unendlichkeiten nachrichten aus dem

Unendlichkeiten
Nachrichten aus dem Grand Canyon des Geistes

Harro Heuser
Teubner Verlag, 2008, 228 Seiten, 29,90 €

ISBN: 3-835-10119-6

"Das Unendliche hat wie keine andere Frage von jeher so tief das Gemüt des Menschen bewegt; das Unendliche hat wie kaum eine andere Idee auf den Verstand so anregend und fruchtbar gewirkt; das Unendliche ist aber auch wie kein anderer Begriff so der Aufklärung bedürftig."
Dieses Zitat des großen Mathematikers David Hilbert stellt den Anfang von Harro Heusers Buch über den Begriff der Unendlichkeit dar. Etwas von den philosophischen, theologischen, kosmologischen und mathematischen Abgründen erahnen zu lassen, ist das Ziel des Buches, welches dazu im Großen und Ganzen den Spuren Georg Cantors folgt, des Mathematikers, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal das "mathematisch Unendliche" einer Klärung zugeführt hat.
Die intensivste philosophische Auseinandersetzung führte Cantor dabei wohl mit dem Philosophen Aristoteles, dessen entschiedene Gegnerschaft und Ablehnung dem Unendlichen gegenüber am besten in seiner folgenden Aussage erkennbar wird:
"Die Theorie des Unendlichen hat ihre Schwierigkeiten; mag man die Existenz eines Unendlichen annehmen oder nicht, sofort drohen unannehmbare Konsequenzen."
So schuf Aristoteles den Begriff des "Potential-Unendlichen". Gerade an der Zahlenreihe 1, 2, 3, ... zeigt er dieses Prinzip auf. Diese Reihe ist sicherlich unendlich, da sie nie endet, jedoch denkt er sie nicht als Gesamtheit, sondern immer als Teil, als Anfangsstück 1, 2, ..., n. Die gesamte Zahlenreihe ist für Aristoteles nur die ständig länger werdende Folge von Anfangsstücken. Sie ist also nicht "aktual", sondern nur "im Modus der Möglichkeit", also "potential" unendlich.
Für Aristoteles stellt sich nun jede Form der Unendlichkeit als ein solches "Potential-Unendliches" dar, das "Aktual-Unendliche" gibt es für ihn schlicht und ergreifend nicht.
Cantors Kommentar dazu ist, dass "bestimmte Zählungen [welche gerade die Argumentation von Aristoteles darstellen] wie an endlichen Mengen auch an unendlichen Mengen vorgenommen werden können."

Einen legitimen Nachfolger in der Verbannung des "Aktual-Unendlichen" findet Aristoteles im Mittelalter in Thomas von Aquin, dem princeps philosophorum (König der Philosophen). So heißt es in einer seiner Schriften:
"Das Unendliche ist nicht wirklich, war nicht wirklich und wird nicht wirklich sein." und "Es gibt nicht unendlich viele Einzeldinge."
D.h. die unendlichen Mengen, mit welchen Cantor später arbeiten sollte, existieren nach seiner Sicht der Dinge gar nicht.
Problematisch wird die Argumentation von Thomas von Aquin jedoch bei der "Unendlichkeit Gottes", welche er ausdrücklich angibt. Er "rettet" sich wieder mit dem Aristotelischen Prinzip, dass es zwar nicht unendlich viele Naturdinge gibt, aber doch unendlich viele Geistesdinge [wie eben beispielsweise Zahlen]. Durch Gottes vollkommenen Verstand so Thomas, "erkennt er alles Unendliche dieser Art."

Wie bereits erwähnt ist es schließlich Georg Cantor, der die Unendlichkeit mathematisch zum ersten Mal präzise einfängt. Jedoch gelingt ihm nicht nur dies, sondern er zeigt auch, dass es verschieden große Unendlichkeiten gibt. So sind beispielsweise die Menge der ganzen Zahlen und die der rationalen Zahlen [d.h. die Menge aller Brüche] beide unendlich, jedoch in Cantors Begriffen gleichmächtig. Die Menge der reellen Zahlen hingegen besitzt eine größere Mächtigkeit als die beiden vorherigen. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass es genau so viele Brüche wie ganze Zahlen gibt. [Dieses Ergebnis mag verwundern, da schließlich jede ganze Zahl auch ein Bruch, jedoch längst nicht jeder Bruch eine ganze Zahl ist. Man muss sich jedoch daran erinnern, dass es sich an dieser stelle jeweils um unendliche Mengen handelt.] Reelle Zahlen aber gibt es mehr als eben ganze Zahlen oder Brüche.
Cantors Argumentation und überhaupt seine Theorie der unendlichen Mengen schildert Heuser zum Abschluss des Buches ebenso interessant wie die Entwicklungen zuvor.

Neben den historischen Entwicklungen beim Versuch, den Begriff der Unendlichkeit zu fassen, werden auch die berühmten Paradoxa des Unendlichen erwähnt, welche immer wieder gerne benutzt werden, um auf die Schwierigkeit im Umgang mit der Unendlichkeit hinzuweisen.
So erfährt man z.B., wie es in Hilberts Hotel mit unendlich vielen Zimmern möglich ist, noch eine Vielzahl an neuen Gästen aufzunehmen, obwohl alle Zimmer belegt sind.
Ebenso wird die bemerkenswerte Tatsache geschildert, dass ein unendlich langes Leben ebenso viele Tage wie Jahre zählt, was bereits in dem 1760 erschienenen Roman Leben und Meinungen des Tristram Shandy von Laurence Sterne erwähnt wird.

Wie schon angedeutet, werden hier jedoch nicht nur die mathematischen Gesichtspunkte der Unendlichkeit dargestellt, sondern beispielsweise auch, wie schon bei Thomas von Aquin erwähnt, theologische.
So erkennt bereits Origines in der unendlichen Allmacht Gottes gewisse Probleme:
"Man muss auch Gottes Macht für begrenzt erklären und nicht unter dem Vorwand frommer Scheu ihr die Umgrenzung nehmen. Denn wenn Gottes Macht unbegrenzt ist, so folgt, dass sie sich nicht einmal selbst denken kann; denn nur das Unbegrenzte ist in seinem Wesen nach nicht umfassbar."
Die endgültige "Einzäunung" Gottes, wie Heuser sie nennt, findet sich dann wieder bei Thomas von Aquin:
"Gott will nur, was gut ist oder gut sein kann."

(Rezension: Joerg Beyer)