fhneuEgbert Brieskorn (†) und Walter Purkert (Hrsg.):

Springer 2018, XXII + 1131 Seiten, 119,99 €
ISBN: 978-3-662-56380-9

Dieser Band sollte die „Gesammelten Werke“ von Felix Hausdorff beschließen und damit eines der großen Editionsprojekte zur Mathematikgeschichte der letzten Jahrzehnte zu einem guten Ende bringen1. Bekanntlich war diese Edition ein Anliegen, das maßgeblich von Egbert Brieskorn betrieben wurde. Es bezweckte weit mehr, als die Werke von Felix Hausdorff alias Paul Mongré in ihrer Gesamtheit zugänglich zu machen. Vielmehr ging es – und das macht das von Walter Purkert verfasste Vorwort deutlich – um eine Art Wiedergutmachung, darum „auch in diesem konkreten Schicksal etwas von dem Unbegreiflichen zu begreifen, was in Deutschland deutschen Juden geschehen ist.“ (S. VII) Zwei Motive leiteten Brieskorn, wie er selbst in einem Vortrag in Paris formulierte: Zum einen „... die Scham über die entsetzliche Schuld, die Deutschland mit der Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa auf sich geladen hat.“ (S. VIII), zum andern die persönliche Bekanntschaft mit Hausdorffs Tochter Leonore König: „Sie öffnete mir einen ersten Zugang zum Leben und zur Persönlichkeit ihres Vaters.“ (S. VIII) Das sind eher ungewöhnliche Beweggründe, um ein derartiges Großprojekt anzugehen – und sie werden durchaus deutlich in dem hier zu besprechenden Werk. Natürlich hat es der Mitarbeit anderer Mathematiker und Mathematikhistoriker bedurft, um die Gesammelten Werke herauszugeben: Neben den bereits verstorbenen Friedrich Hirzebruch und Reinhold Remmert waren dies Walter Purkert und Erhard Scholz. Neben diesen Generalherausgebern gab es selbstverständlich noch viele andere Mitarbeiter – und keineswegs nur Mathematiker – an den einzelnen Bänden. Was erwartet den Leser dieser Biographie? Oberflächlich betrachtet geht es um 1083 Seiten Text, gefolgt von einem Register und einem Bildteil. Neben Vorwort, Hinweise für den Leser und Danksagung findet sich im separat paginierten Einleitungsteil auch noch ein Schriftenverzeichnis von Hausdorff/Mongré. Rein quantitativ ist das enorm und für Mathematikerbiographien sehr ungewöhnlich.

Aber man muss bedenken, dass Hausdorff eben nicht nur Mathematiker sondern auch als Paul Mongré Philosoph, Schriftsteller und Essayist gewesen ist. Folglich hat man es mit einer Art von Doppelbiographie zu tun. Der Text des Buches stammt in etwa gleichen Hälften von E. Brieskorn und von W. Purkert, letzterer hat dankenswerter Weise als Mitarbeiter der Hausdorff-Edition die äußerst schwierige Aufgabe übernommen, die Biographie zu Ende zu schreiben, die Brieskorn bei seinem Tode im Juli 2013 unvollendet hinterließ. Dabei konnte Purkert sich auf eine enorme Sammlung von Quellen stützen, die Brieskorn in den letzten Jahrzehnten angelegt hatte. Die beiden etwa gleich großen Hälften sind natürlich unterschiedlich in Duktus und Stil, dennoch ist ein kohärentes Ganzes entstanden. Es geht also um die Biographie von Felix Hausdorff, geboren 1868 in Breslau als Sohn einer jüdischen Familie. Dieser familiäre Hintergrund wird sehr detailliert ausgeleuchtet, die Kette der Vorfahren wird weit zurückverfolgt; auch die Frage nach der Bedeutung der jüdischen Religion und Kultur (vgl. S. 508ff) für Hausdorff und seine Familie wird ausführlich erläutert; das Thema Antisemitismus ist in dieser Biographie omnipräsent (vgl. etwa S. 42–55). Felix Hausdorff begann 1887 sein Studium in Leipzig, wo er nach Zwischenstationen in Freiburg und Berlin schließlich 1891 mit einer Arbeit zur rechnenden Astronomie promovierte. Es folgte eine Phase der Orientierung, in der sich Hausdorff u. a. mit Optik und Wahrscheinlichkeitstheorie beschäftigte. Nach erfolgter Habilitation 1895 mit einer Schrift zur atmosphärischen Extinktion und einem Probevortrag über das Gaußsche Fehlergesetz verbrachte Hausdorff ganze 15 Jahre als Privatdozent und Extraordinarius in Leipzig. Möglicherweise spielten bei dieser vergleichsweisen langen Zeitspanne unbezahlter Tätigkeit auch antisemitische Sentiments eine Rolle (vgl. etwa die Stellungnahme von Hausdorffs Lehrer Bruns S. 508). Es folgten Rufe nach Bonn (als planmäßiger, also bezahlter Extraordinarius), Greifswald (1913 als Ordinarius) und dann zurück nach Bonn (1921). Hier wirkte Hausdorff bis zu seiner Emeritierung 1935. Hausdorff nahm sich zusammen mit seiner Frau Charlotte und deren Schwester Edith Pappenheim im Januar 1942 das Leben und kam so der Deportation ins Sammellager Endenich zuvor.

Ein entscheidender Einschnitt (S. 293 ff) im Werdegang des Mathematikers Hausdorff war die Bekanntschaft mit der Mengenlehre, hier schreibt Brieskorn (S. 293–295) dem Vortrag von A. Hurwitz beim ersten Internationalen Mathematikerkongress in Zürich (ICM 1898)2 eine wichtige Rolle zu: „Ueber die Entwicklung der allgemeinen Theorie der analytischen Functionen in neuerer Zeit“. Darin zeigte Hurwitz, wie man die damals neuen mengentheoretischen Begriffe nutzbringend für funktionentheoretische Untersuchungen einsetzen kann. Hausdorff arbeitete von nun an intensiv in dem dadurch vorgezeichneten Gebiet; das bekannteste Resultat seiner Forschungen sind „Die Grundzüge der Mengenlehre“ von 1914 (S. 743 ff), die die Mathematik des 20. Jhs. nachhaltig beeinflussten3, u. a. indem sie der im Entstehen begriffenen Topologie einen begrifflichen Rahmen und eine Sprache zur Verfügung stellten. Dabei ist zu beachten, dass Mengenlehre hier breit zu verstehen ist, also unter Einschluss der heute so genannten Maßtheorie und der mengentheoretischen Topologie, dem Gebiet, zu dessen Ausgestaltung Hausdorff ganz wesentlich beigetragen hat, weshalb er als Begründer der mengtheoretischen Topologie bezeichnet wird. Hausdorff war ein vielseitiger Mathematiker, der sich auch mit Gebieten wie Dimensionstheorie („Dimension und Maß“ (1919), eine der bekanntesten Arbeiten von Hausdorff; vgl. S. 801 ff), Mengenlehre – hier ist u. a. die Auseinandersetzung mit Königs falschem Beweis (Vortrag ICM Heidelberg 1904) für die Unmöglichkeit der Wohlordnung der reellen Zahlen [S. 625 ff.]) zu nennen, den Hausdorff mit Hilfe seiner Rekursionsformel für die Exponentiation von transfiniten Kardinalzahlen widerlegte. Die Theorie der geordneten Mengen mit Stichworten wie Hausdorffscher Maximalkettensatz, verallgemeinerte Kontinuumhypothese und saturierte Strukturen wurde ein wichtiges Arbeitsgebiet von Hausdorff, das er stark beeinflusst hat. Auch zur Analysis (S. 896 ff) unter Einschluss der gerade im Entstehen begriffenen Funktionalanalysis [S. 823 ff, S. 962 ff]) beschäftigte und publizierte Hausdorff. Den Leserinnen und Lesern der „Semesterberichte“ geläufige Eponyme wie Hausdorff-Raum, Hausdorffsche Trennungsaxiome, Hausdorff-Metrik, Hausdorff-Maß und Hausdorff-Dimension, um nur eine Auswahl zu nennen, sind gängige Bestandteile der Mathematik geworden und zeugen vom großem Einfluss dieses Mathematikers. Hausdorffs Mathematik nimmt in der vorliegenden Biographie einen breiten Raum ein, sie wird ausführlich und detailliert behandelt. In Bonn fand er ein für ihn günstiges Umfeld, mit Kollegen wie E. Study, O. Toeplitz, J. O. Müller und E. Bessel-Hagen verstand er sich gut. All das wird in der vorliegenden Biographie detailliert dargelegt. Viele Beobachtungen und Reflexionen der Autoren der Biographie ergänzen das Faktenmaterial in anregender Weise. Als typisches Beispiel sei hier die Auseinandersetzung mit dem Raumproblem, eine „Leidenschaft“ von Hausdorff4, dem der Mathematiker Hausdorff mit erkenntniskritischer Tendenz seine Antrittsvorlesung widmete, genannt, die an verschiedenen Stellen der Biographie auftritt (S. 157 ff, S. 482 ff).5 Die Übergänge zur Philosophie sind fließend6 – wie das bei Hausdorff auch nicht anders sein kann, denn Hausdorff war ja auch Paul Mongré.

Neben dem soeben geschilderten Leben gab es also das vergleichsweise kurze von Paul Mongré, der zwischen 1897 und 1910 zahlreiche Schriften veröffentlichte und mit der Groteske „Der Arzt seiner Ehre“ (1904) zu einem erfolgreichen Theaterautor avancierte. Den Einflüssen, die Hausdorff als Mongré verarbeitete und prägten, wird im ersten Teil der Biographie detailliert nachgegangen: Nietzsche, Schopenhauer, Wagner sind hier drei entscheidende Namen. Die Detailtreue dieser Biographie erlebt einen Höhepunkt an der Stelle, an der Brieskorn sämtliche Motive aus den Opern Wagners identifiziert, die Hausdorff in seinen Mitschriften gewissermaßen zur Zerstreuung als Notenbeispiele notiert hatte (S. 107f n. 130 und 131).7 Die Musik, die er auch ausübend betrieb, war eine wichtige Konstante in Hausdorffs Leben, was an vielen Stellen der Biographie deutlich wird. Sie verband ihn mit vielen Freunden und Bekannten. Breit wird auch Mongrés Wirkung und Rezeption diskutiert, hier finden sich viele interessante Aufschlüsse zum kulturellen Leben der Zeit von 1890 bis etwa 1930. Es ist leider nicht möglich, alle diese reichen Inhalte hier auszubreiten8, was der Leser als zusätzliche Motivation nehmen möge, zu dem Werk von Brieskorn und Purkert selbst zu greifen. Man kann ihm kaum zu viel versprechen. Allerdings muss man sich auf eine anspruchsvolle Lektüre einstellen, oft hat man im ersten Teil den Eindruck, eine Erzählung im Stile von Tausendundeine Nacht zu lesen: Eine Geschichte beginnt, in der eine Geschichte beginnt, in der eine Geschichte beginnt ... Vielleicht hätte Brieskorn, wäre ihm dies vergönnt gewesen, seinen Teil noch einer gründlichen Überarbeitung unterzogen, so muss sich eben die Leserin oder der Leser doch erheblich anstrengen. Abhilfen wären hier denkbar wie ein detaillierteres Inhaltsverzeichnis, ein ausführlicherer Index, Tabellen z.B. mit den Vorlesungen Hausdorffs oder zu seinen wichtigsten Stationen. Kehren wir zum Schluss dieser notgedrungen kurzen Besprechung nochmals zu dem moralischen Impetus zurück, von dem am Anfang die Rede war. Leben und Leiden der Familie Hausdorff sowie aller Verfolgten unter den Bedingungen des Nationalsozialismus wird in dieser Biographie sehr plastisch. Man bekommt trotz der nüchternen und sehr faktenorientierten Darstellung – etwa werden die verschiedenen Stufen der Verfolgung von beginnender Exklusion (1933) bis hin zu im großen Maßstab geplanter und organisierter Ermordung (1941) genauestens beschrieben – einen Eindruck von dem ungeheuren menschlichen Leid, das hier angerichtet wurde. Auch das Verhalten von Hausdorffs Umgebung (Kollegen, Nachbarn, Freunde) wird ausführlich behandelt. Anders als Kollege und Freund O. Toeplitz, als Jude ebenfalls verfolgt und letztlich emigriert, blieb Hausdorff eher passiv; einen Versuch, sich zu engagieren oder gar zu wehren unternahm er nicht. Hervorheben möchte ich auch die Ausführungen des Epilogs (S. 1005 ff), in dem es hauptsächlich um die Würdigung Hausdorffs nach dem Krieg geht. Hier wird deutlich, wie geschichtsvergessen die vom Wunsch nach Wiederaufbau und Verdrängung beseelte Bundesrepublik lange Zeit war9. Es mag vor allem für junge Leser erstaunlich sein, wie spät hier erst die Versuche einsetzten, diese „dunkle Zeit“ (Maximilian Pinl10) auch in Bezug auf die Mathematik aufzuarbeiten. Insgesamt kann man die Verdienste von E. Brieskorn und W. Purkert kaum hoch genug schätzen. Sie haben ein sehr wertvolles und anspruchsvolles Werk vorgelegt, das zu Recht den krönenden Abschluss eines wichtigen Editionsprojektes bildet. Es verlangt den Leserinnen und Lesern Einiges ab – ganz im Sinne jenes Spruches, der früher gerne die Eingänge zu deutschen Gymnasien zierte und der dem klassisch gebildeten Hausdorff gewiss geläufig war (er hätte ihn in Latein zitiert): Steinig ist der Weg zu den Sternen. Aber ... es lohnt sich.

