wiener kreis

Sie nannten sich Der Wiener Kreis
Exaktes Denken am Rand des Untergangs

Karl Sigmund
Verlag: Springer Spektrum 2015, 357 Seiten, 19,99 €

ISBN-10: 3658085347
ISBN-13: 978-3658085346

Aus Anlass ihres 650-jährigen Jubiläums veranstaltete die Universität Wien im Jahr 2015 eine Ausstellung über jenen Zirkel von Philosophen, Mathematikern und Vertretern anderer Wissenschaften, der vor allem in den 20er und frühen 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wirkte und unter dem Namen „Wiener Kreis“ einen festen Platz in der europäischen Wissenschafts- und Geistesgeschichte erobert hat. In Verbindung mit dieser Ausstellung ist das vorliegende Buch erschienen. Der Autor Karl Sigmund ist Mathematiker, wirkte jahrzehntelang als Professor, neuerdings als Emeritus an der Universität Wien und ist einer der Hauptverantwortlichen für die Ausstellung.

Ungeachtet der großen Katastrophen, die unmittelbar folgen sollten, kann man die Epoche vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Zwischenkriegszeit als eine der fruchtbarsten des abendländischen Denkens bezeichnen, vergleichbar am ehesten mit Renaissance und Aufklärung. Die philosophische Moderne, für die der Wiener Kreis repräsentativ stehen kann, verdankte sich zu einem beträchtlichen Teil den revolutionären Erkenntnissen der Physik und Mathematik dieser Zeit und ließ kaum einen wesentlichen Bereich aus Wissenschaft und Kultur unberührt.

Charakteristisch für die „wissenschaftliche Weltauffassung“ – so der Titel einer programmatischen Schrift des Wiener Kreises aus dem Jahr 1929 – sind u. a. eine ausdrückliche Abwendung von jeglicher Metaphysik, eine positivistische Haltung gegenüber den empirischen Wissenschaften und, darüber hinausgehend, eine fruchtbare Anteilnahme und auch maßgebliche Mitwirkung an den zeitgenössischen Entwicklungen in den logischen Grundlagen der Mathematik. In eigenen Worten des Wiener Kreises: „In der Wissenschaft gibt es keine ,Tiefen‘: Alles ist Oberfläche: Alles Erlebte bildet ein kompliziertes, nicht immer überschaubares, oft nur im einzelnen fassbares Netz. Alles ist dem Menschen zugänglich; und der Mensch ist das Maß aller Dinge.“ Die Aufgabe bestehe in der Klärung traditioneller philosophischer Probleme, die teils als Scheinprobleme entlarvt, teils in empirische Probleme umgewandelt und damit dem Urteil der Erfahrungswissenschaft unterstellt würden.

Sigmund versteht es meisterhaft, diese philosophischen Ansätze mit Leben zu erfüllen, personifiziert durch die Protagonisten, die dem Wiener Kreis selbst angehörten oder wenigstens starken Einfluss auf ihn ausübten. Als Ahnherren fungierten die Physiker Ernst Mach (1838–1916) und Ludwig Boltzmann (1844–1906), als Gründer im Jahr 1924 der Philosoph Moritz Schlick (1882–1936), der Mathematiker Hans Hahn (1879–1934) und der Nationalökonom sowie Sozialreformer Otto Neurath (1882– 1945). Die wichtigsten Vorbilder waren der Mathematiker David Hilbert (1862–1943), der Philosoph Bertrand Russell (1872–1970) und der Physiker Albert Einstein (1879– 1955). Die jüngeren Mitglieder des Wiener Kreises standen diesen singulären Größen kaum nach: der Philosoph Rudolf Carnap (1891–1970) sowie die Mathematiker Karl Menger (1902–1985) und – viele philosophische Ansichten des Wiener Kreises zwar nicht teilend, hinsichtlich spektakulärer Einzelleistungen aber eine ganze Epoche überragend – Kurt Gödel (1906–1978). Großen Einfluss auf den Wiener Kreis entfalteten auch die Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889–1951) und Karl Popper (1902–1994), die allerdings mehr (Wittgenstein) oder weniger (Popper) freiwillig auf eine Teilnahme an den Sitzungen des Wiener Kreises verzichteten.

Die intellektuellen, menschlichen und auch allzu menschlichen Verflechtungen der erwähnten sowie zahlreicher weiterer Persönlichkeiten werden von Sigmund so plastisch geschildert, dass der Leser bald meint, sie alle persönlich zu kennen: den philanthropischen Schlick, den intellektuell souveränen und urteilssicheren Hahn, den beständig gegen die Metaphysik polternden, in seiner optimistischen Vitalität aber durchaus sympathischen Neurath, den nicht immer so sympathischen Popper, den schwierigen Wittgenstein, das von Geisteskrankheit bedrohte Genie Gödel usw.

