Im Prinzip steht der gewöhnliche Anleger vor den gleichen Problemen wie ein Fonds-Manager, Aktienhändler oder Volkswirt einer Bank. Wie werden sich die Aktienkurse entwickeln? Mit welcher Rendite ist zu rechnen? Ist das Portfolio sicher und bringt es den erwarteten Gewinn? Ebenso steht der Staat vor der Aufgabe, wirtschaftliche Größen - etwa Steuereinnahmen, Inflationsrate etc. - schätzen zu müssen.

Ökonomen, die die Entwicklung von Aktienkursen vorhersagen sollen, stehen vor einem grundlegenden Problem: Anders als etwa bei einem physikalischen Experiment ist es für Ökonomen grundsätzlich nicht möglich, Marktbeobachtungen zu wiederholen. Die Randbedingungen sind immer wieder andere. Politische Einflüsse, wirtschaftliche Faktoren und die psychologischen Momente der Anleger sind nicht reproduzierbar. Ebenso kann er nicht alle Variablen kennen, die seine Berechnungen beeinflussen: Wird der neue Bundeskanzler oder die neue Bundeskanzlerin die Stimmung an der Börse heben oder dämpfen? Spielt die Krise in Branche A eine Rolle für Branche B oder C? Und was bedeutet das für die Zinsentwicklung?

Es zeigte sich bald nach ihrer Einführung, dass einfache mathematische Modelle nur teilweise richtige Vorhersagen liefern. Kleine bis mittlere Börsengewinne bzw. -verluste bildet die Gaußsche Normalverteilung - eine Kurve in Glockenform - noch zuverlässig ab. Der dicke „Bauch" der Glockenkurve steht für einen überwiegend „gewöhnlichen" Kursverlauf. Aber „Ausreißer", also sehr große Verluste oder Gewinne, traten viel häufiger auf als mathematisch berechnet. Klassische Modelle zielten generell auf einen wahrscheinlichen Kursverlauf; extreme Schwankungen („Crashs") wurden vernachlässigt.

Neue Modelle werden mittels sogenannter Lévy-Prozesse gestaltet, die ein sprunghaftes Verhalten der Aktienkurse beschreiben können. Allerdings haben sie sich noch nicht als Standard in der Praxis etabliert. Auch machte man anfangs keine Aussagen über den zeitlichen Verlauf. War der Kurs zu einem festen Tag bekannt, so interessierte man sich meist nur dafür, wie er beispielsweise ein Jahr später aussehen würde. Die Tage dazwischen fielen in der Rechnung praktisch weg. Noch bis vor zwanzig Jahren nahmen Finanzmathematiker an, dass sich die Entwicklungen an den Börsen gegenseitig kaum beeinflussen. Krisen wurden ausgestanden und Dramatisches - so die Hoffnung - werde nicht eintreten.

Mit der Zeit wurden mangelhafte mathematische Modelle durch neue komplizierte Modelle mit mehr Parametern ersetzt, um weitere Aspekte berücksichtigen zu können. Inzwischen sind die Modelle so komplex, dass ein einzelner kaum in der Lage ist, sie zu durchschauen. Ein Aktienbroker wird sich schwertun, innerhalb von Minuten mehrere Varianten mit verschiedenen Parametern durchzurechnen und sinnvoll zu bewerten, um seine Kauf- oder Verkaufsentscheidung auf eine sichere mathematische Grundlage zu stellen. Dann helfen nur noch Erfahrung oder das „Bauchgefühl". Ein Blick in die Zeitungen zeigt auch, dass viele mathematische Begriffe falsch verstanden werden. Und es hilft natürlich nicht, einen kompetenten Mathematiker in einer Bank zu beschäftigen - etwas, das heute durchaus die Regel ist -, ihn bei wichtigen Vorstandsentscheidungen aber außen vor zu lassen.

Ansprechpartner

Dr. Jörg Wenzel (zu den Themen Kreditderivate und Zinsmodelle)
Fraunhofer Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik
Fraunhofer-Platz 1, 67663 Kaiserslautern
Tel.: 0631 / 3 16 00 - 45 01
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Dr. Marco Bargel (Chef-Volkswirt der Postbank)
Deutsche Postbank AG
Friedrich-Ebert-Allee 114 - 126, 53113 Bonn
Tel.: 0228 / 9 20 - 1 11 00
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