Stellungnahme der Deutschen Mathematiker-Vereinigung

5. September 1999. Die Bachelor- und Master-Studiengänge nach angelsächsischem Vorbild sind, im Hinblick auf eine Angleichung der Studienbedingungen innerhalb der EU und eine Internationalisierung der Studienmöglichkeiten, an vielen deutschen Universitäten geplant oder schon eingerichtet, auch im Fach Mathematik. Die DMV sieht die Vorteile, die sich aus dem neuen Studienangebot für die Ausbildung von Mathematikstudenten und für die Verbreiterung grundlegender mathematischer Kenntnisse in vielen anderen Fächern ergeben können, sie sieht aber auch die Notwendigkeit, die sich ergebenden neuen Qualifikationsmöglichkeiten klar abzugrenzen gegen das wohl bewährte Profil der Diplomstudiengänge. Die DMV empfiehlt daher - in Ergänzung zu den Empfehlungen der KMathF vom 15.Mai 1999 - allen mathematischen Fachbereichen in Deutschland, bei Einführung der neuen Studiengänge die folgenden Grundsätze zu berücksichtigen.

1. Notwendigkeit der Profilbildung

Die gegenwärtig vieldiskutierten neuen Studiengänge haben noch kein sichtbares Profil, an dem sich die Nachfrage orientieren könnte. Die Einzelheiten der Ausgestaltung müssen den mathematischen Instituten überlassen bleiben, die DMV möchte aber darauf hinwirken, dass zumindest in Grundzügen eine einheitliche Struktur der neuen mathematischen Studiengänge entsteht, damit das Ausbildungsziel und das Berufsbild der Mathematiker einigermaßen klar bleibt.

2. Verhältnis zum Diplom

Die neuen Studiengänge können und sollen nicht den in Deutschland anerkannten und bewährten Diplomstudiengang Mathematik ablösen. Für das wissenschaftliche Mathematikstudium sind die inhaltlichen Vorgaben der Diplomstudiengangs auch aus heutiger Sicht der einzig sinnvolle Maßstab; es versteht sich, dass dieses Ausbildungsziel auch im Rahmen inhaltlich äquivalenter gestufter Studiengänge erreichbar ist.

Das Bachelor/Baccalaureus-Studium wird deutlich höhere Anforderungen stellen als das Vordiplom und deutlich geringere als das Diplom; der Wegfall einer selbständigen wissenschaftlichen Arbeit fällt dabei am stärksten ins Gewicht. Die neuen Studiengänge können aber durchaus gleichberechtigt neben die Diplomstudiengänge treten, um das vertikal angelegte Ausbildungskonzept des Diploms durch horizontale Aus- und Umstiegsmöglichkeiten zu ergänzen und so verstärkt eine frühe Berufstätigkeit oder eine fächerübergreifende Ausbildung mit starker mathematischer Grundbildung zu ermöglichen.

3. Regelstudienzeit

Die neuen Studiengänge dürfen nicht zu einer Verkürzung der Regelstudienzeiten für die übrigen Studiengänge führen. Die Fortsetzung des Studiums nach einem ersten berufsqualifizierenden Abschluss mit dem Ziel Diplom oder Master/Magister ist keinesfalls ein Zweitstudium, sondern führt erst zu einem abgeschlossenen wissenschaftlichen Studium, mit den entsprechenden höheren beruflichen Qualifikationen. Dementsprechend müssen die Regelungen des BAFöG so gestaltet werden, dass auch im Falle gestufter Abschlüsse eine Förderung bis zum Abschluss des Masters im heute für die Diplomstudiengänge üblichen Zeitrahmen gewährleistet wird.

4. Modularisierung

Um die bestehenden und neu entstehenden Studiengänge für Studenten und Arbeitgeber transparent zu machen und zugleich ein hohes Maß an horizontaler Durchlässigkeit zu sichern, müssen die Kerninhalte der Grundausbildung in Minimalstoffplänen (Modularisierung) verbindlich festgelegt werden. Dabei ist zu prüfen, welche Stoffkomplexe unerlässlich sind für eine mathematische Grundausbildung mit wissenschaftlichem Anspruch aber ohne eigene wissenschaftliche Bewährung, wie sie für die Bachelor/Baccalaureus - Ausbildung typisch sein wird. Dem jeweiligen Studiengang und seinem Anforderungsprofil entsprechend sind gegebenenfalls auch neue Elemente, mit gleicher Verbindlichkeit, in das Grundstudium aufzunehmen, die etwa einen stärkeren Bezug zur beruflichen Praxis oder einer fachübergreifenden Thematik herstellen.

Angesichts der kürzeren Studiendauer ist die Modularisierung der Lehrstoffe in den neuen Studiengängen auf das ganze Studium auszudehnen. Parallel dazu müssen auch die entsprechenden Teile des Diplom-Hauptstudiums vor der Spezialisierung verbindlicher gestaltet werden.

Bei der Genehmigung eines der neuen Studiengänge ist grundsätzlich nachzuweisen, dass er durch studienbegleitende Prüfungen modularisiert und mit einem Leistungspunktsystem (Credit Points) ausgestattet ist, um einen leichteren Transfer von Prüfungs- und Studienleistungen sowie eine individuelle Studiengestaltung zu ermöglichen.

5. Erster berufsqualifizierender Abschluss

Der Bachelor/Baccalaureus-Studiengang ohne aufbauenden Diplom- oder Master/Magister-Abschluss soll auch den Studierenden eine solide Mathematikausbildung (im Sinne einer "starken mathematischen Grundbildung') bieten, die aus persönlichen oder fachlichen Gründen keinen wissenschaftlichen Abschluss anstreben oder sich zu Beginn des Studiums noch nicht festlegen wollen. Dies wird garantiert dadurch, dass die wissenschaftlich-mathematische Ausbildung der ersten vier Semester mit dem Grundstudium der anderen mathematischen Studiengänge zusammenfällt. Sie wird - im Gegensatz zum Diplomstudium - im fünften und sechsten Semester aber nur in verkürzter Form weitergeführt, um praxisbezogenen und fachübergreifenden Ausbildungsanteilen verstärkt Raum zu geben.

Dieses Konzept ermöglicht eine Ausbildung, die in dieser Form nicht von den Fachhochschulen geleistet werden kann; zugleich dürfte sie neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt eröffnen. Es steht zu erwarten, dass Absolventen mit dieser Ausbildung in Konkurrenz zu den derzeit "mathematiknah' eingesetzten Informatikern, Physikern oder Ingenieuren treten werden und zugleich neue Felder, z.B. im Bereich der Finanzwirtschaft oder der Medizintechnik, besetzen können.

Mit dem Bachelor/Baccalaureus wird dann ein berufsqualifizierender Abschluss erreicht und ein Titel verliehen, dem weder der Makel des "Abbrechers' noch des bloßen "Nebenfachmathematikers' anhaftet. Die mit den neuen Abschlüssen verbundenen Titel sind im deutschsprachigen Raum sicher noch gewöhnungsbedürftig, obwohl der "Magister' gut etabliert ist und der "Baccalaureus' für Jahrhunderte üblich war. Der gegenwärtige Trend zur Globalisierung wird sicher zu einer schnellen Anerkennung verhelfen, wichtiger wird es jedoch sein, von Anfang an gut ausgebildete Absolventen in die Arbeitswelt zu entlassen, von denen ein Multiplikatoreffekt ausgehen kann.

Das neue Studienangebot wird vermutlich auch mathematisch Interessierte ansprechen, die bisher die Belastung eines vollen Mathematikstudiums scheuen oder sich, aus welchen Gründen auch immer, zu einem früheren Studienende gezwungen sehen. Auch für Studenten, die das Lehramt anstreben, könnte ein ohne wesentlichen Mehraufwand zu erwerbender berufsqualifizierender Abschluss attraktiv sein, weil er sie beruflich besser absichert.

6. Neue Interdisziplinarität

Charakteristisch für die gegenwärtige wissenschaftliche und technische Entwicklung ist eine ständig zunehmende "Mathematisierung': mathematische Methoden und Begriffsbildungen prägen die theoretischen Grundlagen, die Modellbildungsprozesse und schließlich deren numerische Auswertung. Dennoch liegt ein Hindernis für die verstärkte Mitwirkung von Mathematikern in diesem Prozess in ihrer mangelnden Vertrautheit mit dem Fachwissen, das im jeweiligen Gebiet benötigt wird; umgekehrt fehlt in vielen Entwicklungsteams häufig an entscheidender Stelle die mathematische Expertise. Beide Defizite betreffen in der Regel nicht die jeweilige theoretische Forschungsfront, sondern gründliche Vertrautheit mit der Fachsprache und den auf Universitätsniveau gelehrten Standardmethoden.

Hier sehen wir einen echten Bedarf und zugleich eine große Chance für die neuen Studienangebote. Ein mathematisches Bachelor/Baccalaureus-Studium kann in Verbindung mit geeigneten Master/Magister-Studiengängen zu einer multidisziplinären Professionalität führen, die sich bislang - wenn überhaupt - nur durch sehr zeitaufwendige Mehrfachstudien erzielen lässt. Es scheint außer Frage, dass in Verbindung mit vielen Natur- und Ingenieurwissenschaften, aber ebenso mit der Medizin und den Wirtschaftswissenschaften Ausbildungsprofile entworfen werden können, für die in Forschung und Entwicklung ein erheblicher Bedarf besteht. Auch der umgekehrte Weg ist denkbar und sinnvoll, wenn also neben einem anderen Hauptstudium der Bachelor/Baccalaureus in Mathematik erworben wird, um den mathematischen Anforderungen der neuen Entwicklungen gewachsen zu sein. Damit wird eine Qualifikation erreicht, die in ihrem wissenschaftlichen Anspruch deutlich über dem Vordiplom liegt und auf einem abgerundeten Lehrangebot beruht; im einzelnen könnten sicherlich Nebenfachleistungen aus anderen Studiengängen angerechnet werden.

Es muss betont werden, dass der konzentrierte Charakter solcher Studiengänge die Modularisierung der allermeisten Lehrangebote zwingend zur Voraussetzung hat; anders ist der verlässliche Aufbau eines solchen Studiums nicht durchführbar. Der Spielraum für den mit dem wissenschaftlichen Studium untrennbar verbundenen Anspruch auf intellektuelle Weiterentwicklung von Lernenden und Lehrenden wird dadurch notwendig kleiner, aber er bleibt erhalten. Es wird die Aufgabe der einzelnen Institute und ihrer Mitglieder sein, die neuen Studiengänge so attraktiv zu gestalten, dass sie nicht nur die notwendige Resonanz bei Absolventen und Arbeitgebern finden, sondern sich auch harmonisch in das komplizierte Gefüge der deutschen Universitäten einfügen.

7. Internationalität

Der Bachelor/Baccalaureus ist im Gegensatz zum Diplom ein international anerkannter Abschluss, der den verlustfreien Wechsel deutscher Studenten an ausländische Hochschulen sehr erleichtern könnte. Auch umgekehrt dürfte sich die Attraktivität der deutschen Universitäten für Ausländer durch die Vergabe dieser Abschlüsse erhöhen, auch wenn hier noch manche andere Hindernisse zu überwinden sind. Eine stärkere internationale Orientierung der deutschen Universitätsausbildung sollte sich in jedem Fall positiv auswirken.

8. Kosten

Die neuen Studiengänge können auf keinen Fall mit zusätzlichen Ressourcen rechnen, müssen also kostenneutral eingeführt werden. Dies entspricht aber den skizzierten Grundsätzen, da die Mathematikausbildung im ganzen Studienzeitraum mit (Teilen) der Diplomausbildung zusammenfallen soll. Dennoch ist eine gewisse Mehrbelastung, z.B. durch zusätzliche Prüfungen, je nach Gestaltung der Studienordnung im einzelnen nicht auszuschließen, die im Interesse dieses neuen Impulses und seiner angemessenen Gestaltung erbracht werden sollte.

Ausarbeitung der Stellungnahme: J.Brüning, W.Jäger, J.Zowe

Verabschiedet vom DMV-Präsidium am 5.9.1999