die poesie der primzahlen

Die Poesie der Primzahlen

Daniel Tammet
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG (24. Februar 2014), 19,90 €

ISBN-10: 3446438777
ISBN-13: 978-3446438774

Daniel Tammet, der Autor dieses Buchs, gilt als „Inselbegabter“: Während er nach eigenen Angaben mit elementaren Dingen wie dem Einprägen von Gesichtern Schwierigkeiten hat, vollbringt er in anderen, speziellen Bereichen erstaunliche Leistungen. Innerhalb von nur einer Woche lernte er zum Beispiel so gut isländisch, dass er in dieser als recht kompliziert geltenden Sprache ein Fernsehinterview geben konnte. Auch Rechnungen mit großen Zahlen oder vielen Nachkommastellen kann er verblüffend schnell im Kopf lösen.

Bekannt geworden ist er durch seine bisherigen Bücher (z.B. „Elf ist freundlich und Fünf ist laut“), Fernsehinterviews und nicht zuletzt durch seinen bis heute ungebrochenen Rekord im Auswendiglernen von Nachkommstellen der Zahl π.

Mit diesen Fähigkeiten weckt Tammet sowohl das Interesse von Wissenschaftlern als auch das der Öffentlichkeit. Was geht im Kopf eines Menschen vor, der solche Leistungen vollbringt?

Im Gegensatz zu anderen Inselbegabten kann Tammet sich sehr gut über die Vorgänge in seinem Kopf ausdrücken und so auch der Öffentlichkeit Einblicke in seine Gedankenwelt gewähren. Die Aussicht auf diese Einblicke ist, neben dem schieren Erstaunen über seine Fähigkeiten, sicherlich der Grund für das große öffentliche Interesse an seiner Person und an seinen Büchern.

Wer in dem Buch „Die Poesie der Primzahlen“ nach Erkenntnissen über die besondere Gedankenwelt Tammets sucht, wird jedoch leer ausgehen. In diesem Buch zeigt sich der Autor schlicht als mathematisch, historisch und literarisch interessierter Laie. Das Buch besteht aus 25 Kapiteln zu jeweils etwa 10 bis 15 Seiten. Die einzelnen Kapitel behandeln sehr unterschiedliche Themen: Einige sind autobiographisch, wie z.B. ein Kapitel über Tammets Mutter. Andere behandeln Schriften großer Denker, z.B. Platons nie verwirklichte Planung einer idealen Stadt.

Die Kapitelüberschriften klingen fast durchweg verheißungsvoll – „Einsteins Gleichungen“ oder „Die bewundernswerte Zahl π“ etwa lassen Tiefsinniges erwarten. Leider enttäuscht das Buch in dieser Hinsicht. Unter „Einsteins Gleichungen“ etwa wird eine einzige Gleichung (nämlich die fast schon Redensart gewordene Formel „e=mc2“) kurz erwähnt. Im Übrigen handelt das Kapitel eher von der Ästhetik der Mathematik und der Freude an mathematischer Erkenntnis, die anhand kurzer, zum Teil autobiographischer Anekdoten beschrieben wird.

Auch die meisten übrigen Kapitel haben eher den Charakter einer netten Plauderei als den einer wirklich interessanten und tiefgründigen Darstellung. Auffällig ist jedoch eine große Sorgfalt, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen sind viele Themen offenbar sehr genau recherchiert worden, beispielsweise das Kapitel „Unsichtbare Städte“. Zum anderen lässt Tammet auch eher banal anmutenden Beobachtungen große Aufmerksamkeit zukommen. Letzteres wirkt zum Teil allerdings irritierend: So endet das Kapitel „Eingebungen im Klassenzimmer“ mit einem Zitat einer Nachhilfeschülerin Tammets: „Dann kam sie zu einer wunderschönen Erkenntnis über das Bruchrechnen, die ich nie vergessen werde: Sie sagte, 'Es gibt nichts, dessen Hälfte nichts wäre'“. Sieht man einmal davon ab, dass die Hälfte von Null durchaus Null ist, wirkt diese sehr einfache sogenannte Erkenntnis an ihrer exponierten Position am Kapitelende ein wenig bizarr. Den meisten Lesern wird diese „Eingebung“ grundvertraut sein. Derartige Phrasen im Laufe des Buchs immer wieder anzutreffen, kann den Lesegenuss durchaus schmälern.

Tammets Darstellung der autobiographischen Themen wirkt an einigen Stellen etwas unbescheiden oder zumindest unbeholfen. Beispielsweise berichtet er in dem Kapitel „Die bewundernswerte Zahl π“ über einen Rekord, bei dem er an der Universität in Oxford in gut fünf Stunden über 20.000 Nachkommastellen von π auswendig aufsagte. Tammet beschließt dieses Kapitel mit den Worten „Fünf Stunden und neun Minuten lang war die Ewigkeit zu Besuch in Oxford“. Da man in Oxford durchaus auch Mathematik studieren kann und die Zahl π in Mathematik-Vorlesungen kein seltener Gast ist, wirkt diese Äußerung, wie viele ähnliche Äußerungen auch, etwas befremdlich und fehl am Platz.

Solche Äußerungen passen übrigens nicht zu dem eher schüchternen und bescheidenen Eindruck, den Tammet bei seinen Auftritten im Fernsehen hinterlässt. Auch Tammets Beschreibungen historischer Persönlichkeiten wirken untypisch für ihn. Während er in seinen Ausführungen für gewöhnlich die Aufmerksamkeit auf Dinge oder Muster richtet und nicht auf Menschen, wird er in diesem Buch etwa bei der Beschreibung des persischen Gelehrten Khayyám sehr konkret: „Wenn das Sonnenlicht durch die Lattengitter seines Arbeitszimmers schien, bildete es geometrische Formen an den Wänden. Aus Khayyáms Feder floss [...]“. Ähnlich kurze Ausschmückungen tauchen in dem Buch immer wieder auf, bleiben jedoch sowohl inhaltlich als auch stilistisch isoliert und ohne erkennbaren Bezug zu Tammets weiteren Ausführungen.

Der Titel „Die Poesie der Primzahlen“ weckt womöglich falsche Erwartungen, da dies tatsächlich nur eine Kapitelüberschrift ist, unter der das Thema Primzahlen, wie die meisten anderen Themen auch, in mathematischer Hinsicht nur sehr oberflächlich behandelt wird. Wer sich von diesem Buch gute Unterhaltung erhofft, muss an einigen Stellen über die irritierende und womöglich überheblich wirkende Unbeholfenheit des Autors, insbesondere bei der Darstellung seiner eigenen Person, hinwegsehen. Im Vergleich zu anderen populärwissenschaftlichen Büchern ist das Buch zum größten Teil inhaltlich flach, einige Kapitel jedoch behandeln Ungewöhnliches und gut Recherchiertes. Über das spezielle Denken eines Inselbegabten gibt das Buch meiner Meinung nach keinen Aufschluss – Tammets Gedankengänge sind ganz gewöhnlich für einen mathematisch interessierten Menschen. Lesenswert ist das Buch meines Erachtens am ehesten für literarisch und historisch Interessierte, da es in dieser Hinsicht den größten Neuigkeitswert besitzt.

Rezension: Annika Meyer (FH Südwestfalen)