geometry by its history

Geometry by its History

Alexander Ostermann, Gerhard Wanner
Springer; Auflage: 2012 (12. April 2012), 64,15 €

ISBN-10: 3642291627
ISBN-13: 978-3642291623

Mit diesem Werk setzt G. Wanner (Genève) die 1996 mit seinem mit E. Hairer verfassten Buch „Analysis by its History“ (mittlerweile auch Deutsch als „Analysis durch ihre Geschichte“ (2011)) begonnenen Bemühungen fort, mathematische Theorien unter Zuhilfenahme von historischen Beispielen dem fortgeschrittenen Anfängerstudenten nahe zu bringen. Der Tod der Geometrie (vor allem im klassischen insbesondere synthetischen Sinne) wird heute oft beschworen, gelegentlich sogar beklagt und der Geometrieanteil im Schulunterricht schrumpft. Lehramtsstudenten mit geringen geometrischen Vorkenntnissen bauen dieses Defizit im Studium nicht ab und verspüren später in der Praxis wenig Neigung, sich der Geometrie zuzuwenden. Darum ist es besonders erfreulich, dass gerade diese Gegenstand des neuen Buches von Ostermann und Wanner geworden ist. Vielleicht kann dieses exzellente Werk etwas dazu beitragen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.

„By its History“ meint keine systematische Geschichte der Geometrie, die Vorgehensweise der Autoren scheint mir am ehesten beschrieben durch Orientierung an historischen Problemen. Es geht also mehr um historische Mathematik als um Mathematikhistorie. Viel Attraktivität gewinnt das Werk aus den zahlreichen Abbildungen, von denen nicht wenige historischen Quellen entnommen wurden. So fordert es zum Blättern und Verweilen heraus, wobei man unversehens Manches lernt. Geschickt ausgewählte Zitate laden zum Nachdenken, manchmal auch zum Schmunzeln ein. In bester Schweizerischer Tradition (ich bitte den österreichischen Koautor um Nachsicht) ist hier Vielsprachigkeit gefordert. Das Buch ist kein Lehrbuch im klassischen Sinne mit der ehernen Abfolge Definitionen – Axiome – Sätze – Beweise – Beispiele. Es ist viel stärker problem- denn systemorientiert, wobei aber Beweise nicht vollkommen fehlen. Vieles wird auch einfach referiert und das Meiste muss der Leser selber leisten. Also kein Buch für „Dummies“ oder „Nullen“, das „leicht gemacht" verspricht. Welches Modell des Lernens den Autoren vielleicht vorschwebte, erfährt der Leser auf S. 345, wo L. Eulers Mathematikunterricht bei Johann Bernoulli beschrieben wird.

Der Inhalt von „Geometry by its History“ ist ganz ungewöhnlich reichhaltig. Es kommen weite Teile der synthetischen Elementargeometrie zur Sprache inklusive von Highlights älterer Schulmathematik wie der Feuerbachsche Neunpunktekreis und die Eulersche Gerade, die Kegelschnitte und die Kreisgeometrie (der Peripheriewinkelsatz als große Unbekannte heutzutage). Voran geht eine Übersicht zur Entwicklung der Geometrie vor Euklid sowie ein Überblick zum Inhalt der „Elemente“ des Euklid. Der der synthetischen Geometrie gewidmete Teil endet mit einem Kapitel über ebene und sphärische Trigonometrie. Natürlich gibt es auch schöne Anwendungen wie die Cardanische Aufhängung, den sphärischen Abstand zweier Punkte (Rom und Lutetia) und die Konstruktion von Sonnenuhren. Die Keplerschen Gesetze werden ausführlich besprochen einschließlich R. Feynmans Beweis (1964) dafür, dass sich ein Körper unter dem ausschließlichen Einfluss der Schwerpunkt um einen anderen auf einer Bahn von der Form eines (nicht-entarteten) Kegelschnitts bewegt.

Die zweite Hälfte des Buches widmet sich der analytischen Geometrie. Nach einer Einführung in das Thema Koordinaten – das Problem von Cramer-Castillon ist hier ein Kleinod, das es zu entdecken gilt – folgen Ausführungen zur Frage „Konstruierbar oder nicht-konstruierbar?“ mit der Konstruktion des regulären 17ecks – und zur Raumgeometrie in vektorieller Darstellung. Schließlich folgen Matrizen in Beziehung auf geometrische Abbildungen und quadratische Formen. Natürlich darf in einem Buch mit dem Titel „Geometry by its History“ die projektive Geometrie einschließlich der Perspektive nicht fehlen. Klassische Sätze wie Desargues, Pascal und Brianchon werden im Stile von J. V. Poncelet bewiesen, indem z. B. eine Gerade ins Unendliche geschickt wird. Auch hier sei ein Höhepunkt genannt: Poncelets Schließungssatz. Alle Ausführungen werden von historischen Hinweisen (z. B. auf Fundstellen, Erstverwendungen etc.) begleitet, was das eigenständige Weitersuchen sehr befördert. Im Unterschied zu vielen „historischen“ Hinweisen, die man sonst in Lehrbüchern findet, sind die Angaben bei Ostermann und Wanner korrekt, präzise und zuverlässig. Geschichte wird hier ernst genommen und nicht nur als nettes Ornament missbraucht. Daneben gibt es auch zahlreiche Hinweise auf zeitgenössische Arbeiten, was belegt, dass die Elementargeometrie doch nicht ganz so tot ist, wie man vermuten könnte. Daran haben auch dynamische Geometriesoftware und Computeralgebrasysteme nicht viel geändert.

Die einzelnen Kapitel enden mit ansprechenden Aufgaben – auch hier zeigt sich wieder die Problemorientierung. Deren Lösungen finden sich am Ende des Buches ebenso wie ein beeindruckend umfangreiches Literaturverzeichnis und ein sehr nützlicher Index.

Vor rund fünfzig Jahren erklärte J. Dieudonné im Vorwort zu seinem Buch „Algèbre linéaire et géométrie élémentaire“ (1964), Themen wie der Neunpunktekreis und die Euler-Geraden seien Spielzeuge, denen kein größeres Interesse mangels fehlender Allgemeinheit zukomme – wichtig sei die lineare Algebra. Diese zweifellos polemisch überhöhte Position hatte nicht unerheblichen Einfluss auf Mathematikunterricht und -studium. Das Buch von Ostermann und Wanner kann viel dazu beitragen, zu beweisen, wie Unrecht Dieudonné hatte. Es weist auf, welch großes Interesse diesen „Spielzeugen“ zukommt und dass sie nach wie vor hervorragend geeignet sind, die Begeisterung des Homo ludens zu wecken – neben Bereitschaft zur Anstrengung die beste Voraussetzung für Lernen und Verstehen. In ihrem Vorwort zitieren die Autoren Alain Connes:

„We must absolutely train very young people to do mathematics exercises, in particular geometric exercises – this is a very good training.“

Ihr Buch belegt überzeugend, wie dies auf dem Niveau des Studiums geschehen kann. Es ist Ostermann und Wanner in der Tat gelungen, ein interessantes und Freude bereitendes Buch – dies ist ihr im Vorwort ausgedrückter Wunsch – zu schreiben, das durchaus auch subtilen Humor zulässt (man vgl. etwa das goldene Zelt S. 25).

Zu diesem Werk kann man sie nur beglückwünschen und ihm eine möglichst große Verbreitung und natürlich auch eine baldige Übersetzung ins Deutsche wünschen.

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, April 2014, Band 61, Heft 1
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Rezension: Michael Drmota (TU Wien)