Albrecht Beutelspacher ist seit 1988 Professor für Geometrie und Diskrete Mathematik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Darüber hinaus präsentiert er sein Fach gerne auch der breiten Öffentlichkeit – mit Vorträgen, Veranstaltungen und – seit 2002 - im Mathematikum, welches jetzt sein 10jähriges feiert. Für seine Aktivitäten auf dem Gebiet der Wissenschaftskommunikation bekam er zahlreiche Preise, darunter den ersten Communicatorpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft im Jahr 2000. Albrecht Beutelspacher ist auch Autor – von Fachliteratur ebenso wie von populärwissenschaftlichen Büchern zur Mathematik. Thomas Vogt sprach mit ihm.

albrecht beutelspacher FOTO Mathematikum Giessen

(Foto: mathematikum.de)

Lieber Herr Beutelspacher, wie hat damals mit dem Mathematikum alles angefangen?

Angefangen hat alles ganz bescheiden. Für das Sommersemester 1993 kündigte ich ein Proseminar mit dem Titel „Geometrische Modelle“ für Lehramtsstudierende an. Die Aufgaben für die Studierenden waren – scheinbar – ganz einfach: Jede(r) musste erstens ein Modell real herstellen und zweitens die „darin steckende Mathematik“ erklären. Nach einigen Anfangsirritationen wurden Objekte und Beschreibungen so schön, dass ich anregte, daraus eine kleine Ausstellung zu machen. Die fand dann im Frühjahr 1994 statt. Und dann ging es los: „Irgendwie“ hatten Kollegen davon gehört und wollten diese Ausstellung bei sich zeigen. So wurde sie zu einer Wanderausstellung. Und bald war klar: Diese Ausstellung funktioniert überall: in Grundschulen und Gymnasien, in Museen und Einkaufszentren, in großen und in kleinen Städten. Irgendwann war der verführerische Gedanke unabweisbar: Das könnte auch auf Dauer funktionieren. Die Idee eines „Mathematikmuseums“ war geboren.

Was waren damals Ihre Vorstellungen von einem Mathematikmuseum?

Ich hatte nie geplant, ein „Mathematikum“ zu gründen. Aber die Idee eines „Mathematikmuseums“ war so überzeugend, dass nicht nur ich diese Idee voll und ganz vertrat, sondern dass auch viele Mitstreiter mitmachten. Irgendwann war es dann auch so weit, dass die Stadt Gießen und das Land Hessen dasselbe wollten. (lacht) Und so erhielten wir von der Stadt Gießen ein wunderbares Gebäude direkt am Bahnhof und vom Land Hessen eine Anschubfinanzierung.

Das müssen Sie uns noch genauer erklären: Mit welchen Mitteln wurde das Mathematikum anfangs ausgestattet und wie finanziert es sich heute?

Der Umbau des Gebäudes und die Ersteinrichtung - ca. 4 Millionen Euro - wurden zur Hälfte mit Mitteln des Landes und der EU bezahlt; etwa ein Viertel der Kosten wurde durch Sponsoren und private Spender finanziert, und das letzte Viertel wurde über einen Kredit aufgebracht. Der laufende Betrieb finanzierte sich von Anfang an selbst. Zu den laufenden Kosten wurde ich in den Vorgesprächen bei der Stadt und in den Ministerien regelmäßig befragt. Ich habe dann immer geschworen - und manchmal auch geglaubt -, dass wir einen ausgeglichenen Haushalt schaffen werden. (lacht)

Was waren die ersten Exponate?

Schon die erste Ausstellung 1994 enthielt Highlights wie das Penrose-Puzzle, das Möbiusband, aber auch scheinbar kleine Exponate wie „Tetraeder im Würfel“, die sich als identitätsstiftende Exponate erwiesen haben. Dass daraus ein Haus mit 150.000 jährlichen Besuchern und großem nationalen und internationalem Renommee entstehen würde, war damit allerdings noch nicht klar.

Wie und woran haben Sie gemerkt, dass aus dieser Idee etwas werden könnte?

Das Erstaunlichste war, dass ich offene Türen eingerannt habe. Ich habe Politiker, Menschen aus der Wirtschaft und Journalisten angesprochen, und jeder hat die Idee begrüßt und spontan – ideelle – Unterstützung zugesagt. Die einzigen, die zunächst skeptisch waren, waren einige Fachkollegen. Der Durchbruch kam dann mit unserer Mathe-Ausstellung auf dem ICM 1998 in Berlin. Unsere Ausstellung, die wir in der Urania zeigten, wurde in den acht Öffnungstagen von mehr als 10.000 Besuchern gestürmt, und zwar von den Berliner Grundschulkindern bis zu den Fieldsmedaillisten. Alle waren begeistert. Und spätestens da wusste ich: Du bist auf dem richtigen Weg!

