a rich resource for young math enthusiastsTitu Andreescu und Branislav Kisačanin

XYZ Press, LLC;

Buch 1: 2014, xv + 220 Seiten, 59.95 US-$
ISBN 978-0-9885622-6-4

Buch 2: 2018, xii + 230 Seiten, 54.95 US-$
ISBN 978-0-9968745-5-7

Das qualitative Niveau des gymnasialen Mathematikunterrichts wurde und wird schon lange auf dem Altar der Abiturientenquote geopfert. Um ganz sicherzugehen, wird der Unterricht auch noch quantitativ reduziert. Die schulische Förderung mathematisch besonders begabter Schüler verkommt damit endgültig zu einer Farce – von wenigen institutionellen Ausnahmen wie Spezialschulen einmal abgesehen. Alternativen bieten am ehesten noch Schülerzirkel und Spezialistenlager, die verschiedentlich von Universitäten oder Vereinen organisiert werden. Ansonsten muß man hoffen, einen unglaublich engagierten Lehrer oder den passenden Bekanntenkreis zu haben. Gerade diese individuelle Förderung kann aber nur funktionieren, wenn die nötigen Ressourcen vor allem in puncto Literatur zur Verfügung stehen. Diese sollte sich einerseits an die Lehrer und Mentoren wenden, andererseits aber auch Schülern das Selbststudium ermöglichen. Eine Buchserie, die beide Zielgruppen zugleich adressiert, wurde von den Autoren Titu Andreescu und Branislav Kisačanin unter dem Titel Math Leads for Mathletes gestartet. Bislang sind zwei Bände erschienen. Der erste wendet sich schülerseitig vor allem an advanced fourth- and fifth-graders, der zweite an advanced sixth-graders; dies entspricht in etwa Kindern im Alter von 9 bis 11 bzw. 11 bis 12 Jahren.

math leads 2Beide Bücher haben den gleichen Aufbau: Kapitel 1 ist mit Concepts, Exercises, and Problems überschrieben, und Kapitel 2 enthält die Lösungen der Aufgaben des ersten Kapitels. Grundbestandteile des ersten Kapitels wiederum sind 33 bzw. 24 kurze Abschnitte, die sich jeweils einem konkreten Thema widmen, wie z.B. Letters and Digits oder Combinatorial Geometry. Schluß und Kernstück eines jeden Abschnitts bildet eine Reihe von etwa 8 Aufgaben, die meist in aufsteigender Schwierigkeit aufgelistet sind. Davor befindet sich oft eine mal hilfreiche, mal eher verwirrende Einführung in das Thema. Diese enthält manchmal die relevanten Definitionen und Aussagen sowie bisweilen einige Beispielaufgaben. Je etwa vier Abschnitte bilden einen Block. Diesen schließt jeweils ein Abschnitt nur mit Aufgaben ab. Zwischen den Blöcken gibt es sogenannte Spotlights. Diese eine Seite langen Abschnitte thematisieren jeweils einen Mathematiker (vor allem Buch 1) oder ein mathematisches Problem (vor allem Buch 2), stehen aber inhaltlich wenig bis gar nicht in Verbindung zu den angrenzenden Blöcken.

Die Stärke der Bücher besteht zweifelsohne in der Aufgabensammlung. Der Rest (vor allem in Band 1) wirkt oft wie ein Fremdkörper. Teilweise werden Trivialitäten erklärt, dann aber an wichtigen Punkten Sprünge gemacht. Liest man das Inhaltsverzeichnis, ahnt man als mathematisch Vorbelasteter eigentlich sofort, was einen erwartet. Man fragt sich nun, für wen das Buch wirklich gut sein soll. Für Schüler der jeweiligen Altersklasse? Das darf schon bezweifelt werden. Die Spotlights beispielsweise sind historisch ganz nett, gehen aber inhaltlich teils komplett an den Vorkenntnissen vorbei. Was soll ein Zehnjähriger mit der unkommentierten Formel \(e^{ix}=\cos x+i\,\sin x\) anfangen (Seite I/55)1? Oder mit der wenige Zeilen später angegebenen Eulerreihe für \(\pi^2/6\)? Komplexe Zahlen, Exponentialfunktion, unendliche Reihen? Direkt danach geht es mit Digits of Numbers weiter. Im übernächsten Spotlight, diesmal zur Eulerschen Konstanten e, erscheinen erneut die Eulerformel und ein Limes.

Apropos Limes: Im Grunde taucht dieses Konzept sogar bereits früher auf, nämlich unvermittelt bei Aufgabe 3 auf Seite I/40. Dort ist der unendliche Kettenbruch
\[
2-\frac{1}{2-\frac{1}{2-\ldots}}
\]

auszurechnen, freilich ohne daß „...“ erklärt wird. Die Musterlösung setzt einfach x für diesen Ausdruck, sagt, er erfülle \(x=2-\frac{1}{x}\), und schließt daraus, daß x = 1 ist. Diese Vorgehensweise ist höchst problematisch. Warum existiert x denn überhaupt? Kein Hinweis im Buch! Oder ist dies Fünftkläßlern bekannt? Sicher, ein Beweis dieser Aussage im Buch ist weder notwendig noch möglich, aber eine Bemerkung, daß dies zur vollständigen Lösung eigentlich noch fehlt, ist meines Erachtens essentiell. Leider ist dies nicht die einzige logische Lücke in diesem Buch. Da wird mal kommentarlos der Induktionsanfang weggelassen (Lösung zu 4. auf Seite II/101; nur verklausuliert bei 3. auf Seite II/100), Division durch 0 nicht ausgeschlossen (Lösung zu 10. auf Seite II/167) oder der Beweis in der falschen Richtung geführt (Umformungen auf Seite I/38 oder ähnlich bei Lösung zu 10. auf Seite I/181). Zwar sind die Lücken an den genannten und anderen Stellen schnell zu schließen, dafür ist jedoch eine Sensibilität für diese Gefahren erforderlich, die wohl kaum als angeboren vermutet werden kann, sondern auch und gerade Begabten vermittelt werden muß. Wir haben schon jetzt an der Universität riesige Mühe, diese auch im normalen Schulunterricht entwickelten typischen Fehlvorstellungen in mathematisch-logischer Grundbildung zu bekämpfen. Diese Probleme gehören nicht unter den Teppich gekehrt!

Logische Probleme sind das eine – didaktische das andere. Stellt man sich wieder einen Schüler vor, der sich durch die Bücher arbeitet, so wird dieser an vielen Stellen stutzen, weil immer wieder ohne weiteren Kommentar Begriffe oder Strategien eingeführt werden, die wohl kaum bekannt sein dürften. Das ist besonders befremdlich, weil einige später plötzlich tatsächlich vorgestellt werden. Die Musterlösungen in Band 1 verwenden teilweise sogar Konzepte, die erst in Band 2 eingeführt werden. Dies betrifft zum Beispiel das Schubfachprinzip und das Prinzip der vollständigen Induktion. Und um nur eine Bezeichnung zu nennen: Die Aufgaben auf Seite I/11 enthalten lauter Terme wie z.B. \(4^{92}\div 4^{90}\), die berechnet werden sollen. Warum wird die Potenz dann erst auf Seite I/21 eingeführt? Oder warum überhaupt? Bisweilen mag man auch einen viel früher eingeführten Begriff bereits wieder vergessen haben. Dann rächt sich ein weiterer großer Mangel dieser Bücher: Der Index fehlt. Und auch sonst gibt es fast keine Verweise. Nicht mal ein Literaturverzeichnis findet sich (von Verlagswerbung abgesehen). Dies schränkt den Nutzen des Buches enorm ein, gerade für Schüler. Oder geht man davon aus, daß die sowieso alles ergoogeln?

Zusätzlich zu diesen Schwächen im Aufbau des Buches gibt es vor allem in den einführenden Teilen eine Reihe von zunächst verwirrenden Aussagen. Exemplarisch möchte ich den Einstieg in Abschnitt Fractions zitieren (I/36):

How many shaded hexagons are there in the following figure?

[Bild: 3 reguläre Sechsecke, die jeweils aus 6 regulären Dreiecken bestehen]

We can easily count three shaded hexagons. How would we count the following part of the hexagon?

[Bild: Figur, die aus den 4 linkesten Dreiecken des mittleren Sechsecks besteht]

Fractions. The answer is fractions. [...]

Aber auch die Lösungen der Aufgaben sind teilweise verbesserungsfähig.2 Wieder nur als Beispiel die Lösung von Aufgabe 11 in Abschnitt Digits of Numbers (I/156f.).

Die Aufgabe selbst ist ein sehr schönes Problem:

What is the greatest possible common divisor [d] of three-digit numbers abc, bca, and cab, when a, b, and c are all distinct?

Die Musterlösung leitet zunächst ab, daß die Summe der drei Zahlen gleich \(3\cdot37\cdot(a+b+c)\) ist, dies also ebenfalls von d geteilt wird. Dann wird gemeint, man könne wegen \(111\!\not |\;d\) nun die Fälle \(d=37k\) probieren (warum nicht \(d=(a+b+c)k\)?). Die Argumentation wird hier aber abgebrochen, und es wird unter Verweis auf die aufwendige Rechenarbeit plötzlich ein MATLAB-Programm angegeben, welches per brute force die Aufgabe in a fraction of a second  löse. Es mag dahingestellt sein, ob dies ein gutes Bild für die Anwendung des Computers in Mathematik oder Mathematikunterricht darstellt, denn die Aufgabe ist problemlos mit elementaren Mitteln lösbar.3 Der Leser bleibt dagegen ratlos mit der Frage zurück, ob man eigentlich voraussetzen darf, daß Zehnjährige MATLAB können.

Wenn diese Bücher für Schüler suboptimal sind, bringen sie denn wenigstens mehr für Eltern, Lehrer und Mentoren, wie der Untertitel verheißt? Jein. Auch hier sind die Aufgaben an sich die wertvollste Ressource. Guten Lehrern sollte es bei der Betreuung der Schüler gelingen, die Schwächen im Aufbau, vor allem in den Einleitungen, auszubügeln – sei es durch eine geschickter gewählte Reihenfolge von Themen und Aufgaben, sei es durch Bereitstellung geeigneter Zusatzliteratur. Zudem könnten einige leicht schließbare Lücken in den Büchern auf diese Weise beseitigt werden. Die vielleicht einfachste betrifft die Modulorechnung, die gerade für begabte Schüler keine große Hürde darstellt. Hier fehlt sie als Konzept komplett, obwohl sich die Abschnitte 8 The Last Digits of an Integer in Buch 1 sowie 26 Around the Division Algorithm in Buch 2 im Grunde genau um dieses Thema drehen und dabei kommentarlos dessen Regeln verwenden. Bei anderen Themen fragt man sich, ob dort nicht sogar ein gutes Schulbuch in Mathematik die bessere Alternative gewesen wäre.

Den Rezensenten beschleicht das Gefühl, daß Startpunkt des Buches ein großer Aufgabenfundus der Verfasser war. Man hätte diese Sammlung nun geeignet sortiert veröffentlichen können; dies hätte allerdings die Bücher deutlich dünner gemacht, wodurch der Wert freilich nicht sonderlich geschmälert worden wäre. Statt dessen wurden vermutlich nach der Zuordnung der Aufgaben zu den verschiedenen Themen relativ isoliert Einführungen geschrieben. Anders läßt sich die Sprunghaftigkeit im Aufbau, vor allem das häufige Verwenden von Konzepten vor deren Einführung aus Sicht des Rezensenten nicht erklären.

Die Bücher werden im Vorwort von den Autoren als unique beschrieben, denn beide seien a collection of topics and problems used in high quality programs for young gifted children. Zudem sei die Serie the first book series containing such diverse ideas, examples, and challenges at this level. Der Rezensent kann diese Einschätzungen, vor allem die Begründung der ersten nicht nachvollziehen. Selbst wenn den Autoren – was angesichts des Werdegangs zumindest des einen4 extrem unwahrscheinlich erscheint – die durchaus umfangreiche originale russische Literatur auf diesem Gebiet unbekannt sein sollte, so gibt es hier durchaus auch Bücher in englischer Sprache. Beispielsweise erschien bereits vor über 20 Jahren in der AMS-Reihe Mathematical World die Übersetzung Mathematical Circles des Buches von Genkin5, Itenberg und Fomin. Dieses Buch basiert nach eigener Angabe zwar auf einem Curriculum für etwas fortgeschrittenere Schüler, hat aber dennoch einen deutlichen inhaltlichen Überlapp mit der hier rezensierten Reihe, vor allem deren Band 2. So thematisiert dort Kapitel 4 das Schubfachprinzip, Kapitel 9 die vollständige Induktion. Ebenfalls in englischer Sprache erscheint die 2008 (also deutlich vor der hier rezensierten Buchreihe) gestartete und mittlerweile über 20 Bände umfassende Mathematics Circles Library – eine Ko-Produktion von MSRI und AMS, die Lehrer und Schüler verschiedenster Klassenstufen anspricht. Darüber hinaus gibt es englischsprachige Bücher mit dem Schwerpunkt Problemlösung. Der Klassiker Problem-Solving Strategies von Arthur Engel sei hier nur als Beispiel genannt, auch wenn dieser eher an etwas ältere Schüler gerichtet ist.

Letztlich handelt es sich bei der Buchserie Math Leads for Mathletes um eine thematisch vorsortierte Ansammlung durchaus hübscher mathematischer Aufgaben, deren Lösung jedem Schüler Gewinn bringt. Die Rahmenhandlung birgt dagegen enormes Verbesserungspotential: Verweise fehlen fast völlig, ein Index ganz, die Abfolge der Themen ist teilweise recht erratisch, die jeweiligen Einführungen sind trotz guter Beispiele nicht immer zweckmäßig. Wenn mich ein Schüler fragte, ob diese Bücherreihe zum unbetreuten Selbststudium geeignet ist, würde ich dies unabhängig von seinen Englischkenntnissen verneinen. Für Lehrer kann sie als Ergänzung und vor allem als guter Aufgabenfundus dienen.

Danksagung: Der Rezensent dankt der Eberhard-Zeidler-Bibliothek des Leipziger Max-Planck-Instituts für Mathematik in den Naturwissenschaften sehr herzlich für den Zugang zu den im Text genannten Büchern. Die beiden Mathletes-Bücher wurden dem Rezensenten zudem kostenfrei von der AMS zur Verfügung gestellt.

1 Die Angaben „I“ und „II“ beziehen sich jeweils auf Band 1 bzw. 2.
2 Einzelne sind sogar falsch, wie z.B. die zu 10. auf Seite II/208.
3 Man erhält sofort auch \(d|10\cdot\overline{abc}-\overline{bca}=33\cdot 37\cdot a\); analog für b und c. Hieraus ergibt sich, daß 4, 5 und 7 keine Teiler von d sind und für 2 | d auch alle Ziffern gerade sind. Für 3 | d erhält man \(37\!\not |\;d\) , mithin \(d|3(a+b+c)\leq 72\) und \(d|3^3\cdot\mbox{ggT}(a,b,c)\), also wegen \(\mbox{ggT}(a,b,c)\leq 3\) bereits \(d|54\), wobei aus \(37| d > 54\) sofort \(a+b+c=18\) mit geraden Variablen, also \({a,b,c}={4,6,8}\) folgt; in der Tat ist \(\mbox{ggT}(a,b,c)=54\). Den Fall \(37|d>54\) kann man schnell ausschließen, \(d|a+b+c\) wegen \(a+b+c\leq 24<54\) aus Gründen der Maximalität in den Restfällen sowieso. Damit ist das maximale d gleich 54.
4 Wenn man Wikipedia Glauben schenken darf, ist Titu Andreescu in Rumänien aufgewachsen und bereits dort über Jahre auf dem Gebiet der Schülerförderung tätig gewesen.
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Rezension: Christian Fleischhack (Uni Paderborn)

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, März 2020, Band 67, S. 103-107.
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags