ullmann

Mathematik - Moderne - Ideologie
Eine kritische Studie zur Legitimität und Praxis der modernen Mathematik

Philipp Ullmann
UVK Verlagsgesellschaft (2008), 314 Seiten, 29,00 €

ISBN-10: 3867640750
ISBN-13: 978-3867640756

Auf dem Titelblatt sind ein Windkanal, die Nummer eines KZ-Häftlings sowie ein Klassenzimmer abgebildet. Schon hier dürfte sich die Frage stellen, welch weiten Bogen der Autor zu spannen gedenkt und ob dies denn überhaupt gelingen kann.

Das Werk ist in 7 Kapitel eingeteilt: Ideologie, Moderne mit einem Exkurs über Moderne und Drittes Reich, Mathematik, Die Praxis der Mathematik, Schulmathematik, Mathematikbücher, Das Volksschulrechenbuch. Stichwörter der ersten zwei Kapitel (S. 19– 89) sind: Verständnis der Ideologie, Ideologiekritik und Mythos Mathematik, denn: „Indem Mathematik sich in der zeitlosen Ewigkeit des Mythos verortet, der seiner eigenen Geschichte verlustig gegangen ist, wird sie zur Ideologie ... Mathematik ist Ideologie der Moderne“ (S. 12). Im folgenden geht es im wesentlichen nur um die Entwicklung in Deutschland, als Zeitraum der Betrachtung wird fast ausschließlich die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zugrunde gelegt. Die ersten zwei Kapitel sind der Ideologiekritik gewidmet. Ideologie wird hier als Wissen von Ideen verstanden, sie ist nach Meinung des Autors die erste und grundlegende Wissenschaft, aus der sich alle übrigen Wissenschaften ableiten. Infolgedessen ist die Ideologiekritik das methodische Werkzeug, denn „Ideologiekritik zieht durch die historische Erschließung des Gegebenen den Schleier des falschen Bewusstseins zurück und erweist damit Bewusstsein und Gegenstände in ihrer konkreten historischen Gestalt als in Machtdiskursen und Herrschaftsverhältnissen verankert. Als gesellschaftlich Verfertigte werden sie nicht nur der kritischen Analyse, sondern auch einer möglichen Veränderung zugänglich. So wohnt Theorie immer schon ein Moment der Praxis inne“ (S. 41). Der Autor stützt sich vor allem auf die einschlägigen Werke von Georg Lukacs, Michel Foucault, Theodor Adorno, Georg Hegel, Louis Althusser, Jürgen Habermas, Peter Wagner, Thomas Nipperdey, Max Weber und Max Horkheimer. Es wird hier aber keine kritische Auseinandersetzung vorgestellt, sondern die Literatur wird nur mehr oder minder resümierend wiedergegeben. Der letzte Satz des zweiten Kapitels lautet: „So steht die Moderne vor Augen als ein farbenprächtig schillerndes, an schmückenden wie verunzierenden Applikationen reiches Gewand, in dessen Gewebe, dessen Textur, die Mathematik nur ein Strang unter vielen ist, die sich in sich stets überkreuzenden Linien vielfältig verzweigen und miteinander verflechten. Freilich: es ist ein fundamentaler Strang: Löste man ihn aus der Moderne heraus, sie zerfiele zu Staub“ (S. 77). Nach einem Exkurs in die Zeit des Dritten Reiches folgt das zentrale dritte Kapitel, das der „Mathematik“ gewidmet ist (S. 91–123); Mathematik wird dabei im Hilbertschen Sinne verstanden. Es ist unübersehbar, dass hier vor allem Herbert Mehrtens Moderne – Sprache – Mathematik Pate gestanden hat, wobei das Original weitaus überzeugender und stringenter formuliert ist als dieses Kapitel bei Herrn Ullmann.

Im folgenden vierten Kapitel „Praxis der Mathematik“ wird die Methode der Ideologiekritik zunächst im Zusammenhang mit der Mathematik und Wirtschaft am Beispiel der Luftfahrtmathematik untersucht (S. 127–131). Man sieht schon an der Kürze der Darstellung, dass der Autor von der Thematik nicht allzu viel verstanden hat, gibt es doch zu diesem Thema, insbesondere zu Ludwig Prandtl (siehe Windkanal auf dem Titelblatt) neuere Literatur in Hülle und Fülle, auf die hier aber nicht Bezug genommen wird. Im folgenden Abschnitt „Mathematik und Wissenschaft“ wurde das Beispiel Statistik gewählt (S. 131–151). Auch hier zeigt sich deutlich, dass der Autor kein Fachmann auf diesem Gebiet ist. Der dritte Abschnitt ist dem Thema Mathematik und Politik gewidmet, wobei hier abermals die Statistik eine wichtige Rolle spielt (S. 152–163).

In den folgenden drei Kapiteln (S. 165–285) „Schulmathematik“, „Mathematikbücher“ und das „Volksschulrechenbuch“ geht es eigentlich um Themen, die Didaktiker der Mathematik aufhorchen lassen müssten, steht doch die Vermittlung von Mathematik in der Schule im Zentrum der Untersuchung; aber hier wird, wie bereits erwähnt, schwerpunktsmäßig der Zeitraum des Dritten Reiches in Betracht gezogen. Und es gilt: „Schulmathematik ist eben keine ,richtige Mathematik‘, nicht zuletzt deshalb, weil an ihr die Dimension der Disziplinierung besonders deutlich zutage tritt und sie damit dem Mythos der Freiheitlichkeit diametral gegenübersteht“ (S. 165), denn ein zentrales Moment der Moderne ist die Freiheitlichkeit und die Disziplinierung. Die Methode der Ideologiekritik macht eine solche Betrachtungsweise möglich. Zunächst geht es um das Verhältnis Universitätsmathematik und Schulmathematik, sowie die Mathematik an höheren Schulen. Schließlich kommt der Autor zu dem Schluss: „...die Verstrickung der Mathematik in die Lebenswelt der Moderne. Und genau diese Verstrickung – ihrem Wesen nach autoritär, diktatorisch und totalisierend, kurz: unerbittlich, und eben nur in zweiter Linie freiheitlich emanzipatorisch – prägt die schulische Vermittlungspraxis.“ (S. 202). Ob das wohl der richtige Ton ist, der Didaktiker anspricht? Als Literatur werden insbesondere Gert Schubring, Siegbert Schmidt und Walter Müller zitiert, aber auch klassische Autoren mit dem Spezialgebiet Drittes Reich, wie Reinhard Siegmund-Schutze und Herbert Mehrtens. Im Kapitel „Mathematikbücher“, das unter dem Motto „Vier von drei Deutschen können nicht rechnen!“ steht, wird das Schulbuch verstanden „als Raum der politisch-weltanschaulichen Zurichtung und Disziplinierung“ (S. 253). Es werden nur die Verhältnisse in Preußen betrachtet, wobei erfreulicherweise auch Quellen aus dem Preußischen Staatsarchiv herangezogen wurden; Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung war damals Bernhard Rust, auf dessen Erlasse ausführlich eingegangen wird. Als Beispiele werden Schroedels Rechenbuch (S. 235–238) und Adolf Kruckenbergs Handbuch für den Rechenunterricht behandelt (S. 238–243). Im folgenden geht es um Kontinuität und Diskontinuität in allen Schultypen, wohlgemerkt in Preußen und im zeitlichen Rahmen des Dritten Reiches. In der Zusammenfassung hält der Autor fest, ,,dass das Schulbuch der Ort ist, an dem für den Großteil der Bevölkerung festgeschrieben wird, was Mathematik ist und welchen Stellenwert sie in der Gesellschaft hat“ (S. 252). Das war nicht nur im Dritten Reich so, sondern das gilt auch heute noch. In aller Ausführlichkeit wird am Schluss das Volksschulrechenbuch behandelt, wobei, was die Literatur anbelangt, vor allem Autoren wie Kurt-Ingo Flessau, Elke Nyssen und Jan Thiele zugrunde gelegt wurden. Es wird der Inhalt dieser Rechenbücher diskutiert, sowie der Anteil der Zinsrechnung, der Versicherungsrechnung, der Hauswirtschaft und des Krieges und der Propaganda im Laufe der Zeit hinterfragt.

Das Werk zerfällt eigentlich in drei Teile: 1) Ideologie, Moderne und Mathematik, 2) die Praxis der Mathematik und 3) die Schulmathematik. Der weite Bogen, der hier gespannt wird, wird nur durch die Methode der Ideologiekritik ermöglicht; ob aber ein derartiger Bogen sinnvoll ist, muss bezweifelt werden. Es ist völlig ungeklärt, für welchen Leserkreis das Werk gedacht ist: für Ideologiekritiker ist es nicht kritisch genug, für Mathematikhistoriker und Mathematiker ist es viel zu ideologisch; bleiben noch die Didaktiker? In der Tat enthält der dritte Teil durchaus interessante Aspekte. Da es sich aber um eine historische Betrachtung handelt, die nur die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts abdeckt, dürfte sich der hierfür relevante Teil des vorliegenden Werks nur für diejenigen Leser als interessant erweisen, die die entsprechende Epoche historisch durchleuchtet sehen wollen. Ziel des Buches war es, deutlich zu machen, dass Mathematik „nicht nur das gesicherte, wahre rationale, objektive, universell gültige und wertfreie Wissen, für das es sich ausgibt, [ist], sondern zugleich eine autoritäre, diktatorische, totalisierende, disziplinierende, regulierende und zutiefst interessengeleitete Praxis“ ist (S. 290). Selbst wenn dieses Ziel erreicht worden ist, so gilt es doch nur für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und nur für Deutschland; es wurde hier eine lokale Betrachtungsweise in einem bestimmten Zeitabschnitt vorgestellt, deren Ergebnisse sich nicht so ohne weiteres auf andere Länder und Epochenübertragen lassen.

Rezension: Karin Reich, Berlin

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, April 2010, Band 57, Heft 1, S. 147
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags