otto blumenthals tagebuecher

Otto Blumenthals Tagebücher
Ein Aachener Mathematikprofessor erleidet die NS-Diktatur in Deutschland, den Niederlanden und Theresienstadt

Volkmar Felsch
Verlag: Hartung-Gorre; Auflage: 1 (25. August 2011),
Hardcover, 540 Seiten, 29,80 €

ISBN-10: 3866283849
ISBN-13: 978-3866283848

Otto Blumenthal (1876–1944), ein deutscher Mathematiker jüdischer Abstammung, hat von 1939 bis 1943 Tagebuch geführt. Darin beschreibt er ziemlich minutiös seinen Umzug in die Niederlande und die darauf folgenden unruhigen Jahre. Volkmar Felsch ist es gelungen, diese Tagebücher, mit biografischen Ergänzungen, zu veröffentlichen. In diesem Artikel bespricht Dirk von Dalen dieses geschichtliche Buch.

Die Hauptperson des hier zu besprechenden Buches war ein bekannter und angesehener Mathematiker in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, Otto Blumenthal. Bis zum Beginn des Dritten Reiches unterschied sich sein Leben nicht so sehr von dem anderer durchschnittlicher deutscher Gelehrter; sein Doktorvater war der weltberühmte Mathematiker David Hilbert und er fand seinen Weg in die akademische Welt ohne viele Probleme. Dass beinahe jeder ihn kannte, lag an seiner Tätigkeit als Redakteur der ebenfalls weltberühmten Mathematischen Annalen. Man kann ihn ohne Übertreibung als die Rechte Hand des damaligen Königs der europäischen Mathematik, David Hilbert, betrachten. In seiner Funktion kam er mit den meisten der unterschiedlichen Figuren aus der internationalen Mathematik in Kontakt. Er war von jüdischer Abstammung, was seiner Karriere nicht im Weg stand. Gerade in der Mathematik war damals letztendlich die Qualität der Person entscheidend, Politik und Religion spielten eine geringere Rolle. Das Buch, das Volkmar Felsch zusammengestellt und geschrieben hat, unterscheidet sich von einer gewöhnlichen Biografie dadurch, dass zwar Blumenthals Lebenslauf beschrieben wird, dass aber die entscheidende und tragische Periode seines Lebens durch ihn selbst in Form einer kurz gefassten Chronik wiedergegeben wird, die aus kurzen Notizen auf den Seiten seiner Taschenkalender besteht. Dieses Tagebuch hat den Krieg überlebt, Blumenthal sah im letzten Augenblick vor seiner Deportation eine Chance, es seinem Sohn in England zukommen zu lassen. Im Jahr 2003 gelang es Felsch, in Kontakt mit Blumenthals Schwiegertochter, Janet Kuypers, zu kommen und so das Tagebuch für die Geschichte zugänglich zu machen. Das war gewissermaßen der Beginn einer ziemlich vollständigen Berichterstattung über Blumenthals kritische Jahre in den Niederlanden. Das resultierende Buch ist eine Kombination aus einer biografischen Einleitung durch Felsch, dem Tagebuch von Blumenthal und einem Schluss, in dem ergänzende Informationen gegeben werden und in dem auf Einzelheiten aus dem Tagebuch eingegangen wird und historische Informationen zu Ereignissen und Überlegungen gegeben werden, die in dem Tagebuch kurz erwähnt sind.

