analogrechner

Analogrechner
Wunderwerke der Technik – Grundlagen, Geschichte und Anwendung

Bernd Ulmann
Oldenbourg Verlag, (2010), xvii + 487 Seiten, 59,80 €

ISBN: 978-3-486-59203-0

Ach ja, Analogrechner! Da kommen fast schon nostalgische Gefühle in mir auf: Nicht nur der gute alte Rechenschieber kommt mir in den Sinn, sondern auch das alte Computerpraktikum während meines Studiums, in dem wir auch lernten, mit elektronischen Analogrechnern Differentialgleichungen zu „lösen“ bzw. besser gesagt: Differentialgleichungen elektrisch zu modellieren und die Lösungen von Differentialgleichungen graphisch darzustellen. Nun ist es ja nicht so, als seien Analogrechner völlig aus unserem Leben verschwunden. Es gibt Tankscheiben, auf denen man den Benzinverbrauch des Autos ablesen kann, und erst im letzten Jahr endete ein mehrere Millionen Euro teures europaweites Projekt mit dem Namen FACETS – Fast Analog Computing with Emergent Transient States –, in dem neue Berechnungsparadigma durch Beobachtung biologischer Systeme gewonnen wurden. Aber neben der trivialen Tankscheibe oder zukunftsträchtigen Forschungsprojekten ist der Analogrechner per se ausgestorben. Dort, wo man die Vorteile des Analogrechners nutzen möchte – zum Beispiel in der Regelungstechnik – wird der analoge Rechenknecht auf einem digitalen Kollegen emuliert.

Trotzdem ist die Geschichte der Analogrechner natürlich außerordentlich reich und man wird der Vielzahl der Maschinen sicher nicht gerecht, wenn man alle Analogrechner in 480 Seiten abhandeln wollte. Immerhin ist der Antikythera-Rechner ein frühes Beispiel und die Entwicklung der Analogrechner verläuft bis in unsere Zeit. Dieser Gefahr hat sich Bernd Ulmann nicht ausgesetzt, trotz des umfassend klingenden Titels. Das Buch beginnt zwar mit mechanischen Analogrechnern, aber dieses Kapitel ist eher eine appetitanregende Vorspeise, denn Ulmanns Liebe gehört eindeutig den elektronischen Analogrechnern, denen dann auch fast der Rest des Buches gewidmet ist.

Mit einem kurzen Ausflug in die Rechenschieber und Planimeter beginnt das Buch. Dann lernen wir mechanische Rechenelemente kennen, wie die Barrel Cam, das Differentialgetriebe und verschiedene Integrierer. Der Kelvinsche Gezeitenrechner darf natürlich auch nicht fehlen, ebenso wie die mechanischen Feuerleitrechner und Differentialanalysatoren. Diese Analysatoren benutzt Ulmann dann auch zum Übergang zu seinem eigentlichen Spezialgebiet, den elektronischen Analogrechnern, in dem er elektromechanische Differentialanalysatoren beschreibt.

Im dritten Kapitel geht es um „Die ersten elektronischen Analogrechner“. Feuerleitrechner werden in allen Details vorgestellt und ab und zu ist es hilfreich, wenn man über ein paar Kenntnisse aus der Elektrotechnik verfügt. Helmut Hoelzers Analogrechner, u.a. zur Steuerung der V2 (A4), werden technisch gewürdigt. In Kapitel 4 werden grundlegende Rechenelemente wie Potentiometer und Operationsverstärker und die aus ihnen aufgebauten Summierer und Integrierer vorgestellt. Neben Funktionsgebern und Multiplizierern werden auch Koordinatenwandler, Totzeitglieder, Rauschgeneratoren und Ausgabegeräte diskutiert. Ganz wichtig bei einem elektronischen Analogrechner ist ein wohldurchdachtes Bedienfeld, das in seiner Bedeutung einer digitalen Benutzeroberfläche entspricht.

Kapitel 5 ist der Programmierung gewidmet. Was bei der Digitalmaschine das Flußdiagramm oder Struktogramm, ist beim Analogrechner der Rechenplan. Der Autor behandelt nicht nur die Programmierung gewöhnlicher, sondern auch die partieller Differentialgleichungen. Zahlreiche Beispiele machen dieses Kapitel besonders interessant. Im sechsten Kapitel folgen Systembeispiele, z.B. die Telefunken RA 1 in konventioneller Röhrentechnik aus den 1950er Jahren. Die daraus sich entwickelnde Typreihe bei Telefunken wird vorgestellt und endet in den 1970er Jahren mit einer Kleinstmaschine der Firma Dornier, der DO-80.

Bereits in den 1950er Jahren traten Fragestellungen auf, die nicht allein mit einem reinen Analogrechner zu bewältigen waren. So waren im X-15 Versuchsflugzeugprojekt in den USA schnelle Umschaltungen zwischen verschiedenen Funktionen notwendig und das konnte eine analoge Maschine nicht mehr leisten. Also entstanden sogenannte Hybridrechner, und so lautet auch die Überschrift des siebten Kapitels, in denen die grundlegenden Ideen dieser Maschinen beschrieben werden. Im achten Kapitel geht es um digitale Differentialanalysatoren, also Maschinen, die Differentialgleichungen numerisch lösen.

Wie bereits angemerkt, werden heute Analogrechner in der Regel auf einem Digitalrechner simuliert. Dieser Technik nimmt sich das neunte Kapitel an und es mag überraschen, dass erste digitale Simulationen bereits Mitte der 1950er Jahre in den USA in Betrieb waren. Mit dem neunten Kapitel ist die Reise durch die analogen Rechner abgeschlossen. Das voluminöse Kapitel 10 enthält zahlreiche Anwendungen der analogen Rechentechnik von der Mathematik über die Gebiete Physik, Chemie, Technische Mechanik und Maschinenbau, Kerntechnik, Biologie und Medizin, Geologie und Meereskunde, Wirtschaftswissenschaften, Energietechnik, Elektronik und Nachrichtentechnik, Mess-, Steuer, und Regelungstechnik, Verfahrenstechnik, Verkehrssysteme, Luftfahrttechnik, Raketentechnik, Raumfahrttechnik, militärische Anwendungen, Ausbildung und Lehre, bis hin zu Kunst, Musik und Unterhaltung. Eine kurze Übersicht über die historischen Analogrechenzentren (ja, auch so etwas gab es!) schließt dieses wunderbare Kapitel ab.

Das Buch schließt mit einem kurzen Kapitel über die Zukunft und Chancen analoger Rechner und beginnt erst einmal mit einer Beschreibung des Niedergangs der Analogrechner seit den 1970er Jahren. Zur Zukunft des Analogrechnens gibt es eine Übersicht über einige Ideen, die sich vielleicht als fruchtbare analoge Ergänzung zu den heute so verbreiteten Digitalrechnern erweisen werden.

Das Buch ist ein Füllhorn nicht nur für Liebhaber der analogen elektronischen Rechentechnik, sondern auch für Wissenschaftshistoriker sehr interessant. Ein 609 Titel umfassendes Literaturverzeichnis zeigt, wie viel Material verarbeitet wurde. Um die Bedeutung eines solchen Werkes in unseren geschichtsvergessenen Zeiten herauszuheben, sei hier das berühmte Zitat wiedergegeben, mit dem das wunderbare Buch von Ulmann endet:

The Heritage of the Past is the Seed that Brings Forth the Harvest of the Future.

Rezension: Thomas Sonar, Braunschweig

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Oktober 2011, Band 58, Heft 2, S. 245
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags