das gesetz der ansteckungAdam Kucharski

S. Hirzel Verlag; 1. Edition (13. Oktober 2020), 344 Seiten, 26 €
Kindle-Version: 22,90 €
ISBN-10: 3777629049
ISBN-13: 978-3777629049

Vor einem Jahr noch hätten viele Menschen recht wenig oder gar nichts anfangen können mit Begriffen wie Reproduktionszahl, Herdenimmunität, Clusterbildung und Superspreader. Jetzt im November 2020 treten sie fast täglich in Zeitungs-, Radio- und Fernsehberichten auf. Bei Google wird die Anzahl der Suchergebnisse zum Begriff „Superspreader“ mit rund fünfeinhalb Millionen angezeigt und zum deutschsprachigen BegriffReproduktionszahl“ mit immerhin noch 870.000 (17. 11. 2020, 16 Uhr).

Da hat Adam Kucharski mit seinem Buch den Nerv der Zeit getroffen. Der Autor hat Mathematik und Epidemiologie studiert und unterrichtet jetzt als Professor an einer Londoner Universität, wo er Ausbruchsverläufe von Infektionskrankheiten mit Hilfe mathematischer Verfahren analysiert. Demzufolge bildet das Phänomen der Ansteckung bei Epidemien einen Schwerpunkt in diesem Buch. Es werden Ansteckungseffekte aber nicht nur in medizinischen, sondern auch - der Untertitel deutet das schon an - in weiteren, davon ganz verschiedenen Bereichen wie der Soziologie, Psychologie und der Finanzwirtschaft untersucht und beschrieben.

Die historische Entwicklung der mathematischer Modellierung von Infektionskrankheiten beginnt Ende des 19. Jahrhunderts am Beispiel der Malaria mit dem englischen Arzt Ronald Ross, der schon im Jahre 1902 den Medizin-Nobelpreis erhielt für seine Untersuchungen, „durch die er nachwies, wie die Krankheit in den Organismus gelangt“ - so damals die Begründung des Nobelkomitees. Seine Anregungen wurden in den 1920iger Jahren von zwei englischen Ärzten wieder aufgenommen, sie entwickelten ein mathematisches Modell, das sogenannte SIR-Modell, das eine Bevölkerung nach ihrem Gesundheitsstatus in drei Kategorien aufteilte: Personen die empfänglich (susceptible), ansteckend (infectious) oder genesen (recovered) sind. Diese Merkmale liegen auch den heutigen Modellierungen noch zugrunde.

Der Autor beschreibt die weitere Entwicklung der Epidemiologie nicht kontinuierlich, sondern stellt sie an den Stellen im Buch vor, an denen sie sich von der Sache her ergeben: nämlich da, wo sie benötigt werden, um die Verbreitung und Eindämmung „moderner“ durch Viren verursachter Epidemien wie z. B. HIV, Dengue-Fieber, Ebola oder Zika zu verstehen. Diese Vorgehensweise von Kucharski ist, wie ich meine, sehr geschickt; der Text lässt sich bei aller Wissenschaftlichkeit leicht und spannend lesen.

Für den Laien verblüffend ist, dass sich mit demselben „Werkzeugkasten“ Ereignisse wie Börsencrashs, Terroristen-Bewegungen wie dem IS, die Verbreitung von wissenschaftlichen Erkenntnissen genau so wie von Werbe-Aktionen und Fake News beschreiben und prognostizieren lassen.

Und so ist es nur konsequent, dass Epidemiologen z. B. bei der Analyse und Bewältigung der Finanzkrise von 2007/2008 eingesetzt wurden. Denn die Finanzschwierigkeiten der Banken haben sich von einer zur anderen verbreitet oder deutlicher: die eine hat die andere infiziert. Solche Ereignisse zu untersuchen, ist das tägliche Brot von Epidemiologen.

Aber auch für die Analyse von Beziehungen in sozialen Kontexten sind diese Wissenschaftler als Fachleute gefragt. Kontakte zwischen Menschen treiben solche Ansteckungseffekte mit ähnlichen Mechanismen voran: das gilt für elementare Ereignisse wie Gähnen („Gähnen ist ansteckend!“) oder Lachen genau so wie für die Akzeptanz von Innovationen bis hin zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse oder umgekehrt auch deren Leugnung. Besondere Bedeutung haben solche Prozesse durch das Internet, die zunehmende Kommunikation mit E-Mails (nach dem Jahr 2000) und durch die sozialen Medien (ab 2010) gewonnen.

Schon in der „Frühzeit“ der PC‘s in den 1980iger Jahren macht eine neue „Art“ von Viren Furore: Computerviren (und andere Malware wie Würmer) bedrohen zunächst einzelne Computer (verbreitet durch Disketten) und später über das Internet z. B. per Mail  sehr schnell ganze Computernetze (die Malware erhält hier weitere Vertreter wie z. B. Bots oder Trojaner). Ansteckungswege über Rückverfolgung aufzudecken, das ist hier dieselbe Methode wie bei einer Pandemie.

Während es dort darum geht, Infektionen möglichst zu vermeiden, ist man in anderen Bereichen sehr daran interessiert „Ausbrüche“ effektiv voranzutreiben. Kucharski beschreibt eindrucksvoll, mit welchen Methoden personalisierte Werbung betrieben wird. Genauso interessant sind die Verfahren, mit denen Informationen und – schlimmer und erschreckend – Desinformationen über soziale Medien und Kanäle wie Youtube verbreitet werden. Algorithmen bieten dem Nutzer z. B. Nachrichten (Newsfeed bei Facebook) oder Videos (Youtube) an, von denen zu erwarten ist, dass sie bei diesem auf Interesse stoßen und ihn zu weiterem Clicks „verführen“ – so  entstehen die oft beklagten „Echokammern“ bzw. „Filterblasen“.

Auf Social-Media-Plattformen wird untersucht, mit welcher Verdoppelungszeit sich eine Nachricht verbreitet, die Reproduktionszahl dient als wichtige Kennzahl nicht nur bei Pandemien, sondern auch bei Werbekampagnen. Auch bei der Prävention von Gewalt (angefangen bei Jugendkriminalität, über Amokläufe bis hin zu den Aktionen des IS) sucht man nach Superspreading-Effekten. Und „Herdenimmunität“ kann auch bei der Verbreitung eines neuen Internetspiels entstehen.

Dem Autor gelingt es überzeugend, die in der Medizin und Epidemiologie entwickelten Verfahren zur Ausbreitung und Eindämmung an Beispielen zu erläutern und dabei zu demonstrieren, wie hilfreich diese Instrumente auch für andere Gebiete sind. Dabei braucht er keine mathematische Formel (mit einer einzigen Ausnahme), Grafiken veranschaulichen seine Erklärungen gut. Der hohe Grad an Wissenschaftlichkeit wird durch die große Anzahl von Fußnoten (ca. 600) belegt, zum Glück sind sie nicht auf den einzelnen Seiten, sondern im Anhang aufgeführt.

Das Buch ist spannend und hochinformativ von der ersten bis zur letzten Seite.

Rezension: Hartmut Weber (Kassel)