Stellungnahme der Deutschen Mathematiker-Vereinigung

Berlin, 16. Juni 2010. Das Land Hamburg plant, die Grundschulausbildung von 4 auf 6 Jahre zu verlängern. Die Deutsche Mathematiker-Vereinigung befürchtet, dass dafür viel zu wenig mathematisch qualifiziertes Lehrpersonal zur Verfügung steht und damit in vielen Fällen Mathematik fachfremd unterrichtet wird. Die Deutsche Mathematiker- Vereinigung fordert als Gegenmaßnahme, Primarschul-Lehrkräfte umfangreich mathematisch fortzubilden und die Lehrerausbildung entsprechend anzupassen.

Der Bildungsforscher Jürgen Baumert hat in seinen Untersuchungen gezeigt, dass sich die Mathematikleistungen der Schüler gerade in der Sekundarstufe in Deutschland mehr spreizen als anderswo. Eine gründlichere Ausbildung der Grund-, Haupt- und Realschullehrer in der Fachwissenschaft und auch der Fachdidaktik Mathematik könnte hier Abhilfe schaffen (vgl. dazu auch Ergebnisse der TEDS-M-Studie und die DMV/GDM- Stellungnahme dazu vom 15.04.2010).

Bislang wählen nur knapp 20 Prozent angehender Primarstufenlehrer in Hamburg das Fach Mathematik als Unterrichtsfach, obgleich sie Mathematik im schulischen Alltag unterrichten. Verbindlich ist im Hamburger Lehramtsstudium – auch nach der vor kurzem verabschiedeten neuen Bachelor-Studienordnung – nur ein fachdidaktisches Grundlagenstudium mit einer Vorlesung und zwei begleitenden Seminaren. Es soll nicht bezweifelt werden, dass viele Pädagogen – auch ohne dafür hinreichend qualifiziert zu sein – Mathematik engagiert unterrichten. Es ist jedoch zu befürchten, dass dieser Unterricht den fachmathematischen Anforderungen über den Anfangsunterricht hinaus nicht gerecht wird.

In dieser Situation beabsichtigt das Land Hamburg, die Jahrgangsstufen 5 und 6 in die Verantwortung der Grundschulen zu geben, ohne jedoch die Lehrerausbildung zu verändern. Mindestens die Hälfte des Mathematikunterrichts in den Jahrgangsstufen 5 und 6 wird dann von ehemaligen Grundstufenlehrern erteilt. Etwa 50 Prozent des Unterrichts in Mathematik, sowie in Deutsch und Englisch, soll in den Jahrgangstufen 4 bis 6 von Lehrkräften der Sekundarstufe I+II abgedeckt werden. Bei der Abordnung bzw. der Versetzung der Lehrkräfte von den weiterführenden Schulen zur Primarschule setzt die Hamburger Behörde für Schule auf das Prinzip der Freiwilligkeit. Doch gemäß den Erfahrungen in Niedersachsen mit den Orientierungsstufen, sind Gymnasiallehrkräfte selten bereit, ausschließlich im Unterstufenbereich in den Jahrgangstufen 4 bis 6 zu unterrichten. Sie haben das gymnasiale Lehramt nicht zuletzt deshalb studiert, weil sie Schülerinnen und Schüler bis zum Abitur begleiten möchten. Zudem zählt das Fach Mathematik am Gymnasium – zunehmend auch in Großstädten – zu den Mangelfächern, sodass die Schulleitungen der Gymnasien ihre guten Mathematiklehrkräfte nur ungern abgeben. Durch die geplante Hamburger Schulstruktur- reform würde also ein weiteres enormes Kontingent an fachfremd unterrichtetem Mathematikunterricht geschaffen. Dies ist ein sehr ernst zu nehmendes Problem.

Gerade in den Jahrgangsstufen 5/6 verlässt die Mathematik den engen arithmetischen Kontext und es müssen wichtige Grundbegriffe der Mathematik für den weiteren Unterricht vermittelt werden. Die Deutsche Mathematiker-Vereinigung (DMV) befürchtet, dass die notwendigen fachmathematischen Grundlagen nicht hinreichend solide gefestigt werden können. Die Konsequenz wird sein, dass sich die Studieneingangssituation aufgrund

mangelnder Mathematikkenntnisse weiter verschlechtert und sich die zu Recht beklagte hohe Abbrecherquote in den MINT-Studienfächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) weiter vergrößert. Hinzu kommt, dass die Hamburger Behörde für Schule in den heterogenen Primarschulklassen keine Unterteilung in den Hauptfächern (Mathematik, Deutsch und Englisch) in leistungshomogene Lerngruppen in den Jahrgangsstufen 5/6 plant, sodass auch die mathematisch leistungsfähigen Kinder, die später gymnasial beschult werden könnten, zum Großteil nur fachfremde Mathematiklehrerinnen und -lehrer hätten.

Die DMV fordert die Hamburger Behörde für Schule deshalb auf, ein bislang lediglich in Planung befindliches umfangreiches Fortbildungsprogramm für künftige Primarschullehrkräfte verbindlich zu machen. Hierbei darf nicht ausschließlich auf moderne Unterrichtsmethoden und Binnendifferenzierungsmaßnahmen gesetzt werden, sondern es müssen fachdidaktische und fachmathematische Komponenten in den Fokus genommen werden. Für dringend notwendig hält die DMV, den Erfolg dieser Maßnahme zu evaluieren.

Des Weiteren fordert die DMV die Hamburger Behörde für Schule auf, die Lehrerausbildung in der ersten und zweiten Ausbildungsphase anzupassen, um das fachmathematische Niveau Hamburger Schulabsolventen, insbesondere der Abiturienten in einem sechsstufigen Gymnasium (G6), halten zu können.

Speziell für die Gymnasien stellt sich die Frage, wie in Hamburg mit der geplanten Schulstrukturreform gewährleistet werden kann, dass der Primarschul-Mathematikunterricht in den Jahrgangsstufen 5/6 qualitativ hochwertig auf das Gymnasium ab Klasse 7 vorbereitet, zumal das Abitur in Hamburger Gymnasien seit dem Schuljahr 2009/10 bereits im 12. Jahrgang abgenommen wird. Aus dem ursprünglichen neunstufigen Gymnasium (G9) würde dann, nach nur zweijähriger G8-Testphase, bereits ein sechsstufiges Gymnasium (G6) werden. Auch für begabte Kinder sieht das Reformkonzept in Hamburg keine Alternativen vor. In Berlin wechseln immerhin noch 7 Prozent der Schülerinnen und Schüler nach einer Aufnahmeprüfung in die Klasse 5 eines Gymnasiums. Diese Möglichkeit soll es in Hamburg für einzelne Gymnasien und auch für Privatschulen nicht geben.

Prof. Dr. Wolfgang Lück, Präsident der Deutschen Mathematiker-Vereinigung

Die Stellungnahme im PDF-Format finden Sie hier.

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