Wer sind heute die Hauptzielgruppen und Besucher des Mathematikums?

Wie jedes Science Center haben wir zwei Hauptzielgruppen: Einerseits die Schulklassen (von der KiTa bis zum Abitur), die uns von Montag bis Freitag besuchen, und andererseits die Familien, die das Mathematikum am Wochenende und in den Ferien bevölkern.

Inzwischen versuchen wir auch zunehmend, Erwachsene zu erreichen, und entwickeln eigens für diese Formate. Neben Klassikern, wie Vorträgen oder „Beutelspachers Sofa“, sind das vor allem „after-work-events“ wie „Kunstgenuss nach Feierabend“ oder die „Lange Nacht der Mathematik“.

Was war oder ist die Idee hinter Beutelspachers Sofa?

Die Idee zu Beutelspachers Sofa war einfach: Wir wollten die Menschen vorstellen, die Mathematik machen. Noch besser: Diese Menschen sollten sich selbst vorstellen. Durch einige wenige Fragen und gelegentliches Nachfragen gebe ich ihnen dazu Gelegenheit – eine Idee, die ebenso wie die des Mathematikums auch, im Grunde sehr naheliegend war. Man musste den Gedanken nur festhalten, konkretisieren und dann sinnvoll umsetzen.

Wann kamen die ersten Sonderausstellungen und welche?

Zum einen hat sich das Mathematikum über die Jahre quantitativ entwickelt: Im Jahre 2002 starteten wir mit 50 Experimenten; jetzt sind es über 150. Zum anderen kamen viele temporäre Ausstellungen hinzu. Die erste war eine Kunstausstellung: Heute gibt es in jedem Herbst eine große populäre Kunstausstellung und im Frühjahr hat sich eine Ausstellungsreihe mit moderner mathematischer Kunst etabliert. Und: Seit einer Reihe von Jahren zeigen wir im Sommer und im Winter Ausstellungen mit interaktiven Experimenten. Diese werden in der Regel von den Volontärinnen und Volontären des Mathematikums entwickelt und beschränken sich thematisch nicht auf Mathematik. So haben wir neben einer Ausstellung zum Thema „Zufall“ auch Ausstellungen zu „Optische Täuschungen“, „Knobelspiele“, „Natur“, „Sprache“ und „Philosophie“ gezeigt.

Welche Arten von Road-Shows haben Sie? Welches sind die erfolgreichsten Formate?

Das Mathematikum ist aus einer Wanderausstellung mit dem Titel „Mathematik zum Anfassen“ heraus entstanden, und diese gibt es – natürlich in verbesserter Form – immer noch. Nachdem diese Ausstellung viele Jahre lang durch deutsche Schulen reiste, wird sie nun – vor allem durch Vermittlung des Goethe-Instituts – auch international gezeigt.

Ein zweites, sehr erfolgreiches Format ist die „Straße der Experimente“. Das ist ein Wissenschaftsvolksfest, das wir jeweils zusammen mit der Stadt Gießen an einem Sonntag im Mai organisieren. Hier ist jeder aufgerufen, den Tag über Experimente für das Publikum zu zeigen: Institute der Universität und der Fachhochschule, Schulklassen, Firmen und Handwerksbetriebe, Vereine und Behörden, Institutionen vom Theater bis zur Polizei, sowie Privatpersonen. Für die Experimentatoren stehen etwa 40 Zelte zur Verfügung, in denen sie ihre Versuche zeigen. Ein Event, das inzwischen Kult ist und das regelmäßig über 10.000 Menschen anzieht.

Was lieben die Besucher*innen am meisten am Mathematikum?

Zum einen hat jeder Besucher ein Lieblingsexperiment. Bei vielen ist das die Riesenseifenhaut. Aber auch die große Kugelbahn oder die Leonardobrücke werden immer wieder genannt. Manche lieben aber auch Experimente, in die man sich vertiefen kann und muss, so wie die Würfelschlange, oder die „Eins“ – ein Schattenexperiment, das ein ausgesprochener Geheimtipp ist.

Zum zweiten wird von unseren Besuchern immer wieder die großzügige Raumgestaltung positiv wahrgenommen. Hierzu gehört auch das klare ästhetische Konzept, das zum Wohlbefinden der Besucher beiträgt. Nicht zuletzt tragen zur guten Stimmung der Besucher auch die vielen freundlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei.

Wer sind bisher die prominentesten Fans des Mathematikums?

Schon bei den ersten Anfängen hat uns Friedrich Hirzebruch mit deutlichen Worten unterstützt. Bei der Eröffnung hat der damalige Bundespräsident Johannes Rau eine wunderbare Rede gehalten, an deren Ende er sagte: „Mathematik kann Spaß machen – das habe ich hier im Mathematikum erfahren“. Schon bald besuchte uns Artur Fischer, der Erfinder des Fischer-Dübels und der Fischer-Technik; er schrieb in unser Gästebuch: „Das war eine Sternstunde.“

Aber auch Fachwissenschafter von Aigner bis Ziegler, Didaktiker von Barzel bis Weigand, sowie Journalisten – etwa Gero von Randow –, Lehrerinnen und Lehrer und Rechenkünstler waren unsere Gäste sowie Wissenschaftler, die sich „von außen“ mit Mathematik beschäftigen, wie Elsbeth Stern (Psychologie), Karin Landerl (Dyskalkulie) und Andreas Nieder (Zahlenverständnis bei Tieren).

Wie wird das Mathematikum in Hessen, in Deutschland, in Europa wahrgenommen?

Das Mathematikum hat sich etabliert als ein Referenzort für die Vermittlung von Wissenschaft, insbesondere der Mathematik, durch interaktive Exponate. Ich bin überzeugt, dass das Standing, das das Mathematikum genießt, auf zwei expliziten Maximen basiert:

1. Wir nehmen die Wissenschaft ernst. Das heißt insbesondere, dass hinter jedem Exponat ein konkretisierbares mathematisches Phänomen steht; und es bedeutet den Anspruch, grundsätzlich kein Gebiet der Mathematik auszuschließen.

2. Wir nehmen die Besucher ernst. Der Besucher wird nicht gegängelt, weder durch einen roten Faden noch durch Erwartungen im Sinne eines „heimlichen Curriculums“. Nein, der Besucher, die Besucherin, ist vollkommen autonom und beschäftigt sich mit den Experimenten seiner/ihrer Wahl so lange und so intensiv wie er oder sie das möchte. Das hat zur Konsequenz, dass die Besucher sich (a) mit Experimenten beschäftigen, (b) dass sie das lange tun und (c) dass sie wiederkommen.

Wie hat das Mathematikum gewirkt? Also auf die Science Center-Szene, die Wissenschaftskommunikation in Deutschland?

Das Mathematikum scheint durch seine schiere Existenz Träume zu beflügeln. Einerseits haben sich inzwischen etablierte Science Center, wie etwa das Dynamikum in Pirmasens, im Mathematikum Rat und Mut geholt.

Wir sind auch stolz darauf, dass sowohl in den Technischen Sammlungen Dresden als auch im Rami-Koc-Museum Istanbul Mathematik-Abteilungen eingerichtet wurden, deren Grundstock aus dem Mathematikum stammt.

Ich werde mindestens einmal pro Monat von Menschen besucht, die auch „so etwas“ gründen wollen. Diesen muss ich leider auch sagen, dass man für „so etwas“ über eine lange Zeit hinweg viel Arbeit investieren muss – und dass man immer auch ein bischen Glück braucht – was man bekanntlich nicht selbst steuern kann.

Wie haben Sie das Jubiläum gefeiert? Was sind Ihre Pläne für den Rest des Jahres 2012?

Wir feiern schon das ganze Jahr. Als erstes fand eine große Renovierung statt, bei der über 100 Dinge geändert wurden: Von neuen Exponaten über neue Beschriftungen bis hin zur Neugestaltung eines Raums. Jetzt zeigen wir die Ausstellung „Mathe macht lustig!“, in der 101 Karikaturen der besten deutschsprachigen Karikaturisten zum Thema Mathematik zum ersten Mal gezeigt werden. Und am 19. November, unserem eigentlichen Geburtstag, haben wir mit einer festlichen Veranstaltung unser Zehnjähriges gefeiert.

Wo sehen Sie das Mathematikum in 10 Jahren?

Das Mathematikum wird nach wie vor ein mathematisches science center sein. Es wird eine noch größere Rolle für die Stadt spielen: städtebaulich durch die Gestaltung des Außenbereichs aber auch als Identifizierungsmöglichkeit der Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Stadt. Das Mathematikum wird auch im Verbund der nationalen und internationalen science center für die Wissenschaftskommunikation eine wichtige Rolle übernehmen.

Lieber Herr Beutelspacher, vielen Dank für das Gespräch – und alles Gute für die nächsten 10 Jahre!