abenteuer Mathematik

Abenteuer Mathematik
Brücken zwischen Wirklichkeit und Fiktion

Pierre Basieux
Rowohlt Tb, 4., Aufl. (2. Januar 1999), 415 Seiten, 10,50 €

ISBN-10: 3499601788
ISBN-13: 978-3499601781

Die Mathematik hat in der Öffentlichkeit einen zwiespältigen Ruf. Sie gilt einerseits als unverständlich, abgehoben und rigoros bis zur Unerbittlichkeit, wird aber andererseits als Grundlage des technischen Fortschritts erkannt und ist für weite Teile des Publikums faszinierend. Pierre Basieux gelingt es, Facetten dieses Faszinosums in sieben Kapiteln auszubreiten. Diese sieben Kapitel, der Kern des Buchs, werden von einem Vor- und Nachspiel, gezählt als Kapitel -1 und Kapitel ∞, eingerahmt, in denen der Autor untersucht, inwiefern das Denkgebäude der Mathematik zur Erklärung der Wirklichkeit taugt.

Beschäftigen wir uns zuerst mit den Zweigen der Mathematik, die hier vorgestellt werden. Da geht es in Kapitel 1 um die Zahlentheorie, insbesondere die vielfältige Welt der Primzahlen, in der man häufig sehr einfache Fragen stellen kann, die bis heute ungelöst sind (etwa: Gibt es unendlich viele Primzahlzwillinge wie 17 und 19, 71 und 73, 101 und 103 etc.?) oder nur mit den raffiniertesten Methoden der modernen Mathematik zu beantworten sind (etwa das Fermatsche Problem). Dass dies nicht nur intellektuelle Spielereien sind, sondern Methoden der Zahlentheorie zu handfesten Anwendungen führen, ist ebenfalls Gegenstand dieses Kapitels. Das Paradebeispiel hierfür sind Verschlüsselungsverfahren, die es z.B. erlauben, an jedem Geldautomaten auf der Welt Geld abzuheben (die notwendige Kontodeckung einmal vorausgesetzt).

Kapitel 2 handelt von einem anderen Klassiker der mathematischen Begriffswelt, der Unendlichkeit und ihren Paradoxien, von denen viele dank einer präzisen Notation aufgelöst werden können (abzählbare Mengen, das „Hilbertsche Hotel”, das Zenonsche Paradoxon etc.). In Kapitel 3 kommt die moderne Algebra, genauer die Gruppentheorie, zur Sprache, insbesondere wie sie von Galois in einem Geniestreich ersonnen und verwandt wurde, um ein für alle Mal zu klären, welche Gleichungen durch eine Formel (technisch gesprochen durch „Radikale”) gelöst werden können. Natürlich gibt die Biographie Galois’ einiges her für einen solchen Abschnitt (er schrieb seine Ideen in der Nacht vor seinem tödlichen Duell nieder). Auch Kapitel 5 gehört in die reine Mathematik; das Thema ist die Topologie, die ebenfalls viele leicht zu formulierende (und zu glaubende) Aussagen kennt, deren rigorose Beweise jedoch nicht auf der Hand liegen, von der Eulerschen Polyederformel bis zur Poincaré-Vermutung.

Die übrigen drei Kapitel können zur angewandten Mathematik gezählt werden. Kapitel 4 beschäftigt sich mit dem Begriff der Wahrscheinlichkeit und schlägt die Brücke zu den Fraktalen und der wohl unvermeidlichen Chaostheorie. Kapitel 6 widmet sich einer mathematischen Aufgabe par excellence, der Optimierung. Hier finden sich nicht die altbekannten Extremwertaufgaben der Schulmathematik, sondern eine Fülle von in der diskreten Mathematik beheimateten Problemen wie das Problem des Handlungsreisenden. Die Überlegungen zur algorithmischen Komplexität der Lösungsverfahren münden im „P=NP”-Problem; dies ist eines der Millenniumsprobleme, für deren Lösung das Clay Mathematical Institute ein Preisgeld von je 1 Million US-Dollar ausgelobt hat. (Übrigens gehört auch die oben ausgesprochene Poincaré-Vermutung zu diesen Problemen. Dieses ist vor wenigen Jahren durch G. Perelman gelöst worden, eine Tatsache, die in weiteren Auflagen dieses 1999 erstmals erschienenen Titels erwähnt werden könnte.)

Schließlich gibt es noch ein Kapitel zur Spieltheorie. Der Name „Spieltheorie” ist genereller Usus, aber etwas irreführend, denn er unterschätzt die Anwendungsmöglichkeiten dieser Theorie, geht es doch hier um Entscheidungsprobleme bei „Spielen” wie der globalen Wirtschaft oder einem Atomkrieg und nicht nur um Schulhofspiele wie Schere-Stein-Papier.

All diese Kapitel sind kenntnisreich, flüssig und unterhaltsam geschrieben, und ein großer Leserkreis von Freunden der Mathematik wird sie mit Freude und Gewinn lesen. Dass der Autor einige mathematische Ideen nicht ganz zutreffend beschreibt (z.B. Seite 114, 183, 232), Einstein ein Newton-Zitat in den Mund legt (Seite 144) und E. Rubik, den Erfinder des „Zauberwürfels”, zu einem Physiker macht (Seite 164), sollte man als lässliche Sünden bewerten.

Aber der Autor will und leistet noch mehr. In den Rahmenkapiteln reflektiert er über das Verhältnis von Mathematik und Wirklichkeit. Sein zentraler Begriff, den er im Buch immer wieder verwendet, ist der Begriff Fiktion. Die Mathematik beschäftigt sich „mit nach gewissen Regeln erdachten Objekten, mit Fiktionen also” (Seite 14); wo man innermathematisch sonst vom Begriff der Gruppe, der Wahrscheinlichkeit etc. spricht, setzt der Autor „die Fiktion Gruppe”, „die Fiktion Wahrscheinlichkeit” etc. ein. Diese Fiktionen folgen „dem erweiterten gesunden Menschenverstand”, womit die klassische Aussagenlogik, die Grundlage aller mathematischen Beweise, gemeint ist. „Unsere auf Erfahrung beruhende Logik lässt sich auf unsere Fiktionen erweitern, ohne dass, umgekehrt, den Fiktionen real existierende, physische Objekte entsprechen müssten.” (Seite 94)

Dass diese Fiktionen doch so viel mit der Wirklichkeit zu tun haben, bleibt unbestreitbar; warum das so ist, letztendlich jedoch ein Rätsel, auch für den Autor. Er steht dem Slogan „Die Welt ist mathematisch” allerdings skeptisch gegenüber; für ihn ist Mathematik eine Sprache zur Beschreibung der Wirklichkeit, eine Sprache, die „anders, aber nicht glorreicher” (Seite 352) ist. Der Nutzen der Mathematik sei jedoch nicht von der Hand zu weisen, sei aber, wie bei anderen kulturellen Leistungen auch, nicht bezifferbar.

Fazit: ein gutes und lesenswertes Buch über die älteste Science Fiction der Menschheit, die Mathematik.

Rezension: Dirk Werner, FU Berlin