1 Aktuell fehlt noch ein Band, nämlich Band VI, der der Geometrie gewidmet sein soll.
2 Deutsche Universitätsmathematiker waren dort im Vergleich zu ihren Kollegen an Technischen Hochschulen eher unterrepräsentiert.
3 Der Rezeption dieses Buches ist ein ganzer Abschnitt der Biographie gewidmet (S. 867–879). Eine Umarbeitung unter dem Titel „Mengenlehre“ veröffentlichte Hausdorff 1927 (vgl. S. 879–896).
4 So eine Notiz von Hausdorff im Manuskript seiner Vorlesung „Zeit und Raum“; vgl. S. 157 der Biographie.
5 Der Text der Antrittsvorlesung wurde denn auch in Ostwalds Annalen der Naturphilosophie veröffentlicht, also einer philosophischen Fachzeitschrift. Bemerkenswert sind Brieskorns Überlegungen zur „Verräumlichung“
der Mathematik (S. 533f).
6 Zum Raumproblem ist hier vor allem auf Hausdorffs Buch „Das Chaos in kosmischer Auslese“ (1898) hinzuweisen; man vgl. S. 307–372.
7 Es sei angemerkt, dass die Ehefrau von E. Brieskorn Berufsmusikerin war; sie spielte Bratsche im Bonner Symphonieorchester.
8 Ein Beispiel: Hausdorffs Auseinandersetzung mit der Sprachphilosophie insbesondere von Fritz Mauthner (S. 547–566).
9 Hausdorffs Kollege Otto Toeplitz wurde dank Heinrich Behnke schon früh geehrt: Vgl. dessen Nachruf im ersten Band der „Mathematisch-physikalischen Semesterberichte“ 1949. Aber das war eher eine Ausnahme.

Rezension: Joachim Hilgert (Uni Paderborn)

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Oktober 2019, Band 66, S. 251–255
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags