wie man mathematisch denkt

Wie man mathematisch denkt
Eine Einführung in die mathematische Arbeitstechnik für Studienanfänger

Kevin Houston
Springer Spektrum 2012, XII + 323 Seiten, 24,95 €

ISBN 10: 3827429978
ISBN 13: 978-3827429971

Es folgen die Rezensionen von: Harald Löwe und Dirk Werner


„Ich will Ihnen beibringen, wie ein Mathematiker zu denken [...]“ lautet das Ziel Kevin Houstons. Das klingt vertraut, haben doch Bücher, die die immer größer werdende Kluft zwischen Schul- und Hochschulmathematik überbrücken sollen, derzeit Hochkonjunktur. Und doch ist das vorliegende Buch anders als der Durchschnitt dieses Genres. Denn anstelle mathematischer Inhalte steht tatsächlich das mathematische Denken im Vordergrund. Der Leser soll lernen, Mathematik zu lesen und zu verstehen, mathematische Probleme zu lösen und seine Lösungen aufzuschreiben. Hierfür könnte man das Wort „Kompetenzerwerb“ mit Fug und Recht verwenden, wäre eben dieses Wort nicht derart unsäglich vorbelastet. Daher schreiben wir im Folgenden lieber „Training des mathematischen Denkens“.

Nun begeht Houston an keiner Stelle den groben (aber derzeit recht weit verbreiteten) Fehler, ein solches Training losgelöst von mathematischen Inhalten zu sehen. Ganz im Gegenteil beginnt er mit den Worten: „Zum mathematischen Denken benötigt man Mathematik, über die man nachdenken kann.“ – wie wahr! Das erste Kapitel beschäftigt sich folgerichtig mit Mengen und Funktionen, damit ein wenig Mathematik zum Nachdenken verlässlich zur Verfügung steht. Bereits hier fällt auf, wie sehr neben dem flüssig und prägnant formulierten Text auch das exzellente Layout nicht nur das Verständnis fördern, sondern das Lesen zu einem echten Vergnügen machen kann. Die vielen integrierten Übungsaufgaben, die den Sätzen und Definitionen nicht nur optisch gleichgestellt sind, lassen keinen Zweifel über die Intention des Autors zu: dieses Buch soll man nicht lesen, sondern durcharbeiten. Wie man im folgenden Kapitel erfährt, gilt dies nicht nur für das vorliegende Buch, sondern für jeden mathematischen Text: ohne Papier und Bleistift geht es nicht. Die weiteren Ratschläge zum verstehenden Lesen sind ähnlich allgemein, aber auch ähnlich allgemeingültig; der vorgeschlagene Fünfpunkteplan ist sicherlich für die meisten Studierenden ein guter Ausgangspunkt.

Auf das Schreiben mathematischer Texte legt der Autor besonderen Wert; gleich zwei Kapitel sind diesem Thema gewidmet. Als Ausgangspunkt dient ein Beweis eines Studenten für den Kosinussatz. Dieser Beweis ist zwar korrekt, aber schlecht lesbar aufgeschrieben. Im Verlauf des Kapitels werden dann die Fehler recht gnadenlos aufgezeigt und erläutert, aber auch Abhilfe geschaffen. Fast schon nebenher erfährt der Neuling dabei etwas über guten Stil, wird zum Schreiben ganzer Sätze angehalten, und erhält immer wieder konkrete Formulierungsvorschläge. Bereits an dieser Stelle habe ich das Buch auf die Liste der Empfehlungen für Erstsemester gesetzt – so überzeugend und auf den Punkt gebracht habe ich diese Ratschläge noch nie gesehen.

Nach dem Lesen und Schreiben steht das Problemlösen auf dem Programm des Autors. Pólyas Vierpunkteplan – (1) Verstehe das Problem, (2) entwickle einen Plan, (3) führe den Plan aus und (4) blicke zurück – wird liebevoll aufbereitet und Schritt für Schritt erläutert. Wie schon beim Lesen mathematischer Texte legt Houston auch hierbei großen Wert auf das eigenständige Suchen und Durchrechnen passender Beispiele, was auch in meinen Augen ein wesentlicher Schritt zum Verständnis mathematischer Sachverhalte ist.

Damit endet der erste, mit „Grundtechniken für Mathematik-Studierende“ überschriebene Teil des Buches. Wer bis hierhin mitgearbeitet hat, dem wird bereits etliches im Mathematikstudium leichter fallen. Im nächsten Teil geht es um Logik; genauer gesagt, um die Vermeidung der Fallstricke, die die elementare Logik dem Anfänger in den Weg legt. So wird der mathematische Gebrauch logischer Verknüpfungen gegen die Alltagssprache abgegrenzt, Wahrheitstafeln finden sich ebenso wie die Erläuterung der Begriffe „notwendig“ und „hinreichend“, und den Quantoren werden zwei großzügig bemessene Kapitel eingeräumt. Wie im gesamten Buch stehen dabei nicht Formalismen im Vordergrund, sondern es wird viel Wert auf Verständlicheit für den Anfänger gelegt.

Überraschend spät, aber genau an der richtigen Stelle wird im dritten Teil erläutert, was es eigentlich mit Definitionen, Sätzen und Beweisen für eine Bewandtnis hat. Auch hier erschöpft sich die Darstellung nicht mit einer allgemeinen Beschreibung; vielmehr erhält der angehende Mathematiker viele gute und ausgesprochen nützliche Ratschläge, wie er denn an eine solche Sache herangehen soll. Neben den offenkundigen Dingen wie dem Zerlegen eines Beweises in kleinere Teile und dem Betrachten der so wichtigen Beispiele wird er zum Beispiel dazu aufgefordert, durch das Testen von Extremfällen nachzuprüfen, ob der vorliegende Satz nicht doch falsch ist. Auch Nicht–Beispiele können sich nützlich machen; sieht man doch so ein, warum der Beweis nur unter den im Satz genannten Voraussetzungen funktioniert. Sodann werden die stets an kleineren Beispielen erläuterten Ratschläge eingehend zur Analyse des Beweises des Satzes von Pythagoras herangezogen – das ist hervorragend ausgearbeitet und ein echter Lesegenuss! Grundlegende Beweistechniken (direkter Beweis, Beweis durch Fallunterscheidung, Widerspruchsbeweis, Beweis durch Kontraposition, vollständige Induktion) stehen im Zentrum des nächsten Teils; wieder werden die häufigen Fehlerquellen aufgezeigt. Die Entscheidungshilfen, wann man denn welches Beweisverfahren nehmen soll, überzeugen ebenfalls. Nach einigen spezielleren mathematischen Ausführungen zur Injektivität und ihren Verwandten, der ewigen Klippe der Äquivalenzrelationen sowie etlichen Informationen zur Teilbarkeit, euklidischem Algorithmus und zur modularen Arithmetik geht es dann zur Zusammenfassung. Das größte Geheimnis des erfolgreichen Zugangs zur Mathematik wird im letzten Kapitel verraten: Schreiben Sie Mathematik sauber auf und entwerfen Sie einfache Beispiele.

Ich bekenne an dieser Stelle gerne, dass mir das Lesen des Buches eine große Freude war. Die dem Fortgeschrittenen selbstverständlichen Strategien zur Aneignung eines mathematischen Sachverhaltes werden gut lesbar und verständlich an die Leserin und den Leser gebracht. Viele Beispiele untermauern wirkungsvoll die Gedankengänge. Aufteilung, Sprache und Schwierigkeitsgrad sind an den absoluten Neuling angepasst, der sich an keiner Stelle mit allzu abstrakten Strukturen herumschlagen muss und sich so auf die Ausführungen des Autors konzentrieren kann. Aus diesen Gründen erhält das Buch von mir eine ganz klare Kaufempfehlung: wer den Abgrund zwischen Schul- und Universitätsmathematik mit weniger Blessuren als seine Mitstreiter überwinden möchte, dem sei das Werk nachdrücklich ans Herz gelegt. Besser kann man fast nicht mehr schreiben, und eindrücklicher kann man die Strategien wohl kaum vermitteln. Damit bleiben nur noch zwei Fragen offen: Warum gab es das Buch nicht bereits zu meiner Zeit? Und warum wird nicht wenigstens ein Teil des Trainings des mathematische Denkens bereits in der Schule betrieben? Dann würde das Wort „Kompetenz“ wohl auch einen etwas besseren Beigeschmack erhalten....

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Februar 2013, Band 60, Heft 1
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Rezension: Harald Löwe


 

„Wie man mathematisch denkt“ ist ein wichtiges und notwendiges Buch, das alle Studienanfänger in Mathematik anspricht. Viele davon kommen nämlich mit falschen Vorstellungen an die Universität und glauben zum Beispiel, nach den Extremwertaufgaben für Polynome 3. Grades in der Schule wären jetzt die Polynome 4. Grades dran, und wundern sich, dass die Universitätsmathematik weniger vom Rechnen lebt und sich stattdessen um Begriffe und Beweise kümmert, und das mit einer unerbittlichen Präzision, die landläufig mathematisch genannt wird und Anfänger auf der ganzen Welt – und das zu allen Zeiten – vor Probleme stellt.

Der britische Autor Kevin Houston legt hier ein Buch vor, das den Zugang zur universitären Mathematik erleichtert. Er beschreibt zunächst detailliert Fallstricke der Logik (die Profis trivial erscheinen; wie etwa den Unterschied zwischen „aus A folgt B“ und „aus B folgt A“). Das Kernstück des Buchs sind Kapitel zu mathematischen Beweisen; insbesondere werden typische Beweisverfahren (direkter Beweis, Beweis durch Widerspruch, Beweis durch vollständige Induktion etc.) ausführlich an elementar zugänglichen mathematischen Themen vorgeführt, etwa Aussagen zu Teilbarkeit und zur modularen Arithmetik.

Erstsemester und auch Fortgeschrittene, die den ausgezeichnet formulierten und übersetzten Text durchgearbeitet haben, werden die für die Mathematik typischen Denkweisen schneller und erfolgreicher assimilieren als ohne diese Hilfe. Kevin Houstons Buch sollte Pflichtlektüre für alle Studienanfänger sein.

Rezension: Dirk Werner, FU Berlin