genese des zahl und zeitbegriffsJörg Witte

Wallstein Verlag GmbH; 1. Edition (19. Oktober 2020); 280 Seiten; 24 €

Kindle-Ausgabe: 18,99 €
ASIN: ‎B08KTGJ6SH

In den 1970er Jahren entwickelte der Psychologe Endel Tulving seine Theorie des Gedächtnisses. Er unterschied zwischen dem episodischen Gedächtnis (das Dinge speichert, die man persönlich erlebt hat) und dem semantischen Gedächtnis (das Dinge speichert, die man weiß). Wie Jörg Witte in seiner Abhandlung ausführt, gehen mit diesen Erinnerungsformen unterschiedliche Zeit- und Zahlvorstellungen einher. Zur episodischen Erinnerung assoziiert er einen linearen Zeitbegriff und die Idee der Ordinalzahl (zuerst kommt dies, dann das, dann jenes etc.); dazu baut er die Idee der episodischen Erinnerung zu der der rekursiven episodischen Erinnerung aus (ich erinnere mich, dass ich mich gestern an etwas erinnert habe etc.). Im Unterschied dazu korrespondiert mit der semantischen Erinnerung ein zyklischer Zeitbegriff und die Idee der Kardinalzahl. Erst der Mensch der Neuzeit war zur episodischen Erinnerung fähig, während im Mittelalter und der Antike die semantische Erinnerung als Abbild eines göttlichen Plans vorherrschte.

Dies sind die Grundideen, die in diesem Buch entwickelt werden. Mit "Zahl" ist fast immer eine "natürliche Zahl" gemeint; auf die Null und negative Zahlen geht der Autor nicht ein. Hingegen stellt er sehr wohl (positive) reelle Zahlen als Zeitpunkte vor, die die Vergangenheit von der Zukunft trennen; Fachleute erkennen an dieser Stelle die Idee des Dedekindschen Schnitts wieder. Der Theorie des Gedächtnisses folgend beginnt der Autor bei Zahl- und Zeitvorstellungen der Renaissance und folgt dem Gedächtnisstrom zur Antike und den vorderasiatischen Kulturen. Jörg Wittes Buch ist eine anregende Lektüre für alle, die sich mit den hier angesprochenen erkenntnistheoretischen Fragen auseinandersetzen möchten.

Rezension: Dirk Werner (FU Berlin)