chaos im karpfenteich

Das Chaos im Karpfenteich
oder Wie Mathematik unsere Welt regiert

Richard Elwes
Verlag: Springer Spektrum; Auflage: 2014 (7. August 2014),16,99 €

ISBN-10: 3642417922
ISBN-13: 978-3642417924


Es folgen die Rezensionen von: Hartmut Weber
und Harald Löwe

In 35 kurzen Kapiteln beschreibt der Verfasser – englischer Universitätslehrer – Anwendungen der Mathematik. Sein Ziel ist es, Lesern, die Mathematik nicht besonders mögen, zu zeigen, wie wichtig diese ist und dass sie – wenn auch meist dem Laien nicht offensichtlich – in vielem enthalten ist.

Wer weiß denn, dass die Suchmaschine von Google ihren Erfolg der Mathematik verdankt, dass Raumfahrt und Mondlandung, Medikamentenentwicklung und Testverfahren, Forschungen über die Ausbreitung von Epidemien und jedes Navigationsgerät ohne Mathematik gar nicht existieren könnten?

Elwes will erklären, wo und wie mathematische Verfahren dabei verwendet werden. Es gibt andere Bücher, die dasselbe Ziel haben – ihm gelingt es meistens, die Dinge ohne viele Formeln und Gleichungen auf den Punkt zu bringen. Oft helfen Analogien und anschauliche Vergleiche eher, die zugrunde liegende komplexe Mathematik ansatzweise zu vermitteln.

Die Anwendungsbeispiele, die der Verfasser nutzt, stammen teils aus früheren Jahrhunderten, viele aber sind jüngsten Datums. Die Gesetze von Kepler und Newton, entstanden im 17. Jahrhundert,  erklären z. B. die Planetenbewegung. Um die Mondlandung von Menschen – erstmals 1969 – zu ermöglichen, waren darüber hinaus Antworten auf Fragen eines speziellen Drei-Körper-Problems zu finden, was erst während der Apollo-Projektentwicklung in den 1960iger Jahren gelang.

Die sogenannte Fourier-Analyse, entstanden im frühen 19. Jahrhundert, ist Voraussetzung für elektronische Musik, die erst durch die Digitalisierung möglich wurde. Letztere hat viele neue Entwicklungen in der Mathematik initiiert: beim Übertragen von digitalen Daten, die ja nur aus Nullen und Einsen bestehen, können leicht Fehler entstehen, wenn etwa eine 1 fälschlicherweise als eine 0 erkannt wird; die automatische Erkennung und Korrektur solcher Fehler hat zu neuen Methoden in der Codierungstheorie geführt.

Der Algorithmus, der bei Google für das erfolgreiche Suchen zuständig ist, beruht auf Elementen der Netzwerktheorie und benötigt Matrizenrechnung – in diesem Kapitel wird etwas mehr an Gleichungen und Rechnungen benötigt. Um solche kommt Elwes auch in einigen anderen Kapiteln nicht herum, beispielsweise, wenn er die Warteschlangentheorie am Beispiel der allseits bekannten Callcenter beschreibt, wo es darum geht, die optimale Anzahl von Leitungen und Beratern zu ermitteln. Verblüffend ist es sicher auch für viele zu erfahren und mit Hilfe einiger kleiner Rechnungen auch zu verstehen, dass ohne die Relativitätstheorie (beide, sowohl die spezielle wie die allgemeine) das GPS (Global Positioning System) nur viel zu ungenaue Daten liefern würde – damit steckt also in jedem „Navi“ indirekt ein Stück von Einsteins Genie!

Die Breite der im Buch beschriebenen Anwendungen ist noch weit größer als die von mir skizzierten Beispiele andeuten können – Finanzmathematik (Black-Scholes-Modell), Bildkomprimierung in der Digital-Fotografie, Gruppen-Screening bei medizinischen Tests, Chaostheorie und Fraktale sind nur einige weitere Stichworte, die andere Kapitel kennzeichnen. Bei den meisten von ihnen gelingt dem Verfasser in der Tat eine anregende Darstellung und eine Entdeckungsreise in die Mathematik. 

Rezension: Hartmut Weber (Uni Kassel)


 
Das vorliegende Buch des britischen Autors Richard Elwes nimmt den Leser auf einen breit angelegten Streifzug durch die Welt der Anwendungen der Mathematik mit. Immer wieder erkennt man in den 35 Kapiteln die tragende Rolle, die die Mathematik für den wissenschaftlichen Fortschritt spielt. Und immer wieder führt Elwes gekonnt die Faszination dieser Mathematik als eine Sache ganz eigenen Rechts vor, die auch unabhängig von der ursprünglichen Fragestellung zu begeistern weiß. Dadurch unterscheidet sich das Buch von vielen anderen Werken seines Genres, die eher die Anwendungen im Visier haben. Und dies hatte auch zur Folge, dass ich nicht (wie geplant) jeweils ein oder zwei Kapitelchen am Tag las, sondern bereits am ersten Abend das Buch vollständig verschlang – auch wenn die mathematische Seite auf den Laien zielt, auch wenn etliche der geschilderten Anwendungen recht bekannt sind, es war doch alles so hübsch aufbereitet und so nett dargestellt, dass ich mit dem Lesen nicht mehr aufhören konnte. Sie merken bereits: „Das Chaos im Karpfenteich“ erhält von mir eine klare Kaufempfehlung!

Zwei der Kapitel möchte ich hier stellvertretend für alle etwas näher vorstellen, wobei der Abschnitt über Perspektive den Anfang machen möge. Dieser beginnt ganz klassisch mit einem kurzen Blick in die Geschichte der Perspektive und der Erwähnung von Fluchtpunkten. Jetzt wird übergeleitet zum Begriff der Dualität, der am Beispiel des Würfels und des Oktaeders erläutert wird. Für das Axiom der eindeutigen Verbindbarkeit zweier Punkte durch eine Gerade steht allerdings kein duales Axiom zur Verfügung, so dass im Text nun ein kurzer Blick in die projektive Geometrie fast schon zwangsläufig folgt. Hierbei wird der Leser insbesondere mit den Theoremen von Pappos und Desargues bekannt gemacht. Das letztere Theorem trägt sogleich Früchte bei der Entscheidung, ob zwei vorgegebene Dreiecke in Perspektive liegen. Zum Abschluss bietet ein Hinweis auf die Anwendungen der Geometrie auf die Raumwahrnehmung bei Robotern Anlass genug, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen. Überhaupt ist Elwes sehr geschickt darin, Brücken von den Anwendungen zur Mathematik und zurück zu ähnlichen, aber auch zu anderen Anwendungen zu schlagen. Der treibende Motor hierbei bleibt die Mathematik, die immer wieder im Vordergrund steht, ohne dass dies allzu gewollt aussieht. Dass die mittlerweile – zu Unrecht! – nahezu aus den Curricula verschwundenen Sätze von Pappos und Desargues so vorteilhaft zur Geltung gebracht werden, macht den Abschnitt endgültig zu einem echten Leckerbissen für Feinschmecker.

Etwas anders gelagert ist das Kapitel „Der Aufstieg des Homo oeconomicus“, das dem Erwartungswert als eine der Grundlagen der Entscheidungstheorie gewidmet ist. Schon bald nach einigen Beispielen, die den Leser in die Thematik einführen, sind es relativ rasch die Paradoxa, die einen in den Bann schlagen und zum tieferen Nachdenken anregen. Einen besonders prominenten Gehirnverwinder möchte ich nicht vorenthalten: Beim Briefumschläge–Paradox von Littewood und Kraitchik geht es um ein Spiel mit zwei verschlossenen Umschlägen. In dem einen ist eine gewisse Summe Geld, im anderen der doppelte Betrag. Als Spieler wählen Sie einen der beiden Umschläge, dessen Inhalt Sie als Gewinn mit nach Hause nehmen können. Als kleine Bosheit dürfen Sie nach Ihrer Wahl noch einmal wechseln, müssen dies aber nicht – und im Gegensatz zu allseits bekannten Spiel „Dame und Tiger“ (die Rolle der Niete wird durch Elwes übrigens durch das Buch „Das Chaos im Karpfenteich“ besetzt) erhalten Sie keinerlei Hinweise. Ist in Ihrem Umschlag nun der Betrag A, so haben Sie nach einem Wechsel den Betrag 2A oder A/2 mit einer Wahrscheinlichkeit von jeweils 50%. Der Erwartungswert von 1, 25 A aber legt den Wechsel nahe – und das auch noch beliebig oft! Ich wusste doch schon immer, dass mit der Wahrscheinlichkeitstheorie etwas nicht stimmen kann! Auch im restlichen Kapitel dreht sich alles um das Unbehagen vor den von der Wahrscheinlichkeitstheorie bevorzugten Lösungen; diesmal aber wird eher das instiktive Vermeiden von Risiken des Homo sapiens genauer unter die Lupe genommen.

Nicht immer geht es im Buch um gewichtige Anwendungen wie etwa der effektiven Testmöglichkeit einer großen Gruppe auf eine Krankheit oder der Mathematik der Mondlandung. So dient das Umrühren einer Tasse Kaffee (bei dem wenigstens eine Stelle wieder auf die ursprüngliche Position zurückkehrt) als Ausgangspunkt zu einer Reise, auf der der Leser Topologie, Fixpunktsätze, und den Satz vom Igel kennenlernt, aber auch von den Anwendungen des Brouwerschen Fixpunktsatzes in der Spieltheorie hört. Natürlich kann man in einem für Laien geschriebenen Buch nicht erwarten, dass alles mathematisch streng zugeht, auch wenn das Buch durchaus an anderen Stellen mit Beweisideen (wie etwa der Lösung des Halteproblems von Turing) aufwartet. Aber es liest sich nett und flüssig – einen Eindruck von der Faszination der Mathematik gewinnt man allemal! So wünsche ich zum Abschluss dem Buch den wohlverdienten Erfolg und hoffe, bald wieder ein Werk von Richard Elwes rezensieren zu dürfen. Denn auch mir hat das Buch Lust gemacht: Lust auf mehr, Lust auf die Beschäftigung mit einigen der Anwendungen und vor allem mit der Mathematik, die diese Anwendungen erst dem menschlichen Geist zugänglich macht. Es ist wohl wahr: Mathematik regiert die Welt!

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, April 2015, Band 62, Heft 1
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags

Rezension: Harald Löwe (Braunschweig)