Doch Sigmund ist nicht nur ein großartiger Porträtist, der eine äußerst feine und stilistisch brillante Feder führt. (Über Neurath und seinen Sohn erfahren wir: „Neurath wollte aus seinem Pauli einen Proletarier machen – den Vorstadtdialekt beherrschte der Kleine bereits. Doch ein Kind zu erziehen ist schwer: Aus dem Knaben wurde später ein Gelehrter.“) Als Mathematiker versteht es der Autor, die Umwälzungen seiner eigenen Disziplin durch Hilbert, Gödel etc. angemessen und gleichzeitig allgemeinverständlich zu vermitteln, ohne sich jemals im Technischen zu verlieren. (Eine Abbildung zeigt eine Quittung der Wiener Buchhandlung Deuticke neben einer Druckseite voll kryptischer Zeichenketten, aber ohne Fließtext. Der Kommentar daneben: „Kurt Gödel kauft sich etwas zum Lesen: Die Principia Mathematica“.) Doch auch die weit über sein angestammtes Fach hinausgehenden und sehr universellen ideengeschichtlichen Bezüge überblickt Sigmund souverän und wird seinem Gegenstand auf beeindruckende Weise gerecht. So wird sein Buch zum umfassenden Kaleidoskop des (nicht nur) wissenschaftlichen Geistes einer ganzen Epoche.

Natürlich bleiben auch die verhängnisvollen damaligen politischen Entwicklungen nicht ausgespart. Sigmund enthält sich lautstarker Werturteile. Doch legt er Fakten vor, die eine deutliche Sprache sprechen und anhand derer es dem Leser frei steht, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Bei genauem Lesen einer Abbildung stößt dieser beispielsweise auf das Gelöbnis „dem Führer unbedingte Treue und Gehorsam zu leisten“. Doch ist damit kein Führer gemeint, der erst nach Deutschland gehen musste, um dort fragwürdige Karriere zu machen. Das Zitat ist nämlich eine von acht Forderungen, die sich schon im Jahr 1935 auf der Mitsgliedskarte Kurt Gödels bei der Vaterländischen Front finden („Selbst der unpolitische Gödel muss zur Vaterländischen Front“), der Einheitspartei im austrofaschistischen Ständestaat unter Dollfuß und Schuschnigg. (Zum Verhältnis von Dollfuß zu Hitler merkt Sigmund an: „Man musste kein Demokrat sein, um die Nazis zu fürchten.“)

Bezeichnend für das geistig-politische Klima im Österreich schon vor 1938 waren die Reaktionen auf die Ermordung Schlicks 1936 durch seinen psychisch offenbar schwerst abnormen ehemaligen Studenten Johann Nelböck. In einem regierungsnahen Blatt stilisierte ein anonymer Autor unter dem Pseudonym „Professor Austriacus“ das Verbrechen zu einem „Weltanschauungskampf“ zwischen dem jungen und einsamen Nelböck und Schlick – obwohl selbst nicht einmal Jude – als „Abgott der jüdischen Kreise Wiens“. Erst unter „dem Einfluss der radikal nierderreißenden Philosophie, wie sie Dr. Schlick vortrug“, sei Nelböck zum Mörder geworden. Resümee: „Auf die philosophischen Lehrstühle der Wiener Universität im christlich–deutschen Österreich gehören christliche Philosophen! – Hoffentlich beschleunigt der schreckliche Mordfall an der Wiener Universität eine wirklich befriedigende Lösung der Judenfrage.“ Nach 1945 ging man zwar nicht mehr so weit, die Ermordung Schlicks mit ideologischen Argumenten entschuldigen zu wollen. Doch erweckt die damalige Berufungspolitik an Österreichischen Universitäten den Eindruck, dass man eine Wiederbelebung gewaltsam unterbrochener intellektueller Traditionen auch dort, wo sie möglich gewesen wäre (etwa durch eine Rückberufung von Karl Menger aus Amerika nach Wien), vorsätzlich verhindern wollte.

Der Leser (besonders wenn er wie der Rezensent selbst Wiener ist) ist beeindruckt, wie gerade diese Stadt noch in der lebensschwachen Ersten Republik weltweit Hochburg einer der Aufklärung verpflichteten Geistestätigkeit und auch -haltung war. Hätte diese Haltung auch in der Gesellschaft vorgeherrscht, wäre sie zweifellos ein Bollwerk gegen autoritäre politische Entwicklungen gewesen. Doch tragischerweise musste sie sehr schnell der totalitären Übermacht weichen.

Freilich gab es auch im Wiener Kreis und seiner Umgebung kindische Eitelkeiten und daraus resultierende Auseinandersetzungen um philosophische Spitzfindigkeiten. Legendär ist jene zwischen Popper und Wittgenstein 1946 in Cambridge. Doch zeigt Sigmunds Buch am Beispiel des Wiener Kreises, seiner Proponenten, seiner Philosophie und seiner Zeit: Es gibt einige Einsichten, auf die sich wache, denkende und (um im Sinne Neuraths zu sprechen) nicht von Metaphysik umnebelte Menschen einigen könn(t)en und deren Popularisierung die Welt um ein kleines bisschen, wenn nicht gar beträchtlich besser machen würde. Wissenschaftler und Intellektuelle sollten diese in Sigmunds Buch unausgesprochene, aber doch implizit enthaltene Botschaft bedenken.

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Oktober 2015, Band 62, Heft 2
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Rezension: Reinhard Winkler (Wien)