hairer

Analysis in historischer Entwicklung

Ernst Hairer, Gerhard Wanner
Springer Verlag 2011, xi+405 Seiten, 29,95 €

ISBN-10: 3642137660
ISBN-13: 978-3642137662

Im Jahr 1999 kam ich aus Hamburg an die TU Braunschweig und übernahm erst einmal die Mathematikvorlesung für die Ingenieurstudenten der Elektrotechnik. Im Wintersemester 2002/2003 konnte ich dann erstmals die Analysis für Mathematiker und Physiker lesen und es ergab sich die (natürliche) Frage nach einem begleitenden Lehrbuch. Kurz zuvor war mir das Buch „Analysis by its history“ der Autoren Gerhard Wanner und Ernst Hairer in die Hände gefallen, die ich zuvor nur als Experten in der Numerik gewöhnlicher Differentialgleichungen wahrgenommen hatte. Das Buch gefiel mir auf Anhieb und ich will verkürzt zusammenfassen, wie ich die Inhalte des Buches verstanden und dann auch den Studierenden vermittelt habe: Im ersten und zweiten Kapitel bin ich (als Dozent und Leser) an der Stelle von Leonhard Euler. Beginnend mit dem Binomialtheorem stehen Potenzreihen für exp(x), sin(x), cos(x), ln(1+x)  im Mittelpunkt des Interesses. Man vertauscht munter Grenzwertprozesse, wird aber stets durch Gegenbeispiele gewarnt, dass unter Umständen mißliche Situationen entstehen können. Mit den Exaktheitsansprüchen des 18. Jahrhunderts erarbeitet man sich so die Analysis Eulers.

Im dritten Kapitel wechselt das Personal. Wir sind jetzt Weierstraß und Cauchy und stellen höhere Anforderungen an die mathematische Exaktheit. Der Vorteil dieser genetischen Methode: Die elementaren Funktionen und die Regeln der Differentialrechnung sind schon da, eingeführt als wir noch wie Euler waren, und nun brauchen wir nur noch exakte und rigorose Beweise für schon bekannte Tatsachen. Mit einer knappen Auswahl aus den Kap. I und II (etwa im Umfang der ersten drei Wochen des Semesters; vollständig kann man die Masse an Material, die Hairer und Wanner liefern, im Rahmen einer Analysis I Vorlesung an einer deutschen Universität nicht an die Tafel bringen) konnte ich das erste Semester mit Kap. 3 beenden in dem sicheren Gefühl, nicht weniger erreicht zu haben als in einer Vorlesung, die auf den Büchern von Forster oder Blatter basiert haben würde.

Kapitel IV behandelt die mehrdimensionale Analysis bis zur Transformationsformel. Hairer und Wanner vermeiden konsequent Indexschlachten (wie etwa beim Satz über implizite Funktionen) durch Beschränkung auf zwei Dimensionen. Dies mag manchem Kollegen unbefriedigend erscheinen – nach meiner Erfahrung ist es für die meisten Hörerinnen und Hörer deutlich verständlicher, mit Funktionen f:(xy)2 zu beginnen, und dann (z. B. in der Hörsaalübung) den entsprechenden Satz für f:nn vorzustellen. Kapitel IV trägt bis zu etwas mehr als der Hälfte des Semesters, denn es endet mit mehrdimensionalen (Riemann)- Gebietsintegralen, der Transformationsformel und ein paar Bemerkungen zu Integralen mit unbeschränktem Integrationsbereich. Das heißt, dass man für die für Physiker so wichtigen Kurven- und Oberflächenintegrale und für die Sätze der Vektoranalysis auf andere Lehrbuchliteratur zurückgreifen muss. Weiterhin vermeidet das Buch das Lebesgue-Integral, was etwas schade ist, da der Begriff der Lebesgueschen Nullmenge durchaus thematisiert wird.

Ich kann für dieses Buch nur eine volle Empfehlung aussprechen. Den Analysis-Kurs auf der Basis der englischsprachigen Version dieses Buches habe ich 2006/2007 und 2010/2011 jeweils mit kleinen Modifikationen (ich habe z. B. das Lebesgue-Integral in einer Dimension behandelt) wiederholt und fast ausschließlich gute Erfahrungen gemacht. Die Studierenden fühlten sich beim Stand ihres Wissens „abgeholt“ und die Lernkurve war längst nicht so steil wie in traditionellen Kursen. Die Vorlesungen 2002/2003 und 2006/2007 habe ich mit einem eigenen Fragebogen „evaluiert“ und danach gefragt, wie der genetische Zugang zur Analysis bei den Studierenden angekommen war. Fast 90 % der Hörerinnen und Hörer waren mit diesem Zugang zufrieden oder sogar sehr zufrieden.

Leider muss ich aber noch ein paar Worte zu der Bindung des Buches sagen. Offenbar spart auch der Springer-Verlag an allen Ecken und Enden, aber nun scheint eine untere Qualitätsgrenze unterschritten worden zu sein (vergl. meine Bemerkungen zum Buch von Gilbert Strang). Die Bindung ist eine simple Klebung, die aber so stramm ist, dass sie beim Öffnen des Buches kaum nachgibt. Will man, dass das Buch auf dem Schreibtisch geöffnet liegen bleibt, dann spaltet man den Buchblock sofort!

Das Buch kostet etwas weniger als 30 €. Für dieses Geld können die Leser eines so großartigen Buches meiner Meinung nach eine dauerhaftere Bindung verlangen.

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, März 2012, Band 59, Heft 1
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Rezension: Thomas Sonar (Braunschweig)