reelle zahlen

Reelle Zahlen
Das klassische Kontinuum und die natürlichen Folgen

Oliver Deiser
Springer Verlag (2008), 560 Seiten, 2.Aufl., 200,00 €

ISBN: 3-5407-9375-5

Als Hochschullehrer gebe ich mir in den Anfängervorlesungen für werdende Mathematiker alle Mühe, den Studierenden den Aufbau des reellen Zahlsystem nahe zu bringen. Dazu folge ich dem Cantorschen Verfahren der Fundamentalfolgen, weil es sich bei der Behandlung reeller Folgen und dem Grenzwertbegriff als natürlich anbietet. Wir rechnen im Hörsaal dann tatsächlich etwa eine Woche lang mit Äquivalenzklassen von Cauchy-Folgen, bis wir dann schließlich die reellen Zahlen als „verstanden“ akzeptieren. So weit, so gut. Spätestens in den Prüfungen merke ich dann schmerzlich, wie wenig von dieser Idee offenbar verstanden wird. Fragen wie: „Sie stehen auf einer rationalen Zahl und im Abstand ε > 0 ist ein Zaun um Sie gezogen. Wie viele weitere rationale Zahlen finden Sie in Ihrem eingezäunten Garten?“ sorgen häufig für Konfusion und ich habe bis jetzt wohl so ziemlich alle möglichen Antworten zu hören bekommen, von „gar keine“ bis „überabzählbar viele“. Dies macht mich umso mehr betroffen, als ich an Richard Dedekinds Alma Mater lehre, dessen Arbeiten erstmals eine saubere Begründung des Zahlbegriffs und des reellen Zahlkörpers ermöglichten. Ich will damit sagen, dass ein Buch wie das vorliegende keinesfalls anachronistisch genannt werden kann; im Gegenteil, es scheint mir ein dringendes Desiderat in der modernen Lehrbuchliteratur zu sein, was nun befriedigt wird.

Oliver Deiser hat sein Buch in zwei große Abschnitte gegliedert, einen über das klassische Kontinuum und das zweite über Folgenräume. Zu Beginn des Buches findet sich eine didaktisch äußerst gelungene kurze Einführung in die Themen des Buches und – auf wenigen Seiten – eine Zusammenfassung der verwendeten mathematischen Notationen und Begriffe (das „Vokabular“, wie Deiser es treffend nennt). Der erste Abschnitt liefert eine sehr umfassende Darstellung aller relevanten Aspekte der reellen Zahlen, wobei Deiser, wie gewohnt, sich nicht nur an den historischen Entwicklungen orientiert, sondern auch zahlreiche historische Bemerkungen einfließen lässt. Über die inkommensurablen Strecken und der Irrationalität der Quadratwurzel gelangt der Autor zum Begriff der algebraischen und der transzendenten Zahlen und nimmt sogleich die Diskussion des Mächtigkeitsbegriffes in Angriff. Sehr schön werden mehrere Konstruktionsmöglichkeiten der reellen Zahlen in ihrem historischen Kontext vorgestellt. Im verbleibenden Teil des ersten Abschnitts bespricht Deiser Inhalte und Maße und kommt mit Hilfe einer Diskussion Euklidischer Isometrien auf die Grenzen des Messens zu sprechen, die im Banach-Tarski-Paradoxon ihren Höhepunkt finden. Im zweiten Abschnitt über Folgenräume wird der Baireraum der Menge aller Folgen natürlicher Zahlen und der Cantorraum aller unendlichen 0-1-wertigen Folgen (d.i. eigentlich die Potenzmenge (N), die aber mit dem obigen Folgenraum identifiziert werden kann) eingeführt. Ganz wesentlich geht es Deiser um die Beziehungen dieser drei Strukturen untereinander – Kontinuum, Baire- und Cantorraum. So untersucht er unter topologischen Aspekten Abbildungen des Baireraumes auf den Cantorraum. Wieder spielt auch die Maßtehorie eine wichtige Rolle und so wird das Lebesgue-Maß auf dem Cantorraum konstruiert um universell messbare Mengen, magere Mengen und Nullmengen zu charakterisieren. Über den Begriff der Wohlordnung und der Rekursion werden die konstruktiblen reellen Zahlen identifiziert und das Zornsche Lemma wird mit Hilfe der transfiniten Rekursion bewiesen. Eine kurze Diskussion irregulärer Mengen leitet zu unendlichen Zweipersonenspielen über. Der Zusammenhang zwischen Zahlen und Spielen ist wohl nicht besser darstellbar zu machen als in John Horton Conways berühmtem ONAG7, aber Deiser macht seine Sache nicht schlecht. Borelmengen und projektive Mengen schließen den zweiten Abschnitt ab.

Oliver Deiser hat wieder ein hervorragend lesbares Lehrbuch vorgelegt, das man nur uneingeschränkt empfehlen kann. Im Gegensatz zu anderen Autoren geht es Deiser ganz offenbar nicht darum, durch überzogene Abstraktion den Eindruck von Wissenschaftlichkeit zu erzeugen, sondern er will verständlich erklären und dabei die mathematische Exaktheit nicht preisgeben. Das ist ihm in diesem Buch wieder außerordentlich gelungen. An diesem Buch werden nicht nur Studierende ihren Geist schärfen können, sondern auch Experten werden (gerade im zweiten Abschnitt) ihre Freude haben. Es ist eines derjenigen Bücher, das ich jedem ernsthaft an Mathematik interessierten Menschen nur wärmstens empfehlen kann.

Rezension: Thomas Sonar, Braunschweig

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, September 2008, Band 55, Heft 2, S. 251
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags