stifel

Vollständiger Lehrgang der Arithmetik

Michael Stifel
Königshausen & Neumann (2007), 495 Seiten, 68,00 €

ISBN: 978-3-8260-3561-6

Der um 1487 in Esslingen am Neckar geborene und zu den glühenden Verehrern von Martin Luther gehörige Augustinermönch Michael Stifel spielt in meiner Vorlesung über die Geschichte der Mathematik immer eine ganz besondere Rolle. Zum Einen weil er es fertig brachte, den Weltuntergang auf das Jahr 1533, also zu seinen Lebzeiten, vorherzusagen und bei Nichteintreten in größte Schwierigkeiten geriet. Vorher hatte Luther ihm eine Pfarre in Lochau im Kreis Wittenberg verschafft. Er war ein Numerologe der ganz besonderen Art und las wunderliche Dinge aus der Bibel; besonders natürlich aus der Apokalypse des Johannes. Er ging für vier Wochen in Haft und verlor seine Pfarre. Noch heute sagen wir über einen schlechten Rechner, er habe sich „einen Sti(e)fel zusammengerechnet“. Diese Redewendung geht direkt auf Stifels Versagen bei der Bestimmung des Weltuntergangs zurück. „Gerettet“ wurde Stifel durch Luther selbst, der sich sehr für ihn einsetzte. Einige Mathematikhistoriker, unter Ihnen Menso Folkerts und Karin Reich, haben Stifels Numerologie genau studiert und so einiges Bemerkenswerte gefunden, was ihn für eine Diskussion in der Vorlesung interessant macht. Die andere Seite des Michael Stifel ist für die Entwicklung der Mathematik allerdings deutlich wichtiger: In der Beschäftigung mit ernsthafter Mathematik wurde er zu einem der bedeutendsten Mathematiker des 16. Jahrhunderts. Sein Hauptwerk ist die Arithmetica Integra aus dem Jahr 1544, zu dem niemand geringerer als Philipp Melanchthon das Vorwort beisteuerte. In diesem Werk erkennt Stifel das Wesen der negativen Zahlen, er rechnet mit Potenzen und entdeckt das Prinzip der Logarithmen, denn er entdeckt, dass die Multiplikation von Zweierpotenzen der Addition der Exponenten entspricht. Den eigentlichen Schritt zur Einführung der Logarithmen ging Stifel jedoch nicht. Dies blieb dem Schotten John Napier vorbehalten – ebenfalls ein „eminenter“ Numerologe, der aus der Johannes-Apokalypse mit pseudo-mathematischen Mitteln bewies, dass der Papst der Antichrist ist – der Stifels Arithmetica Integra gelesen hatte.

Nun, endlich, haben wir die Arithmetica Integra in einer hervorragenden deutschen Übersetzung! Das Übersetzerpaar ist das schon bei der Übersetzung der Werke von Tschirnhaus aus Eberhard Knobloch und Otto Schönberger bestehende Expertengespann, bei dem eine hohe mathematische Kompetenz mit einer überlegenen Kenntnis der lateinischen Sprache in perfekter Weise vereinigt ist. Beide haben wieder eine großartige Arbeit abgeliefert. Das Stöbern in dieser Übersetzung bringt uns einen der wichtigsten Autoren der Mathematikgeschichte näher. Stifel schreibt verständlich mit vielen Beispielen und Abbildungen, die sämtlich aus der Erstausgabe in den Text hineinkopiert wurden. So weht im besten Sinne des Wortes der Hauch der Geschichte aus den Seiten dieses Buches. Ob Fachhistoriker, Fachmathematiker, Lehrer oder an der Entwicklung der Mathematik interessierte Laien – alle sollten sich diese Übersetzung vornehmen und Stifel auf sich wirken lassen. Das Buch ist völlig unkommentiert und enthält lediglich ein kurzes Nachwort von Eberhard Knobloch und ein hilfreiches Glossar, sowie ein Namensregister. Es ist eben nach wie vor eines der großen Lehrbücher der Mathematik. Der Würzburger Verlag Königshausen & Neumann hat das Buch in broschierter Form zu dem sehr akzeptablen Preis von 68 Euro mit einer sauberen Fadenheftung versehen, so dass man beim Stöbern keine Angst haben muss, das voluminöse Buch am Rücken zu beschädigen. Man kann den Übersetzern und dem Verlag nur aus ganzem Herzen danken und dem Buch hohe Verkaufszahlen wünschen!

Rezension: Thomas Sonar, Braunschweig

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Oktober 2007, Band 54, Heft 2, S. 258
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags