die geschichte des prioritätsstreits

Die Geschichte des Prioritätsstreits zwischen Leibniz und Newton
Geschichte – Kulturen – Menschen (Vom Zählstein zum Computer)

Thomas Sonar
Springer Spektrum (18. Dezember 2015), 596 Seiten, 49,99 €

ISBN-10: 3662488612
ISBN-13: 978-3662488614

Alle Abiturienten lernen die Grundzüge der Differential- und Integralrechnung; sie lernen, dass diese Theorie von Newton und Leibniz unabhängig voneinander entwickelt wurde; und sie lernen, dass diese beiden sich darüber befehdet haben, wem das Erstgeborenenrecht gebührt und ob der je andere ein Plagiator ist. Das vorliegende Buch von Thomas Sonar erläutert auf mehr als 500 reich illustrierten Seiten (allein das Abbildungsverzeichnis umfasst 23 Seiten) sämtliche Facetten dieses Prioritätsstreits.

Es beginnt mit einem kurzen Abriss der Differential- und Integralrechnung, geschrieben in der Sprache der Differentiale, also ohne den modernen Grenzwertbegriff zu benutzen. Es folgen Kapitel über Newton und Leibniz und ihre Entdeckungen, wie diese publiziert und rezipiert wurden, wie darüber kommuniziert wurde, wie und von wem die gegenseitigen Anfeindungen angefacht wurden etc. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Newton zwar der erste war, der Ableitung und Integral entdeckt hat (von ihm „Fluxionenrechnung“ genannt), dass Leibniz aber unabhängig von ihm ca. 10 Jahre später auf dieselben Dinge gekommen ist. Jedoch hat sich die Leibnizsche Notation (die heute in jedem Schulbuch zu finden ist) gegenüber der Newtonschen als absolut überlegen erwiesen.Was nun den Prioritätsstreit angeht, hat Newton 1712 eine Denkschrift, den Commercium epistolicum, erarbeiten lassen, die zu dem vom Urheber erwünschten Schluss kommt, Leibniz habe plagiiert. Sonar weist jedoch nach, dass dieses Dokument voller Fehler ist; im Laufe seines Texts belegt er Newton mit wenig schmeichelhaften Attributen (von reizbar bis bösartig), die auch von anderen Newton-Biographen verwandt wurden. Andererseits stellt er gleichzeitig klar, dass auch Leibniz mit gezinkten Karten gespielt hat; in einem anonymen Flugblatt aus seiner Feder bezichtigte er nämlich Newton seinerseits des Plagiats.

Jenseits der detaillierten Darstellung des Prioritätsstreits, die nicht mit martialischem Vokabular geizt (von Frontverlauf bis Vernichtungskrieg), enthält Thomas Sonars Buch noch viele weitere bemerkenswerte Aspekte. Auf die Bedeutung einer überlegenen Notation für den Erfolg einer mathematischen Theorie wurde bereits hingewiesen; dass das Festhalten am Newtonschen Zugang der Fluxionen über fast zwei Jahrhunderte die britische Analysis am Ende des 19. Jahrhunderts so weit ins Abseits geführt hat, dass sie mit der kontinentaleuropäischen nicht mehr konkurrenzfähig war, war für mich ein neuer Gesichtspunkt.

Für moderne Leser der Newtonschen oder Leibnizschen Darlegungen wird auch noch einmal klar, wie dankbar man den Heroen des 19. Jahrhunderts wie Cauchy, Riemann und Weierstraß sein muss, die die Analysis statt auf unverständliche Differentiale oder Fluxionen auf den Grenzwertbegriff aufgebaut haben. Dadurch wird die ganze Sache so simpel, dass sie heute von jedem Gymnasiasten verstanden werden kann. Selbst als professioneller Mathematiker habe ich Schwierigkeiten, den Argumenten von Newton und Leibniz zur Integration zu folgen (vgl. S. 125 oder S. 167). Daher wage ich die Einschätzung, dass ein wissenschaftshistorisch interessierter Leser kaum Nachteile bei der Lektüre der mathematischen Teile des Buchs gegenüber Mathematikern hat.

Eine andere erstaunliche Erkenntnis aus der Lektüre ist, dass sowohl Leibniz als auch Newton über Rudimente eines Grenzwertbegriffs moderner Prägung verfügten (S. 200, S. 258), Leibniz ihn aber nicht weiter verfolgte, um seine Leser nicht zu überfordern (S. 203)!

Dem Verlag ist dafür zu danken, dieses hochinteressante wissenschaftshistorische Buch in Auftrag gegeben zu haben (mein Dank wäre noch enthusiastischer, wenn das Lektorat sich entschlossen hätte, das Manuskript korrekturlesen zu lassen), und dem Autor dafür, es mit solcher Akribie geschrieben zu haben.

Rezension: Dirk Werner (FU Berlin)