geometrie und algebra im wechselspielHans-Wolfgang Henn
Springer Spektrum, 2. Auflage 2012, 29,95 €
ISBN-10: 3834819042
ISBN-13: 978-3834819048

Die Wechselwirkungen von Geometrie und Algebra haben die Mathematik seit Jahrhunderten beeinflusst, von Descartes’ analytischer Geometrie zur algebraischen Geometrie des 21. Jahrhunderts, die zu den abstraktesten Gebieten der reinen Mathematik gehört. Jedoch ist insbesondere die klassische Geometrie ein Kernbereich der Schulmathematik von der 1. Klasse an, und es ist ein Anliegen dieses Buches, geometrische Problemstellungen algebraisch zu unterfüttern. Generell ist es das Leitmotiv des Autors, einige Aspekte der schulischen Mathematik vom Standpunkt der universitären Mathematik aufzugreifen und zu vertiefen; dies wird bereits im Untertitel „Mathematische Theorie für schulische Fragestellungen“ deutlich. Der Text richtet sich in erster Linie an fortgeschrittene Studierende der Mathematik, insbesondere Lehramtskandidaten, und natürlich auch an Mathematiklehrer.

Der Aufbau ist nicht streng deduktiv, vielmehr enthält das Buch fünf großenteils voneinander unabhängige Kapitel zu ausgewählten Themenkreisen. Es geht zuerst um axiomatische Geometrie. Nach einem historischen Überblick von Euklid bis Hilbert folgt eine detaillierte Diskussion affiner Ebenen und ihrer Koordinatenkörper. Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit möglichen und unmöglichen geometrischen Konstruktionen (Winkeldreiteilung, Quadratur des Kreises, das regelmäßige n-Eck). Dass sich zum Beispiel ein Winkel von 60 Grad nicht mit Zirkel und Lineal dreiteilen lässt, wird mit Hilfe der Theorie der Körpererweiterungen bewiesen, aber die Transzendenz von π wird nur konstatiert (ein Beweis würde auch zu weit führen) und daraus die Unmöglichkeit der Quadratur des Kreises hergeleitet. In diesem Kapitel findet man auch Lösungen von Konstruktionsaufgaben wie der Winkeldreiteilung mit anderen Hilfsmitteln, etwa Origami.

Es folgt ein Kapitel über Symmetrien und Symmetriegruppen, in dem der Autor das „Erlanger Programm“ von F. Klein erläutert. Die 17 kristallographischen Gruppen werden eingehend vorgestellt, und das Kapitel endet mit einer Diskussion der Penroseschen aperiodischen Pflasterungen. Die letzten beiden Kapitel sind eher algebraisch denn geometrisch und befassen sich mit algebraischen Gleichungen bzw. dem Aufbau des Zahlensystems. Hier findet man eine Einführung in die Galoistheorie, deren wesentliche Ideen ausgeführt werden, wenngleich der Hauptsatz der Galoistheorie nicht bewiesen wird. Damit wird dann die Unmöglichkeit, Gleichungen 5. Grades durch Radikale (also durch eine Formel, in der Wurzelausdrücke vorkommen) zu lösen, begründet.

Schließlich geht es im letzten Kapitel um den Aufbau des Zahlensystems von den natürlichen bis zu den komplexen Zahlen. Der schwierigste Schritt ist hier die Konstruktion der reellen Zahlen aus den rationalen, wofür der Autor drei Wege angibt: Dedekindsche Schnitte, Intervallschachtelungen und Äquivalenzklassen von Cauchyfolgen; diese Methode wird etwas detaillierter erläutert. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels stellt die Cantormenge vor.

Jedes Kapitel enthält ein einführendes Unterkapitel „Vernetzung mit dem mathematischen Schulstoff“, das die Mathematik der Schule von einem „höheren Standpunkt“ (F. Klein) erläutert, was in den folgenden Unterkapiteln ausgeführt wird. Diese vom Autor „vertikale Vernetzung“ genannte Verknüpfung zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Text, und deswegen ist dieses Buch für angehende und praktizierende Lehrkräfte eine hervorragende Ergänzung zur mathematischen Standardliteratur. Es ist reichhaltig illustriert und enthält viele Übungsaufgaben, die das Verständnis des Textes stützen. Der Stil des Buches ist sehr flüssig und ansprechend, aber den Satz „Die einfache Differentialgleichung \((F(x)= \int_a^x f(t)\,dt)\) hat für stetige, es reichen sogar monotone, Funktionen stets eine eindeutige Lösung.“ (S. 173) würde man in keinem Seminarvortrag akzeptieren. Da kein Buch perfekt ist, muss man auch hier vor kleinen Ungenauigkeiten auf der Hut sein, aber der Autor unterhält eine Internetseite, wo man eine Errataliste und weitere Materialien findet.

Insgesamt kann man das Buch allen Lehrern (jetzigen wie zukünftigen) nur ans Herz legen.

Rezension: Dirk Werner (FU Berlin)