menschen raetsel und beweise

DVD-Seminar »Mathematik«
Menschen, Rätsel und Beweise


Günther M. Ziegler
Verlag: ZEIT AKADEMIE; Auflage: 2014,129 €

Es wird auch ein Online-Seminar für 69€ angeboten.

Zu einem gutgemeinten Versuch in den expandierenden Markt der Neuen Medien vorzudringen wurde Professor Dr. Günther M. Ziegler von der Freien Universität Berlin gewonnen. Der Verlag der Wochenzeitung DIE ZEIT hat ein neues Portal eröffnet: die ZEIT AKADEMIE.

Seit Platon gilt: Eine Akademie ist ein Ort des Studiums, der Wissbegier und der intellektuellen Herausforderung. […] in den Seminaren der ZEIT Akademie vermitteln Ihnen herausragende Professoren die Grundlagen ihrer Fachgebiete. Sie studieren dabei bequem und flexibel von zu Hause: mit DVDs, Audio-CDs oder im Onlinekurs.

Nach offensichtlich ähnlichem Konzept werden zu unterschiedlichen Themen in einem Studio Vorträge aufgezeichnet, die mit Veranschaulichungen ergänzt und in kurzen Interviews reflektiert werden.
Auf der Internetseite des Seminars Mathematik – Menschen, Rätsel und Beweise finden Sie dazu etliche Informationen – etwa eine Kurzbiografie von G. M. Ziegler, eine Produktbeschreibung und eine Inhaltsangabe mit den Überschriften der 14 Lektionen auf vier DVDs sowie weiterhin eine Leseprobe aus dem Begleitbuch. Dem multimedialen Anspruch des Projektes entsprechend wird dies ergänzt durch einen Trailer, also ein kostenloses Probevideo, von 5 Minuten.

ZieglerScreen 1

Neue Präsentationsformen bedingen neue Rezensionsformen! Zum besseren Verständnis dieser Rezension ergeht an Sie die Bitte sich den Trailer anzusehen.

Sie haben jetzt also aus dem Aufnahmestudio die ersten 65 Sekunden – untypisch für die Lektionen – mit vielen Abbildungen gesehen, dann einen typischen Ausschnitt aus der ersten Lektion – in der Form können Sie sich ca. 80 % des Seminars so vorstellen und dann in den letzten Minuten, ab 3.20, eine Äh-Sequenz des interviewenden ZEIT-Redakteurs Christoph Drösser. Ein Teleprompter hätte hier Hilfestellung leisten können.

Wenn Sie schon jetzt von dem Seminar überzeugt sind, also auch Geduld für weitere fünf Stunden haben, gern dafür 129 € ausgeben wollen (die Preise schwankten im Beobachtungszeitraum von 99 € bis 149 €) und in Ihren Bücher/DVD-Regalen 32 mm Platz haben: auf denn! Falls Sie aber noch zögern, dann liefert Ihnen diese Rezension Argumente Pro und Contra und gegebenenfalls zum Schluss noch eine Empfehlung.

Dieser Text ist gegliedert in die Abschnitte Inhaltliches, Formales und Besprochenes, also die Interviews.

Inhaltliches:
Es geht nicht – oder nur kaum – um die Grundlagen der Mathematik. Zu diesem Thema liefert Lektion 4 ein gelungenes Beispiel: Eine kurze Geschichte der Zahlen – Vom Rechnen mit den Fingern bis zur Algebra. Sonst behandelt das Seminar mehr Olympisches: Der kürzeste Weg und die größten Rätsel. Vorwissen ist nicht nötig, nur die Lust am Lernen wird plakatiert. Ob das aber zum Verständnis allein ausreicht, ist zu bezweifeln. Immerhin wird auf das 96-seitige Begleitbuch zur Vor- und Nachbereitung hingewiesen.

Mehrdimensionale Raumformen oder Heuristiken beim travelling salesman problem werden die Verständnismöglichkeiten vieler ZuschauerInnen übersteigen, aber bekanntlich ist das Verständnis in einer guten Operninszenierung (Kartenpreis vergleichbar 129 €) auch nicht garantiert, obwohl sie einen schönen Abend bieten kann. Ein klassisches Format der Universitäten wird reproduziert: die Vorlesung (nach Horkheimer eine säkularisierte Form der Predigt, wie z.B. schon 1966 DIE ZEIT zitierte). So wird um Verständnis geworben; garantiert kann es aber nicht werden.

