gauss

Gauß
Eine Biographie

Hubert Mania
Rowohlt, 2008, 368 Seiten, 19,90 €

ISBN: 3-498-04506-7

Im November 1998 wurde in Göttingen mittels Magnetresonanz-Tomographie das Gehirn eines der bedeutendsten deutschen Wissenschaftler aller Zeiten entlang aller denkbaren Achsen digital durchschnitten, um es, zumindest in Form dreidimensionaler Bilddaten, vor dem langfristigen Verlust zu sichern. Es handelte sich dabei um das Gehirn des Mathematikers Carl Friedrich Gauß, welches direkt nach seinem Tod am 23. Februar 1855 seinem Schädel entnommen und in Weingeist eingelegt wurde. Ein interessantes Detail dieses Vorgangs ist, dass die magnetische Kraftflussdichte im Tomographen in der Einheit "Gauß" gemssen wird. Das Gehirn von Carl Friedrich Gauß wurde somit von zwanzig Kilogauß durchflossen.
Dies zeigt bereits als kleines Beispiel, welch eine große Menge wissenschaftlicher Errungenschaften Gauß bei seinem Tod hinterließ. Neben der magnetischen Kraftflussdichte tragen rund fünfzig mathematische Verfahren, Begriffe und Theoreme seinen Namen. So kennt wahrscheinlich jeder Schüler den Gauß-Algorithmus zum Lösen linearer Gleichungssysteme, jeder naturwissenschaftliche Student die Gaußsche Zahlenebene, sowie den Gaußschen Integralsatz und wahrscheinlich sogar fast die gesamte Bevölkerung die Gaußsche Normalverteilung (besser bekannt als Glockenkurve), welche neben einem Portrait ihres Namensgebers auf allen zwischen 1989 und 2001 gedruckten 10-DM Scheinen abgebildet war.
In jüngster Vergangenheit schaffte es Carl Friedrich Gauß, durch seine Darstellung in Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt, zu neuer allgemeiner Bekanntheit. Nun liegt von Hubert Mania eine neue, laut Verlag "die erste umfassende Biographie eines genialen Wissenschaftlers und zugleich einer gesamten Epoche" vor. Dies ist auch einer der auffälligsten Aspekte dieser Biographie. Mania konzentriert sich keineswegs ausschließlich auf den Werdegang und die persönliche Entwicklung des Wissenschaftlers Gauß, sondern schildert ausführlich auch die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit. So erfährt man sowohl einiges über die Schulreformen im Herzogtum Braunschweig am Ende des 18. Jahrhunderts, wie auch über die politischen Unruhen und Veränderungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem Sieg Napoleons über Preußen. Auch in der Darstellung wissenschaftlicher Entwicklungen beschränkt sich Mania nicht nur auf die Ergebnisse von Gauß, es werden auch die Einführung der Eisenbahn oder die Arbeiten Alexander Humboldts beschrieben, um nur zwei Beispiele zu nennen.
All dies hat den Vorteil Gauß' Leben und Wirken zeitlich und gesellschaftlich einordnen zu können, allerdings kommen die Schilderungen seiner eigenen Ergebnisse teilweise doch etwas zu kurz. Insbesondere die Vielzahl mathematischer Verfahren und Neuerungen, welche auf Gauß zurückgehen finden hier nicht den ihnen angemessenen Platz. Sicherlich hängt dies auch damit zusammen, dass Gauß selbst einen großen Teil seiner Entdeckungen gar nicht publizierte, sondern meist bei neu entdeckten Verfahren anderer Mahematiker nur erwähnte, dass er selbst diese Verfahren bereits vor einigen Jahren entwickelt und seitdem benutzt hätte, sie ihm jedoch nicht der Veröffentlichung wert erschienen seien.
Nach seinem Tod konnte die Auswertung seiner mehr als zwanzig Tagebücher belegen, dass es sich bei diesen Aussagen keineswegs um Angeberei oder Ähnliches gehandelt hat, sondern sie der Wahrheit entsprechen. Dies wird in Manias Darstellung zwar erwähnt, da er sich jedoch rein auf die Lebenszeit von Gauß (1777-1855) beschränkt, gibt er von den mathematischen Theorien nur relativ wenig wieder. So wird beispielsweise seine Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie, welche in mathematischer, zumindest in geometrischer Hinsicht, eine einschneidende Zäsur darstellt, zwar erwähnt, insbesondere, da Gauß so als direkter geistiger Vorfahre und unabdingbarere Voraussetzung für Einsteins Relativitätstheorie präsentiert werden kann, das revolutionäre Ergebnis selbst jedoch wird nur kurz genannt und relativ unzureichend erklärt.
Ausführlicher werden seine astronomischen, vermessungstechnischen und elektromagnetischen Forschungen und Entdeckungen geschildert. Seine Methode der kleinsten Quadrate, heute ein mathematisches Standardverfahren zur Ausgleichsrechnung, u.a. in der Statistik, entwickelte er beispielsweise zur Bahnbestimmung des am 1. Januar 1801 von Giuseppe Piazzi entdeckten Planetoiden Ceres und setzte damit neue Maßstäbe in der theoretischen Astronomie.
Neben diesen Errungenschaften werden natürlich auch die inzwischen allseits bekannten Anekdoten geschildert, wie die, dass Gauß als Drittklässler innerhalb kürzester Zeit die Zahlen von 1 bis 100 addierte und welche inzwischen als "5050"-Anekdote bekannt ist, da 5050 das Ergebnis der Rechnung ist. Natürlich schildert Mania auch diese Geschichte in eindrucksvoller Weise, nimmt jedoch im Anschluss auch eine analytische Dekonstruktion dieser vor. Es soll hier also kein verklärter Mythos um Gauß aufgebaut werden, was eine äußerst angenehme Darstellungsform ist, da Gauß weder in jungen Jahren (Wunderkind), noch bezüglich seiner späteren Entdeckungen und Ergebnisse etwas derartiges nötig hätte. Er strahlt in wissenschaftlicher Hinsicht auch so, ohne die Hinzunahme eventuell historisch nicht haltbarer Geschichten, über allen anderen.
Gauß' privates Leben wird daneben parallel dargestellt und Veränderungen werden erwähnt. Bis auf wenige Ausnahmen jedoch, beispielsweise der Zeit von der ersten Begegnung mit Johanna Osthoff im August 1803 bis zur Heirat am 9. Oktober 1805, zu welcher auch ein paar Einblicke in das Gefühlsleben des großen Mathematikers, u.a. durch Passagen aus einem von ihm verfassten Liebesbrief, gewährt werden, bleibt die Darstellung meist auf das Faktische beschränkt. Selbst der Bruch und die "Verbannung" des Sohnes Eugen nach Amerika lässt nicht viel über das innere Gefühlsleben des Menschen Carl Friedrich Gauß erfahren.
Nichts desto trotz gelingt es Mania, eine bedeutende Figur deutscher Geschichte für die Allgemeinheit darzustellen, auf dass dieser, inzwischen über 150 Jahre nach seinem Tod, eine Würdigung im Bewusstsein dieses Landes erfahren kann, welche ihm angemessen wäre.

(Rezension: Joerg Beyer)