Ein bescheidener Junge aus Frankfurt. Die Karriere des jungen Blumenthal passt gewissermaßen in das Bild des emanzipierten jüdischen Intellektuellen. Obwohl er aus einer traditionellen jüdischen Familie kam und der israelitischen Gemeinde angehörte, trat er mit achtzehn zur evangelischen Gemeinde über. Er wurde 1894 in Frankfurt getauft. Er schrieb sich anfangs für ein Medizinstudium ein, entschied sich aber ein Jahr später für die Mathematik, und das war im alten Göttingen eine hervorragende Wahl. Zu seinen Lehrern gehörten Hilbert, Felix Klein und auch Sommerfeld; einen besseren Start konnte man damals nirgends auf der Welt haben. Er promovierte 1898 bei Hilbert über ein funktionentheoretisches Thema. Getreu den deutschen Gewohnheiten besuchte er auch andere Universitäten, erst München und später, während seiner Vorbereitung auf die Habilitation, auch Paris und Marburg (wo er einen Lehrauftrag wahrnahm). 1905 wurde er als Professor nach Aachen berufen, an den Ort, an dem er bis zu seiner Entlassung durch die neuen politischen Herren wirkte. Die wichtigste wissenschaftliche Ehre, die ihm schon 1906 zuteil wurde, war die Ernennung als Redakteur der Mathematischen Annalen. Dieses Amt hat er bis 1938 wahrgenommen! Sein Nachfolger war Heinrich Behnke, der, wie Felsch konstatiert, äußerst umsichtig auf die Nazi-Regierung reagierte, siehe Seite 102.

Man kann ohne Übertreibung feststellen, dass der ruhige, bescheidene Junge aus Frankfurt seinen Platz gefunden hat, einen Platz, der hauptsächlich dienend war, ihm aber viele Kontakte einbrachte und ihn zu einem angesehenen Mann in der mathematischen Gemeinschaft machte. Man könnte sich natürlich fragen, ob ein ambitionierter Mann nicht an eine von den renommierten Universitäten hätte umziehen sollen. Es ist die Frage, ob er in der Konkurrenz mit der großen Anzahl exzellenter deutscher Mathematiker hätte nach oben kommen können. Außerdem scheint sein Ehrgeiz nicht in diese Richtung gegangen zu sein. Brouwer, der maßgebendste Mathematiker der Niederlande, setzte sich 1921 dafür ein, Blumenthal in Frankfurt die Stelle von Bieberbach, der nach Berlin ging, einnehmen zu lassen, aber sein Versuch lief tot. Brouwer nahm dies dem höheren Establishment in der Mathematik ziemlich übel. (D. van Dalen, L. E. J. Brouwer: Topologist, Intuitionist, Philosopher. Springer, 2013, S. 349).

Unpolitisch. Blumenthal heiratete 1908 Amalie Ebstein (genannt Mali). Diese Ehe war ungewöhnlich stabil und glücklich, sie bekamen vier Kinder, von denen zwei jung starben.

Blumenthal wurde, als er schon Professor war, 1914 zum Militärdienst eingezogen. Er nahm an Frontgefechten teil und konnte erst 1919 nach Aachen zurückkehren. Wer zynische Zufälligkeiten zu schätzen weiß, sollte wissen, dass ihm 1936 im Namen des Führers und Reichskanzlers das Ehrenkreuz für Frontkämpfer verliehen wurde, wohlgemerkt zwei Jahre nachdem er durch denselben Führer aus seinem Amt vertrieben worden war.

Um das Bild von der Person Blumenthal noch etwas schärfer zu machen: er war ein aktives und theologisch interessiertes Mitglied der evangelischen Kirche. Sein Familienleben war harmonisch, die Kinder, Ernst und Margarete, wuchsen in der traditionellen intellektuell-kulturellen Tradition auf.

Innerhalb der mathematischen Gemeinschaft nahm er allerlei Funktionen wahr, so war er jahrelang Vorstandsmitglied und eine Zeit lang Vorsitzender der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. Ferner war er Mitglied der Société Mathématique de France und Mitglied der Leopoldina. Man könnte ihn mit Recht unpolitisch nennen, zwar war er Mitglied von ideellen Vereinigungen und internationalen Freundschaftsgesellschaften wie der deutschen Liga für Menschenrechte, der Deutschen Friedensgesellschaft, der Deutschen Liga für Völkerbund und der Gesellschaft der Freunde des neuen Russlands, aber von einer radikalen Einstellung war keine Rede. Wie unschuldig dies alles klingen mag, es zeigte sich, dass es in der neuen Welt des Nationalsozialismus gegen ihn verwandt werden konnte.1933 denunzierten ihn Studenten wegen seines Engagements in den oben genannten Vereinigungen; wie üblich spielte die Richtigkeit bei diesen progressiven Gruppen keine Rolle. Hier ist ein Beispiel (Seite 31): „Es kann deutsch gesinnten Studenten nicht mehr länger zugemutet werden, sich von Freunden des russischen Bolschewismus unterrichten und prüfen zu lassen.“

Dass die Einschüchterung von Seiten der Studenten nicht von vorübergehender Art war, zeigte sich im April, als damals neu erhobene Vorwürfe dazu führten, dass Blumenthal von Studenten verhaftet wurde. Anschließend wurde er der politischen Polizei übergeben, die ihn nach fünf Tagen wieder freiließ (Seite 35). Nicht lange danach wurde er aufgrund des berüchtigten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums entlassen; als Grund für seine Entlassung wurde angeben: Mitglied der Liga für Menschenrechte seit 1919/21.

Wie zu erwarten wurde der Druck auf Blumenthal und seine Schicksalsgenossen fortwährend erhöht. Felsch beschreibt im Detail, wie die Emigration auf die Dauer unvermeidlich wurde.

Ein objektiver Historiker. Das Tagebuch von Blumenthal beginnt am 1. Januar 1939. Dank der detaillierten Kommentare, beruhend auf ausführlichen historischen Untersuchungen von Felsch, erweisen sich die mehr oder weniger im Telegrammstil geschriebenen Berichte als überraschend gut lesbar. Der Inhalt ist in der Regel nur beschreibend. Erstaunlich ist das nicht, ein Taschenkalender eignet sich schließlich nicht für ausführliche Kommentare. Es ist auch gut denkbar, dass seine trockene, objektive Wiedergabe eine Art von Schutz gegen böswillige Neugier war. An diesem Punkt angekommen würde ich eigentlich den Leser einladen wollen, selbst den Text durchzugehen oder zumindest eine Anzahl von Stichproben zu machen. Mit etwas Fantasie kann man sich vorstellen, dass fast jedes noch so kleine Ereignis eine gewisse emotionale Ladung hat, die der Leser sich hinzudenken muss.

Für heutige Leser, aber noch viel mehr für diejenigen unter ihnen, die die Besatzung miterlebt haben, bleibt es ein Rätsel, dass Blumenthal die Geschehnisse wie ein objektiver Historiker aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert beschrieben hat. Man kann sich vorstellen, dass Blumenthal in seinem Tagebuch keine provozierenden Texte verfassen wollte – man wusste nie, wem es in die Hände fallen konnte, aber es ist durchaus nicht ausgeschlossen, dass er aus einer christlichen Lebensüberzeugung heraus keine Verurteilungen aussprechen wollte. Heinrich Behnke, Blumenthals Nachfolger in der Redaktion der Mathematischen Annalen, schrieb in seinen Memoiren von 1958, dass Blumenthal selbst nach seiner erniedrigenden Entlassung von seinen Freunden keine Gehässigkeiten über das Regime akzeptierte.

Umzug in die Niederlande. Die erste Hälfte von 1939 ist ein Vorspiel auf den endgültigen Umzug in die Niederlande. Von Tag zu Tag nahmen die Schikanen zu und für einen Paria wie den jüdischen Blumenthal war der Umgang mit dem Behördenapparat alles andere als problemlos. Einerseits gab es trotzdem genug Freunde und Sympathisanten, andererseits konnten sie sein Schicksal nicht aufhalten. Man stelle sich eine Auswanderung unter allerlei erschwerenden Bedingungen vor. Wie kann die Pension in den Niederlanden ausgezahlt werden, wie kann die Rente vom Springer-Verlag weitergezahlt werden? Noch nicht zu reden vom Hinüberbringen von Eigentum, Hausrat, Büchern und so weiter. Es muss Blumenthal ein Stein vom Herzen gefallen sein, dass seine Kinder, Ernst und Margrete, in England studierten; es gab zwar noch keinen Krieg, aber für Personen von jüdischer Abstammung war Deutschland zu gefährlich geworden.

Man kann sich fragen, warum Blumenthal nicht in ein sichereres Land gegangen ist. Zum einen wurden die Niederlande als ein traditionell neutrales Land angesehen, zum anderen waren Einreisevisa nicht so leicht zu bekommen. Ferner hatte Blumenthal schon Kontakte in die Niederlande, er war befreundet mit dem Delfter Physiker Burgers. Es kann weiterhin angemerkt werden, dass viele deutsche Juden die Niederlande als Durchgangsroute in andere, sicherere Länder benutzten. Der Topologe Rosenthal ist ein Beispiel dafür.

Am 13. Juli war es dann soweit, Abschied von Deutschland. Der Amsterdamer Professor Frijda hatte Blumenthals Ankunft im Namen des Akademischen Unterstützungsvereins vorbereitet. Zunächst einmal wurden die Blumenthals im Haus Zuilen (jetzt Schloss Zuylen) des Barons van Tuyll van Serooskerken untergebracht. In Utrecht wurde Blumenthal von dem Mathematikprofessor Wolff empfangen; der Baron hat die Blumenthals selbst am Bahnhof abholen wollen, laut Blumenthal hat das „eine schreckliche Geschichte gegeben“.

Blumenthals Empfang in den Niederlanden war, ungeachtet der tragischen Veranlassung, äußerst positiv. Er bekam schnell Kontakt zu der mathematischen Gemeinschaft, es gelang ihm zu reisen, so nahm er an einem Kongress in Lüttich teil, wo allerlei alte Bekannte auftauchten, unter anderem Godeaux, Lebesgue, Cartan, Van der Woude und Van der Corput. In seinem Tagebuch notierte er: „die Franzosen sehr freundlich, trotz meiner Angst vor Lebesgue“. Im Lichte des Engagements der Annalen bei dessen missglücktem Beweis der Invarianz der Dimension kann man sich das ein wenig vorstellen.

Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Nicht lange danach, Mitte August, reisten die Blumenthals nach London, wo sie Kathleen Mordell und Davenport trafen. Schnell eine Reise nach Manchester um die Kinder zu sehen. Genau in dieser Zeit begann die europäische Politik in ein kritisches Stadium zu kommen. Das Tagebuch vermerkt den deutsch-russischen Nichtangriffspakt: „recht umschmeissend“. Am Samstag dem 26. August wurden die Deutschen aufgefordert, das Land zu verlassen, und so stand das Ehepaar noch am selben Abend im Bahnhof von Utrecht. Zurückschauend kann man aber nur bedauern, dass Blumenthal ein so gesetzestreuer Bürger war, dass er nicht einfach untergetaucht ist. Der Krieg war noch keine Woche später tatsächlich da und er hätte ihn dadurch, wenn auch als Häftling, überleben können. Zurück in Utrecht war er am 1. September Zeuge vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs: „Beginn des zweiten Weltkriegs.Herrliches Wetter. – Morgens Nachricht von der Angliederung Danzigs. 10 Uhr Führerrede im Reichstag. ... Abends die Entscheidungen Englands und Frankreichs auf Abberufung ihrer Gesandten. Es ist entsetzlich, und die Folgen werden noch entsetzlicher sein.“ Die Kriegserklärung von England und Frankreich folgte zwei Tage später. Am 17. September: „USSR rückt friedlich in Polen ein“.

Ungeachtet der überall deprimierenden Entwicklungen baute Blumenthal ein ausgedehntes Netzwerk von Mathematikern und Physikern auf, es tauchen Namen von vielen bekannten niederländischen Gelehrten auf: Biezeno, Freudenthal, Van Dantzig, Ornstein, Schouten, Wolff, siehe auch Seite 510. Er hatte vor allem Kontakt mit Burgers, mit dem er schon früher zu tun gehabt hatte.

In meinen Kontakten mit De Bruijn und Freudenthal kam Blumenthal auch schon mal zur Sprache. De Bruijn hatte ihn besucht und lobte sein Fachwissen auf dem Gebiet der modularen Funktionen; Freudenthals Begegnung mit Blumenthal muss kein großer Erfolg gewesen sein, hier kam eine bekannte Autorität in Kontakt mit einem dreißig Jahre jüngeren Fachkollegen, der die moderne Mathematik repräsentierte. Freudenthal sah, in seinen Worten, einen etwas zurückgezogenen, unterwürfigen Mann und Blumenthal schrieb in seinem Tagebuch: „Besuch von Freudenthal aus Amsterdam, der angenehm enttäuscht“, ein Zusammenstoß von zwei völlig verschiedenen Charakteren und zwei verschiedenen mathematischen Richtungen.

Die Kriegsberichte wechselten sich ab mit Berichten über Ausflüge nach Den Haag, Loosdrecht, .... Mitte Oktober zog die Familie Blumenthal nach Delft um, wo Blumenthal beruflich aufs engste mit Kollegen verbunden war. Mit Sicherheit in seiner Delfter Periode, aber auch später noch, blieb Blumenthal überraschend mobil. Kein deprimierter Gelehrter, der nicht mehr aus dem Haus herauskommt.

Die Delfter Periode. In seiner Delfter Zeit fand Blumenthal mühelos Freunde, er besuchte mathematische und physikalische Vorträge und Seminare, gab Nachhilfeunterricht und so fort. Das Leben war natürlich alles andere als komfortabel, eine kleine Wohnung, ein kleiner Zuschuss, Probleme mit dem Heizen in dem kalten Winter von 1939/40, aber ansonsten unterschied sich sein Leben nicht so viel von einem durchschnittlichen akademischen Dasein. Blumenthal war breit interessiert, er konnte mit den meisten Kollegen auf gleicher Ebene verkehren. Es gab die üblichen Ausflüge, zum Beispiel zum Stedelijk Museum wegen der Toorop-Ausstellung, zur Mathematischen Gesellschaft wegen der üblichen Sitzung am letzten Samstag des Monats. Diese Sitzungen waren eine beinahe heilige Tradition, jeder holländische Mathematiker wurde dort erwartet. Auf diese Weise muss Blumenthal fast alle bedeutenden Mathematiker gesehen haben. Über den Krieg erfährt man wenig aus dem Tagebuch. Einmal notierte Blumenthal, dass die Engländer und Franzosen Minen in den norwegischen Gewässern gelegt hatten. Und einen Tag später erfuhr er, dass die Deutschen in Dänemark und Norwegen eingerückt waren. Abgesehen von der Mobilmachung des niederländischen Militärs waren die Vorzeichen eines kommenden Konflikts noch ziemlich unsichtbar. Finanziell blieb es ein Problem, den Kopf über Wasser zu halten. Einige seiner Kollegen verschafften ihm bezahlte Aufträge, Van Heel bot ihm beispielsweise einen interessanten Auftrag aus der Optik an. Van der Pol und Brenner bezahlten ihn für Untersuchungen über den Operatorenkalkül.

Im Mai nahm die Natur ihren Lauf, die Bäume schlugen aus, die Sonne schien wieder und gleichzeitig ergriff die Regierung Maßnahmen für einen möglichen Zusammenstoß mit dem unangenehmen Nachbarn. Am 8. Mai besuchte Blumenthal noch einen Vortrag von Koksma in der Vrije Universiteit, der folgende Tag verlief routinemäßig – und am 10. Mai überrollte der Krieg die Niederlande. Das Tagebuch vermeldet: „Herrliches Wetter. Kriegsbeginn“. Wo es den Niederländern schon schwer fiel zu realisieren, dass es aus war mit unserer Neutralität, ging es Blumenthal nicht viel besser: „Radio brüllt im Unterhaus. Sehr gegen Willen zur Überzeugung gekommen, dass Krieg ist“.

Blumenthal hatte unterdessen durchaus Versuche unternommen, eine Stelle im Ausland zu finden, so hatte Hadamard für ihn eine Stelle in Argentinien im Auge, die neue Universität in Rosario suchte einen Direktor. Obwohl Hadamard die Chancen von Blumenthal hoch einschätzte, wurde Beppo Levi (der, wie Blumenthal bitter schrieb, ein Jahr älter war) berufen. Auch Versuche von Hermann Weyl nützten nichts. Andere Möglichkeiten in Amerika blieben auch illusorisch.

Das Leben in Delft ging vorläufig weiter seinen Gang, die Zusammenarbeit mit den zum größten Teil lokalen Kollegen hielt Blumenthal bei der Arbeit. Dazu kam gelegentlich auch Nachhilfeunterricht für Studenten. Der Krieg blieb im Tagebuch ziemlich unsichtbar, einige Einträge geben an, was Blumenthal zu notieren der Mühe wert fand: „Waffenstillstand mit Frankreich“ (22.6.1940, im Tagebuch 24.6.), „Deutsche Lufterfolge über England“ (26. August). Das Delfter Intermezzo wurde plötzlich beendet durch den Befehl, dass alle Nichtarier den Küstenstreifen verlassen müssten. Das Ehepaar zog jetzt durch Vermittlung von Burgers nach Arnheim, fast direkt nach ihrer Ankunft suchten sie eine Wohnung in Utrecht. Mit Hilfe von Frau Magnus (der Witwe von Rudolf Magnus) fanden sie nach ein paar Tagen eine Pension in der F. C. Dondersstraat. Dieser Umzug war ein Vorgeschmack dessen, was ihnen noch bevorstand. Während anfangs von einer sicheren eigenen Initiative die Rede ist, nehmen die Zwangsumzüge nach und nach zu.

Die Utrechter Periode. Die Utrechter Periode gibt ungefähr dasselbe Bild, soweit es Blumenthals Aktivitäten und seine Korrespondenz betrifft. Der Leser wird getroffen von dem großen Kreis von Kenntnissen, Briefpartnern, Kollegen, die in dem Tagebuch vorkommen. Während in Deutschland Kontakt mit jüdischen Mitbürgern nicht ungefährlich war, scheinen viele niederländische Bürger gute Samariter gewesen zu sein. Die Liste der Kontakte enthält viele prominente Namen, außer Fachkollegen auch viele alte und neue Freunde. Daneben führte Blumenthal einen umfangreichen Briefwechsel mit früheren Kollegen, die der Gefahr rechtzeitig hatten entfliehen können: Hermann Weyl, Ludwig Prandtl, ...

In Utrecht suchte Blumenthal gern den mathematischen Lesesaal auf, auch in dem physikalischen Labor war er ein gern gesehener Gast. Die lokalen Mathematiker, Barrau und Wolff, unterstützten Blumenthal nach Kräften, und auch der Physiker Ornstein kümmerte sich um ihn. Man muss nicht denken, dass Blumenthal überwiegend, oder gar ausschließlich, mit Fachkollegen verkehrte. Seine tiefe Religiosität brachte ihn mit Pastoren und befreundeten Mitgläubigen in Kontakt. Die Notizen im Tagebuch sind ergreifend in ihrer direkten Einfachheit. Blumenthal vertiefte sich auch in die niederländische Literatur und Geschichte. Er las zum Beispiel Huizingas Herfstij der Middeleeuwen und Multatulis moralisch-geschichtlichen Roman Max Havelaar über das koloniale niederländische Indien. Der Verlauf des Krieges wird kaum vermeldet, die unvorstellbare Entscheidung, in die Sowjetunion einzufallen (Operation Barbarossa), kommt im Tagebuch unter dem 22. Juni 1941 vor: „Krieg Deutschland – Russland!“; Anfang August lesen wir: „Fortschritte der Deutschen südlich Kiew“. Mathematisch blieb Blumenthal aktiv, er studierte die Literatur (soweit für ihn zugänglich) und arbeitete mit verschiedenen Kollegen zusammen. Seine letzte Veröffentlichung, über Isoperimetrie, schrieb er 1942 zusammen mit Wolff. Am 21. Mai 1941 wurde Blumenthal darüber informiert, dass er seine deutsche Staatsbürgerschaft verloren hatte. Diese Ausbürgerung war schon am 11. Januar geschehen, die Universität Göttingen hatte daraufhin fast unmittelbar Blumenthals Doktorgrad aberkannt. Seltsame Zeiten.

Aufruf zum Transport. Die Deportationen von Juden nahmen ständig an Zahl zu, Blumenthal entkam den Aufrufen zum Transport nicht. Um der Deportation zu entkommen unternahm er alle möglichen Versuche, freigestellt zu werden, so wurden die Blumenthals am 19. August 1942 durch den Jüdischen Rat nach Amsterdam befohlen. Um sie herum verschwanden viele jüdische Freunde, Deportationen fanden am laufenden Band statt. Am 24. August teilte der Jüdische Rat mit, dass das Ehepaar nach Westerbork kommen sollte, und am nächsten Tag standen die Blumenthals am Bahnhof Maliebaan bereit, um hintransportiert zu werden, und dann geschah doch noch ein Wunder: Auf dem Weg nach Zwolle wurden die beiden in Amersfort aus dem Zug gerufen – zurück nach Utrecht. Dem Utrechter Pastor Duyvendak war es gelungen, die Deportation rückgängig zu machen. Dieses Ereignis mag deutlich machen, dass von nun an das Leben in Utrecht zu einem beinahe unerträglichen Abenteuer geworden war. Dennoch haben ihre Bekannten sie weiterhin unterstützt, soweit das in ihrer Macht lag. Vor allem die Kirche und die Pastoren waren in praktischen Angelegenheiten behilflich, aber die seelische Unterstützung wog noch viel schwerer. Es ist kaum zu fassen, dass Blumenthal auch noch auf bescheidene Art mathematisch aktiv blieb. Der ruhige, bescheidene Gelehrte aus Aachen zeigte eine mentale Kraft, die unter diesen Umständen nur wenige aufbringen könnten (und aufgebracht haben). Jeder Tag brachte neue anti-jüdische Vorschriften, Gerüchte von Deportationen, Aufrufe der Polizei, SS oder anderer Instanzen. Insbesondere wurden die Blumenthals, und wahrscheinlich alle noch übrig gebliebenen Juden, auf eine unmenschliche Weise von Wohnung zu Wohnung gejagt. Allein schon die Umzugssorgen könnten einen durchschnittlichen Bürger zur Verzweiflung oder zum Wahnsinn treiben. Dadurch, dass das Tagebuch einen unausgeschmückten, aber detaillierten Bericht über das Leben des Ehepaars Blumenthal enthält, ist das Lesen eine Art historisches und psychologisches Erlebnis.

Ein Schatz an Informationen. Felsch hat an Blumenthals Tagebuch ein Kapitel mit Informationen über den Aufenthalt in Westerbork und Theresienstadt angefügt, das Material umfasst Briefe von Blumenthal selbst, von anderen Lagerinsassen und von Verwandten.

Eine eindrucksvolle Liste von Anhängen enthält einen Schatz an Informationen. So gibt es eine Aufzählung der Wohnungen die die Blumenthals in Delft und Utrecht bewohnt haben. Von September 1940 bis Januar 1943 sind sie achtmal umgezogen, häufig mit einem Befehl wie Wohnung binnen zwei Stunden zu räumen. Das Ende kam mit ihrer Internierung im Lager Vught, darauf folgte innerhalb eines Monats der Transport nach Westerbork, wo Mali an einer Lungenentzündung starb. Blumenthal wurde im Januar 1944 nach Theresienstadt weitertransportiert, wo er am 13. November 1944 im Krankenhaus ruhig einschlief. Beiden war die Fahrt in eines der Vernichtungslager erspart geblieben.

Der Autor dieser ungewöhnlichen Biografie verdient jedes Lob für seine Nachforschungen über die Personen um Blumenthal, die Probleme, mit denen ein emigrierter Jude in den Niederlanden zu tun hatte, seine kirchlichen Kontakte, die Unterstützung durch die mathematische Gemeinschaft, ....Wer das Buch liest, wird beeindruckt von dem Schatz an Informationen und Fakten, die Felsch aufgespürt hat. Er hat hiermit dem Menschen und Mathematiker Blumenthal eine aufrichtige und exakte Ehrerweisung erbracht.

Rezension: Dirk van Dalen (Utrecht)

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, März 2017, Band 64, Mit freundlicher Genehmigung des Verlags