Es ist nicht indiskret, um an eine Formulierung von Ch. Drösser anzuknüpfen, wenn festgestellt wird, dass G. M. Ziegler überwiegend diskrete Mathematik betreibt: Ein Blick in seine Vorlesungsverzeichnisse der letzten Semester, hier z.B. vom WS 2014/15, reicht. Dementsprechend sind es auch überwiegend Themen aus der diskreten Mathematik, die er in den Lektionen behandelt, oder anders gesagt: Aspekte aus der Analysis werden kaum thematisiert. Anwendungen im Zusammenhang mit Physik und Technik wären durchaus erwähnenswert. Ein solches herausragendes Beispiel ist etwa der gelungene Flug einer Raumsonde bei der Cassini-Huygens-Mission durch eine Lücke in den Ringen des Saturn.

Sie finden auf der Seminarseite die Liste der Titel der einzelnen Abschnitte. Auch tätige MathematikerInnen werden in den Lektionen Neuigkeiten erfahren: Den wenigsten werden aktuelle Veröffentlichungen von G. M. Ziegler wie Convex Equipartitions via Equivariant Obstruction Theory bekannt seien.

Formales:
Angenehm ist das minimalistisch gestaltete Aufnahmestudio (siehe Trailer, bzw. Bild oben), die disziplinierte Mimik von G. M. Ziegler und seine kontrollierte, die Inhalte oft kommentierende Gestik, besonders ansehnlich in Lektion 4 bei der Erzählung über die Erweiterungen des Zahlbegriffs. In diesem Kapitel wird bei der Einführung in die Zopftheorie sehr schön einer der ganz wenigen Momente geboten, wo das Medium video ausgenutzt wird: Mit reinem Text wäre die Zopftheorie in ihren Anfängen selbst mit einer Sequenz von Bildern kaum so verständlich darstellbar. Doch nur selten werden Animationen geboten oder die heutigen Möglichkeiten von Computergrafik genutzt. Und wenn es mal vorkommt, wie bei der Erläuterung von einfach zusammenziehbar in Lektion 2, ist es wegen des schwer verständlichen Begriffs der Raumform nicht ausreichend. Dort erschwert allerdings auch einmal die Gestik das Verständnis: Ist die mit den Händen angedeutete Sphäre/Kugel nun eine zwei- oder dreidimensionale Raumform?

Weitere fehlende Beispiele von das Verständnis unterstützenden Visualisierungen könnten angeführt werden. Von daher muss der anpreisenden „Kunden“bewertung auf der Internetseite des Projektes entschieden widersprochen werden: Professor Dr. Ziegler stellt anschlaulich und didaktisch gut aufgebaut das Fach Mathematik vor. Dafür fünf Sterne! von Maria. Mit Verlaub: Ist Josef der gleichen Meinung? Das Fach Mathematik: Nein: EINIGE Menschen, Rätsel und Beweise werden vorgestellt; und das recht gut.

Zur Betrachtung der elf Lektionen in fünf Stunden bedarf es nur eines geringen Ausschnittes des heute üblichen Wahrnehmungsspektrums! Damit soll nicht animierenden Hokuspokus das Wort geredet werden. Die ZEIT AKADEMIE hätte da doch mit wenig Aufwand und geringen Kosten noch etwas leisten müssen! Warum werden von den gezeigten MathematikerInnen fast nur schwarz-weiß Bilder gezeigt, warum gibt es den berühmten Hilbert-Ausspruch Wir müssen wissen, wir werden wissen! nicht als Tondokument? Bei youTube ist es leicht zu finden.

Frage: Was hat eigentlich die Firma Divine GmbH, zuständig für Technisches Konzept und Umsetzung, beigetragen, das Design des Studios? Etwa eine Grafik in Lektion 9, bei der von zwei unterschiedlich großen Quadraten die Rede ist, das rechte Rechteck aber offensichtlich kein Quadrat ist!

Ziegler Quadrat

Zieglers Rede auf der DVD: … Wenn das Quadrat ein bisschen kleiner ist, … . Im Handbuch (S. 68) als Text: … Macht man das Quadrat nur ein wenig kleiner, …, da passt’s dann wieder!

In guten Mathematik-Lehrbüchern finden sich oft in den Vorworten Danksagungen an beteiligte Personen, meist AssistentInnen aus den Instituten der AutorInnen: Ihre kritischen Blicke minimieren dann die leider vorkommenden kleinen handwerklichen Fehler, die beim Schreiben der Bücher in der Rohfassung immer wieder vorkommen. Doch bei diesem Seminar fehlt offensichtlich eine derartige Qualitätskontrolle – wie leider in vielen Verlagen auch ein qualifiziertes Lektorat –; etwa bei der Darstellung dieser Formel in Sans-Serif Bold

XB,BN + XB,HH + XB,MD + XB,MUE + XB,OL = 2

(Lektion 7 : 20.48).
PowerPoint geprägte Pennäler werden sich damit gern zufrieden geben, doch sollen in den Lektionen die Fähigkeiten der Mathematik geschildert werden, zu denen im weitesten Sinne auch TEX gehört.

Kenntnisreichere RezipientInnen mögen – etwa durch den gleichzeitigen Genuss eines Glases guten Weines – ihr Wahrnehmungsvermögen etwas spalten, um über solche leicht behebbare Unzulänglichkeiten hinwegsehen zu können. Aber wie heißt es doch richtig in der Einführung: Mathematik ist jedenfalls kein Zuschauersport.

Um nur mit den ganz elementaren multimedialen Darstellungsmöglichkeiten zu argumentieren: Mit Computergrafik lässt sich heute Vieles ohne übertriebenen Firlefanz visualisieren. Und wie wäre es mit einer Internetseite, auf der die zitierte Literatur verlinkt wird und nicht nur durch Quellenangaben im Begleitbuch schwarz auf weiß nach Hause zu tragen ist? Ist das bei dem Preis von 129 € zu viel verlangt?

Besprochenes:
Christoph Drösser ist ein mehrfach ausgezeichneter Journalist. In den Interviews mit G. M. Ziegler im Anschluss an die Lektionen befolgt er oft den allseits bekannten journalistischen Grundsatz – an dem der Rezensent leider ungewollt auch nicht vorbei kommt – Only bad news are good news. Wie oft wird von Ch. Drösser darauf hingewiesen, dass in den ersten Beweisen von großen Sätzen Lücken bzw. Fehler waren? Sind die herausragenden Mathematiker immer skurrile Exzentriker? Warum wird dann entsprechend im Interview zu Lektion 2 länger über ein Foto eines Mathematikers geredet ohne es zu zeigen, obwohl es ja vorher in der Lektion kurz zu sehen war? Warum wird dazu nicht zumindest in den Literaturangaben auf das Buch Der Beweis des Jahrhunderts hingewiesen?

Erfreulich ist zu bemerken, dass der von Teilen des deutschen Bildungsbürgertums in der letzten Zeit dämonisierte, grundlegende Begriff des Algorithmus an sinnvoller Stelle in Lektion 7 länger behandelt wird und dann seine Problematik in vier Minuten des folgenden Interviews eine kritische Würdigung erfährt.

Wenn Sie diese Rezension jetzt gelesen haben und sie etwa mit den Beurteilungen im Zeit Shop vergleichen, werden Sie eine deutliche Diskrepanz feststellen. Doch nach einem zweiten gründlichen Ansehen der DVDs hat sich das Urteil des Rezensenten gefestigt.

Nun die oben angekündigte Empfehlung: Günter M. Ziegler hat ein reizendes, schön illustriertes Buch geschrieben, in dem er schon einige Themen dieses Seminars behandelt hat: Mathematik – das ist doch keine Kunst! In diesem klassischen Medium Buch ist schon viel von dem erreichbar, was mit den Möglichkeiten der Neuen Medien leicht erst recht erweiterbar und ausgestaltbar wäre. Dieses Buch wird im Begleitbuch zu den Lektionen mehrfach erwähnt und eine lesenswerte Rezension finden Sie hier.

Auf Basis des DVD-Seminars wurde diese Rezension erstellt. Ein Zugang zu dem Online Seminar war nicht gegeben.

PS
In der Annahme, dass eine seriöse Firma, wie der ZEIT Verlag, ihre Internetseiten wahrheitsmäßig aktualisieren lässt, verwundertnachdem das besprochene Produkt seit dem 15. September 2014 am Markt istnoch am 1. April 2015 die Meldung: Schnell sein lohnt sich: Die ersten 300 Besteller des DVD -Seminars erhalten gratis das Taschenbuch »Der Mathematikverführer« von Christoph Drösser.

Rezension: Ralf Schaper (Kassel)