frenkel liebe und mathe

Liebe und Mathematik
Im Herzen einer verborgenen Wirklichkeit

Edward Frenkel, übersetzt von Thomas Filk
Verlag: Springer Spektrum; Auflage: 2014 (5. Dezember 2014), 24,99 €

ISBN-10: 3662434202
ISBN-13: 978-3662434208

Es folgen die Rezensionen von: Dirk Werner und Reinhard Winkler

Am 27. März 1987 reicht ein 18-jähriger Student im 3. Studienjahr einer zweitrangigen Moskauer Hochschule einen Artikel bei einer der renommiertesten mathematischen Zeitschriften der Sowjetunion ein. Das Thema des Aufsatzes ist „Kohomologie der Kommutatorgruppe der Zopfgruppe“; er enthält neue Resultate, die der Student ein Jahr zuvor erzielt hatte. Bei dem Studenten handelt es sich um Edward Frenkel, den Autor des faszinierenden Buches Liebe und Mathematik, heute ein weltbekannter Mathematiker. Es verflicht zwei Erzählstränge: Einerseits berichtet es über die ereignisreiche Biografie des Autors, andererseits setzt es sich zum Ziel, einige Facetten der sehr anspruchsvollen Mathematik, mit der er sich beschäftigt, einem allgemeinen Publikum zugänglich zu machen.

Was Ersteres angeht, beschreibt Frenkel zunächst das antisemitische Klima in der Sowjetunion, weswegen ihm trotz hervorragender Leistungen in den Aufnahmeprüfungen die Zulassung zur Moskauer Lomonossow-Universität verweigert wurde. Es gab jedoch auch Schlupflöcher wie das Institut für Gas und Petroleum, wo er immatrikuliert wurde; es gab ferner das Netz der Moskauer Mathematiker, die höchsttalentierte Youngster unter ihre Fittiche nahmen (in Frenkels Fall war es Dimitri Fuchs, der ihn in die Forschung einführte); und es gab das Gelfand-Seminar, jene unter Mathematikern legendäre Veranstaltung, die wöchentlich an der Lomonossow-Universität stattfand. Die Beschreibung dieser Szenerie gehört zu den eindringlichsten Stellen des Buchs.

Auch die weiteren Stationen Frenkels Biografie sind nicht ganz kanonisch. Noch vor Abschluss seines Diploms am Gas-und-Petroleum-Institut erhält er eine Einladung zu einem mehrmonatigen Aufenthalt an der Harvard- Universität, obwohl er sich nie um ein solches Stipendium beworben hatte. In den USA angekommen, entscheidet er sich, dort zu bleiben und zu promovieren; später erhält er Professorenstellen in Harvard und Berkeley, wo er noch heute arbeitet. Auch in den USA trifft er auf führende Mathematiker: Fieldsmedaillenträger und andere Berühmtheiten geben sich gewissermaßen die Klinke in die Hand: Drinfeld (sein de-facto-Doktorvater), Witten, Manin, Deligne, Chau etc. Von Gelfand und seinem Seminar war bereits die Rede; Frenkel ist einer der wenigen Autoren, die erfreulicherweise dessen „diktatorisches Verhalten“ und „Machtgehabe“ (Seite 60) explizit kritisieren.

Der zweite Strang des Buchs ist natürlich die Mathematik. Ausgehend von der Idee der Symmetrie erläutert Frenkel den Gruppenbegriff und erklärt, worum es 1987 bei den Zopfgruppen ging. Generell liegt sein Interesse an mathematischen Konstruktionen, die in die (zum Teil sehr) theoretische Physik hineinwirken; für Fachleute: Er ist einer der Hauptprotagonisten des Langlands-Programms, das überraschende Verbindungen zwischen scheinbar sehr disparaten mathematischen Teildisziplinen herstellt. Genauso faszinierend wie die biografischen Teile sind die mathematischen; die Fähigkeit des Autors, sehr komplizierte Sachverhalte zu veranschaulichen, ist auf jeder Seite spürbar. (Übrigens kann man sich auf YouTube ein Bild von seiner Vorlesungstätigkeit für Studienanfänger machen, die das gleichfalls belegt.) Zum Beispiel ist es ein Genuss nachzulesen, wie Frenkel Galois-Gruppen erklärt. Trotzdem ist es wohl richtig zu betonen, dass bei den Lesern eine relativ hohe mathematische Belastbarkeit vorauszusetzen ist, obwohl technisch aufwändigere Punkte, angefangen beim Assoziativgesetz bei Gruppen, in den Anhang delegiert sind.

Warum heißt das Buch nun Liebe und Mathematik? Das kommt im letzten der 18 Kapitel zur Sprache. Frenkel ist nicht nur Mathematiker, sondern auch Filmemacher, und Kapitel 18 berichtet von seinem leicht skandalträchtigen Kurzfilm Rites of Love and Math, über den Thomas Vogt eine Rezension in den DMV-Mitteilungen geschrieben hat.

Auch mich hat dieser Teil nicht überzeugt. Den ersten 17 Kapiteln wünsche ich jedoch die Aufmerksamkeit vieler mathematisch interessierter Leserinnen und Leser.

Rezension: Dirk Werner (FU Berlin)



An Buchneuerscheinungen mit der an Laien gerichteten Kernbotschaft „Mathematik ist gar nicht so langweilig, wie du glaubst“ gibt es seit einigen Jahren keinen Mangel mehr. Trotzdem verdient Edward Frenkels Buch besondere Beachtung.

Denn hier geht ein Weltklassemathematiker mit dem Anliegen der Popularisierung seiner Wissenschaft aufs Ganze. Ohne höhere mathematische Vorbildung vorauszusetzen, nimmt er seine Leserinnen und Leser dennoch intellektuell für voll und fordert sie entsprechend. Trotz Vermeidung technischer Details begnügt er sich weder mit Gemeinplätzen von der praktischen Bedeutung der Mathematik für den Alltag in unserer modernen hochtechnisierten Welt, noch versucht er, gelangweilte Freizeitdenksportler mit kurzweiligen geistigen Turnübungen zu unterhalten. Frenkels Hauptanliegen besteht in nichts Geringerem als in der Erläuterung des nach dem aus Kanada stammenden Mathematiker Robert Langlands benannten Langlands-Programms, einem der großen kollektiven Projekte der zeitgenössischen Mathematik, im Rahmen dessen sich auch der berühmte Beweis von Fermats letztem Satz durch Andrew Wiles und Richard Taylor vor etwa 20 Jahren einordnen lässt.

Frenkel verwendet das Langlands-Programm exemplarisch, um einen Einblick in die moderne Mathematik zu geben und den Leser davon zu überzeugen, dass es tatsächlich um Originalität, Vorstellungskraft, Phantasie und wegweisende Einsichten geht. Frenkel betont das Anliegen der Mathematik, Übersetzungen zwischen verschiedenen Teilgebieten und ihren jeweiligen Terminologien und Intuitionen zu finden und daraus neue Einsichten zu gewinnen. Er zieht den Vergleich mit dem Stein von Rosette, der bei der Entzifferung der altägyptischen Hieroglyphen vor etwa 200 Jahren eine wesentliche Rolle spielte. Nur werden im Fall des Langlands-Programms die Übersetzungen nicht zwischen alten Schriften und Sprachen hergestellt, sondern zwischen Gebieten wie Zahlentheorie, Algebra, Harmonischer Analysis, Geometrie, Topologie und neuerdings auch Quantenphysik.

Der Titel des Buches ist zunächst im Sinn von „Liebe ZUR Mathematik“ zu verstehen, erscheint im letzten Kapitel aber auch in zusätzlichem Licht. Darin macht Frenkel nicht nur seinen mathematischen Platonismus deutlich, sondern kommt auch auf den Film „Rites of Love and Math“ zu sprechen, in dem er auch als männlicher Hauptdarsteller auftritt.

Frenkel verrät auch einiges über seine eigene Biographie, die aus zumindest zwei Gründen von allgemeinem Interesse ist. Anders als viele andere bedeutende Mathematiker, bei denen sich Begabung und Interesse sehr früh zeigten, bedurfte es bei Frenkel eines Mathematikers aus dem Bekanntenkreis seiner Eltern, um das Interesse des 15-Jährigen von der Quantenphysik auf die von Frenkel zunächst abgelehnte Mathematik auszuweiten. Durch schlechten Schulunterricht kann also sogar Hochbegabten der Blick auf die Schönheit der Mathematik verstellt werden. Zum zweiten wird es kaum einen Leser unberührt lassen, wenn Frenkel – selbst areligiös wie auch seine Familie – die institutionalisierten antisemitischen Schikanen schildert, denen seine Laufbahn als Mathematiker in der Sowjetunion knapp vor der Wende beinahe zum Opfer gefallen wäre. (Man fragt sich, ob das in Russland unter Jelzin und Putin besser geworden ist.)

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, April 2015, Band 62, Heft 1
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Rezension: Reinhard Winkler (Wien)