung „Mathematik für alle" angeboten. Können Sie uns beispielhaft eine Kopfnuss nennen?
Es galt, in einer zehnteiligen Serie drei mathematische Probleme pro Folge zu lösen und einzuschicken. Die interessantesten und originellsten Lösungen wurden veröffentlicht und prämiert.
Ein Beispiel: Nora und Susanne laufen beim Training mehrere Runden um einen See herum. Nora läuft rechts herum, Susanne links herum. Nora benötigt für eine Runde 40 Sekunden. Susanne begegnet ihr alle 15 Sekunden. Wie lange benötigt Susanne für eine Runde?
Lösungsvariante I von Herrn K. (67): „Bei der ersten Begegnung der beiden Läuferinnen, nach 15 Sekunden, hatte Nora genau 15/40 gleich 3/8 einer Runde zurückgelegt. Da also Nora 3/8 der Runde hinter sich hatte, musste Susanne schon 5/8 der ersten Runde gelaufen sein. Wenn Susanne also 5/8 in 15 Sekunden schafft, braucht sie für 1/8 der Runde 3 Sekunden und somit für die ganze Runde 24 Sekunden."
Lösungsvariante II von Frau G. (42): „In 60 Sekunden ist Nora 1,5 Mal um den See herumgelaufen. Sie trifft Susanne dort zum 4. Mal (60 : 15 = 4). Die Strecke des Umlaufs ist also insgesamt 4 Mal abgelaufen worden, wenn man die Läuferinnen nicht getrennt, sondern als Team betrachtet. Sie hatten z.B. den Auftrag: Umrundet den See genau 4 Mal, teilt euch die Arbeit. Noras Anteil an der Teamarbeit ist 1,5. Dann ist Susannes Anteil an der Teamarbeit 4 - 1,5 = 2,5. Sie hat 2,5 Runden in 60 Sekunden geschafft, d.h. sie braucht für eine Runde 60 : 2,5 = 24 Sekunden."
„Der See ist ein Teich", stellte Herr B. (44) fest und folgerte: „Als Training ist diese Runde also nur begrenzt zu empfehlen."

... Mathematik ein universelles geistiges Werkzeug ist. Dr. Johann Sjuts


Wie wurde die Aktion in der Leserschaft angenommen?

Die ausführliche Dokumentation in der Zeitung verdeutlichte, dass mathematische Probleme mit hohem Aufforderungscharakter Menschen aller Altersgruppen und jedweden Bildungshintergrunds in einen lebhaften Austausch über mathematische Ideen zur Lösung der gestellten Probleme gebracht haben. Der Ort des Projekts war beinahe überall, insbesondere dort, wo Bleistift und Papier schnell zur Hand waren. Aus der Aktion entstanden in der Folge Sonderausstellungen. Für die Öffentlichkeit konnte auf diese Weise zum Ausdruck gebracht werden, welchen Anklang die Kopfnüsse gefunden hatten, mit welcher Begeisterung und mit welchem Können Personen aus allen Bereichen sich mit den gestellten Mathematik-Aufgaben beschäftigt und das befriedigende Gefühl von Erfolg im mathematischen Denken erlebt hatten.

Sie sind in der Mathematikdidaktik präsent mit Veröffentlichungen und Vorträgen. Was steht im Zentrum?
Schwerpunkte sind mathematisches Denken, der Einfluss von Metakognition auf den Erfolg beim Mathematiklernen und die Diagnostik im Mathematikunterricht durch die besondere Berücksichtigung mathematischer Denk- und Verstehensprozesse. Und hier besteht eine enge Verbindung zu den schulischen Aktivitäten. Denn die im schulischen Kontext erbrachten Problemlöseleistungen von Kindern und Jugendlichen sind vielfach zum Gegenstand mathematikdidaktischer Forschung geworden.

Was bedeutet dabei Kognitive Mathematik?
Das Institut für Kognitive Mathematik der Universität Osnabrück erforscht Prozesse des mathematischen Denkens und entwickelt daraus Unterrichtskonzepte. Insbesondere geht es um Fragen zur Darstellung und zur Vorstellung: Wie schreibt man etwas auf? Wie legt man sich etwas im Kopf zurecht?
Die beiden Lösungswege zur Aufgabe „Wanne" zeigen: Bevor jemand überhaupt zu einer solchen Bearbeitung gelangt, muss er sich eine Vorstellung von der Situation machen, ganz sicher die, dass die Wanne sich tatsächlich füllt. Die Prozesshaftigkeit gegenläufiger Vorgänge ist eine Barriere. Sie zu überwinden, kann wohl nur gelingen, wenn der Mathematikunterricht verschiedenen kognitiven Gegebenheiten Entfaltungsraum gegeben hat. Bei dieser Aufgabe lassen sich die mit kognitiven Verschiedenheiten verbundenen Lösungsvarianten unterscheiden. Eine Sicht verfolgt den Vorgang im Laufe der Zeit, in welchem Maße der Wasserstand in der Wanne also nach und nach steigt. Eine andere Sicht bezieht sich auf Resultate des mehrmaligen Vollseins und Leerseins, um auf diese Weise eine Lösung zu ermitteln.

Sie sagen, Mathematik ist ein universelles geistiges Werkzeug. Können Sie das knapp umreißen?
Von grundlegender Bedeutung ist der Sprach- und Werkzeugcharakter von Mathematik. Universell ist die Formalisierung von Wissen, also der Wechsel in einen Modus, der sich durch die Nutzung leistungsfähiger Verfahren wie symbolischer Darstellung und symbolischer Handhabung auszeichnet. Formalisierung von Wissen entlastet und ermöglicht die Bewältigung kognitiver Komplexität. Dies kann als unabdingbar für eine moderne Wissensgesellschaft angesehen werden. Und damit sind Mathematik und mathematisches Denken essentieller Bestandteil von Bildung, von Persönlichkeitsbildung.

Lieber Herr Sjuts, wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg. Herzlichen Dank für das Gespräch!

Falls Sie Kontakt mit Herrn Sjuts aufnehmen wollen, hier seine E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!