cantor

Georg Cantor
Der Jahrhundertmathematiker und die Entdeckung des Unendlichen

David Foster Wallace
Piper, 2007, 418 Seiten, 22,90 EURO

ISBN: 3-492-04826-9

Der insbesondere durch seine Kurzgeschichten bekannte amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace widmet sich der Mathematik und schreibt eine Biographie über Georg Cantor. Dies allein ist schon eine recht ungewöhnliche Nachricht. Sie muss allerdings an dieser Stelle bereits wieder ein wenig revidiert werden. Foster Wallace widmet sich zwar sehr wohl der Mathematik und auch Georg Cantor, nur eine Biographie von dem bedeutenden Mathematiker hat er nicht geschrieben. Eher eine Biographie des mathematischen Begriffs der Unendlichkeit. Der Titel ist daher unglücklich, da verwirrend gewählt. Der Untertitel, "Der Jahrhundertmathematiker und die Entdeckung des Unendlichen", kommt dem Ganzen schon etwas näher, stiftet jedoch auch wieder Verwirrung, da es sich hier nicht um eine Entdeckung des Unendlichen handelt, sondern um kontinuierliche Versuche, den Begriff Unendlich mathematisch fassen zu können und ihn mit all seinen sich ergebenden Problemen in die Mathematik einzugliedern. Der englische Titel lautet übrigens "Everything and More - A Compact History of ∞", welcher absolut treffend ist, und es stellt sich wieder einmal die Frage, warum solche Titel nicht korrekt übersetzt werden können.
Eine kompakte Geschichte von Unendlich, das ist es nämlich, was Foster Wallace hier vorlegt. Ausgehend von der antiken Philosophie der Griechen, über viele Stationen, wie Newton und Leibniz, bis hin zu eben Georg Cantor, der es letztlich vollbrachte (natürlich nicht allein, aber mit einem bedeutenden Anteil) den Begriff Unendlich derart in die Mathematik einzubauen, wie er bis heute verwendet wird.
Dass es dabei immer wieder große Probleme und viele Ansätze gab, welche in die "falsche" Richtung führten (der Begriff falsch ist hier nicht unbedingt ideal, da auch diese Ansätze das Ganze weiterbegracht haben), zeigt er in faszinierender Weise auf. Es ist gut, festzustellen, dass David Foster Wallace weiß, wovon er schreibt, auch wenn es manchmal um höhere mathematische Theorien geht.
Seine Erklärungen zum Begriff der Eins zu Eins Übereinstimmung  zu Beginn des Buches ist anhand der Tatsache, dass man die Quadratzahlen und die natürlichen Zahlen in einer ebensolchen Eins zu Eins Übereinstimmung einander zuordnen kann sehr gut dargestellt, und er liefert damit die Grundlage zum Verständnis von Cantors späterer Defintion der Gleichmächtigkeit von Mengen. Mit diesem Beispiel widerlegt er auch für den Leser nachvollziehbar das 5. Axiom Euklids, welches heißt, dass das Ganze immer größer ist, als ein Teil. Damit zeigt er bereits zu Beginn, dass bei unendlichen Mengen Phänomene auftreten können, welche der Intuition widersprechen. Euklids 5. Axiom ist für alle endlichen Mengen natürlich richtig.
Wallace versteht die Probleme und Entwicklungen und kann sie daher mit seinem Talent für Sprache und Literatur auch gut in einen allgemein verständlichen Text umsetzen. So schafft er es, ebenso leicht verständlich über mathematische Beweise oder Probleme der Kontinuumshypothese zu berichten wie auch über den pythagoreischen Bund, welcher "die Zahl zu einer Art Religion erhob" und beispielsweise die Vorstellung der Oktave und der harmonischen Quinte in der Musik entdeckte. Dies geschah durch die Beobachtung, dass diese bestimmten Längenverhältnissen gezupfter Saiten entsprachen (z.B. 2 zu 1 oder 3 zu 2). Da Saiten und Linien für sie geometrisch-mathematische Grundformen waren, entsprach das Verhältnis der Saitenlängen genau dem Verhältnis ganzer, also rationaler Zahlen, welche eben auch "die grundlegenden Entitäten der pytagoreischen Metaphysik" sind.
Zu erwähnen ist bei seiner Vorgehensweise, dass er viele Vereinfachungen, Auslassungen und Verkürzungen vornehmen muss, um ein Buch für ein Allgemeinpublikum zu schreiben. Dies wird er auch während des laufenden Textes nicht müde zu erwähnen, und man muss sagen, dass man als Leser irgendwann den Punkt erreicht, an dem man dem Autor mitteilen möchte: "Ja, wir haben es verstanden. Es müssen Kompromisse zwischen mathematischer Genauigkeit und Allgemeinverständlichkeit gemacht werden. Man muss uns nicht alle drei Seiten darauf hinweisen."
Trotz all dieser Auslassungen und Verkürzungen finden sich jedoch immer wieder interessante Details geschildert, wie z. B. ein Zitat von Thomas von Aquin:
"Die Existenz einer tatsächlichen unendlichen Vielfalt ist unmöglich. Für jede Menge an Dingen, die man betrachtet, muss es eine definierte Menge geben. Und Mengen von Dingen sind durch die Zahl, der in ihnen enthaltenen Dinge definiert. Nun ist keine Zahl unendlich, denn die Zahl kommt zustande, wenn man eine Menge in ihren Einheiten abzählt. Demnach kann keine Menge von Dingen ihrer Natur nach unbegrenzt sein, noch kann sie zufällig unbegranzt sein."
Dieses Zitat bezeichnete Cantor später in seinen Mitteilungen zur Lehre vom Transfiniten von 1887 als den historisch einzig wahrhaft bedeutsamen Einwand gegen die Existenz eines tatsächlichen ∞.
Wallace zeigt auch an dieser Stelle die beachtliche Tatsache auf, dass in Thomas von Aquins Darstellung bereits ∞ als "Menge von Dingen" behandelt wird und der dritte Satz des Zitats doch stark an die Definition der Kardinalzahl von Cantor und Dedekind 600 Jahre später erinnert.
Sehr interessant und zugleich Stärke des Buches wegen der Originalität, als auch ein Problem (aufgrund von Mängeln, die eigentlich zu beheben wären) ist seine Konzeption. Foster Wallace wählt bewusst eine Aufteilung in Paragraphen und Unterparagraphen, was schon in der äußeren Form an wissenschaftliche, insbesondere mathematische Lehrbücher erinnert. Da er häufig auf vorhergehende oder noch folgende Paragraphen verweist, stellt es sich jedoch als ziemlich ärgerlich heraus, dass es kein ausreichendes Inhaltsverzeichnes gibt, bzw. man in dem kurzen vorhandenen Inhaltsverzeichnis nur findet: Hauptteil §§ 1 bis 7 ab Seite 11. Das Finden der vom Autor gegebenen Referenzen wird dadurch sehr mühselig.
Ein weiterer dieser originellen Punkte, die jedoch auch ihre Probleme mit sich bringen, ist seine starke Neigung zu Abkürzungen. In einem speziellen Vorwort wird einem erklärt, dass beispielsweise einige Fußnoten und Textstellen als FESI gekennzeichnet sind, was für "Falls es Sie interessiert" steht und Leser, welche nicht an allen mathematischen Details interessiert sind, darauf hinweisen soll, dass dieser Abschnitt guten Gewissens übersprungen werden kann, ohne im weiteren Text beeinträchtigt zu werden. Auch werden häufig zitierte, meist mathematische Ausdrücke wie  Fundamentalsatz der Infinitesimalrechnung oder Platons Argument vom Vorrang des Allgemeinen vor den Einzeldingen durch FSI und VAE abgekürzt. Dies sind nur zwei Beispiele einer Vielzahl solcher Abkürzungen, die im laufenden Text auftauchen und welche der Autor im oben angesprochenen Vorwort als zum Teil platzsparend, zum Teil wegen der häufigen Wiederholung in kurzer Zeit und als Fachbegriffe mit hochspezifischer Bedeutung, welche kein Synonym wiedergeben kann, rechtfertigt. Zum Abschluss des Vorworts findet man dann ja auch ein eineinhalbseitiges Abkürzungsverzeichnis. Das Problem ist nur, dass es dem Leser mit der Zeit auf die Nerven gehen kann, ständig zu diesem Abkürzungsverzeichnis zurückzublättern, da man sich alle aufgelisteten Abkürzungen einfach nicht merken kann. Was sich jedoch als weitaus größeres Problem herausstellt, ist, dass man mit der Zeit merkt, dass dieses Verzeichnis nicht annähernd vollständig ist und immer wieder Abkürzungen auftauchen, die dort nicht zu finden sind. Dies beschert dem Leser dann einen noch größeren Aufwand, da er die vorhergehenden Seiten durchforsten muss, wo diese Abkürzungen herkommen und was sie bedeuten.
Zu kritisieren bleibt noch, dass die Fußnoten zum Teil überflüssig, weil trivial sind und dass manche der mathematischen Ausdrücke und Formeln nicht korrekt sind. Dies ist jedoch wohl eher eine Kritik an den Herausgeber.
Trotz all dieser kritischen Anmerkungen bleibt zu betonen, dass David Foster Wallace ein sehr unterhaltsames, lehrreiches und (bis auf die vielen Abkürzungen) gut lesbares Buch geschrieben hat. Man erfährt enorm viel über die Probleme im mathematischen, wie auch im philosophischen Umgang mit dem Begriff der Unendlichkeit in der Historie, und es gelingt ihm insbesondere, den roten Faden sichtbar zu machen und einzelne Momente und Entwicklungen in der Geschichte in die große Entwicklung einzuordnen. Auch für mathematisch vorgebildete Leser ist dies ein empfehlenswertes Buch, da mit Sicherheit auch sie noch Neues und Unbekanntes entdecken werden, und seien wir ehrlich, selten wurde über Mathematik in einer literarischen und sprachlichen Klasse wie dieser geschrieben.

(Rezension: Jörg Beyer)