Stellungnahme der DMV-Kommission "Diplomstudiengang Mathematik" (1995)

Diplomarbeit und Regelstudienzeit

Erklärung zur Entschließung der HRK

die Studienstrukturreform in Mathematik betreffend (Dokumente zur Hochschulreform 101/1995)

1. Vorbemerkungen

Seit etlichen Jahren gibt es Bemühungen, eine Rahmenordnung für den Diplomstudiengang Mathematik zu erstellen. Bei der Diskussion um die Regelstudienzeit haben dabei Fachvertreter der Mathematik in verschiedenen Gremien immer wieder auf die Notwendigkeit einer zehnsemestrigen Regelstudienzeit hingewiesen und zur Begründung auf die besondere Rolle der Diplomarbeit im Studiengang Mathematik verwiesen. Diese Forderung ist bisher erfolglos geblieben, ohne daß eine inhaltliche Auseinandersetzung stattgefunden hätte. So hat die Hochschulrektorenkonferenz aus einer Empfehlung ihrer Fachkommission zur Strukturreform des Mathematikstudiums (Drucksache 1200/94 der HRK) gerade diejenigen Passagen herausgenommen, die sich auf die Bedeutung der Diplomarbeit und die Regelstudienzeit beziehen, ohne in der Publikation des entsprechenden Plenumsbeschlusses diesen Umstand zu erwähnen (Dokument 101/1995 der HRK). Es erscheint nicht selbstverständlich, daß in der anschließend gebildeten Fachkommission Mathematik der Gemeinsamen Kommission von Hochschulrektoren- und Kultusministerkonferenz die sachlichen Argumente wirklich offen diskutiert werden können. Andererseits hat eine Unterschriftensammlung der Herren Ferus und Karcher in den angesprochenen Punkten eine außerordentlich breite Übereinstimmung der mit der Ausbildung von Mathematikern befaßten Hochschullehrer ergeben (Mitteilungen der DMV 1/96).
In dieser Situation sieht sich die Deutsche Mathematiker-Vereinigung veranlaßt, die sachlichen Argumente für eine zehnsemestrige Regelstudienzeit im Diplomstudiengang Mathematik zusammenzufassen und den von diesem Problem betroffenen Institutionen noch einmal vorzustellen.
Wir möchten betonen, daß wir dabei durchaus das Ziel einer Verkürzung der gegenwärtig häufig zu langen Studienzeiten im Auge haben. Aber nur die Besinnung auf die wesentliche Funktion der verschiedenen Bildungsphasen im Studium ermöglicht eine "fachgerechte" zeitliche Eingrenzung derselben (und eine solche von derzeit vierzehn und mehr auf zehn Semester wäre wahrlich ein großer Erfolg). Aber diese Besinnung macht eben auch deutlich, welche gravierenden Konsequenzen ein bürokratisch verordneter Ausfall etwa der Vorbereitungsphase für die Diplomarbeit mit sich brächte.

Das Diplom in Mathematik ist für die meisten Studierenden dieses Studiengangs der erste und einzige berufsqualifizierende Abschluß -- kein Referendariat, keine Promotion bringt den Absolventen zusätzliche (weitere 4-6 Semester erfordernde) Qualifikationen. Es gibt dabei kein einheitliches Berufsbild eines Diplom-Mathematikers; die sich ständig verändernde Palette der Einsatzgebiete von Mathematikern ist extrem breit. Daher müssen Mathematiker als Generalisten geschult werden.
Nur wenige Berufsgruppen müssen technische Revolutionen so intensiv mitgestalten wie Mathematiker; diese müssen daher auch nach vielen Berufsjahren noch in der Lage sein, neue Entwicklungen vorauszusehen und aktiv mitzugestalten.
Im Diplom-Studiengang Mathematik darf es deshalb nicht vorwiegend um die Einübung von derzeit benötigten Fertigkeiten gehen, sondern um die Vermittlung eines soliden mathematischen (Grundlagen-)Wissens und einer breiten Kenntnis mathematischer Methoden, um das Erlernen logischer Strukturierung und Modellierung und um ein intensives Denktraining, das auch nach Jahrzehnten noch Innovationen mitzugestalten erlaubt.
Hierfür hat sich ein dreistufiger Ausbildungsgang als sinnvoll herausgestellt:

In den ersten vier Semestern (Grundstudium ) werden die Studierenden mit grundlegenden Begriffen und Methoden aus Analysis, Algebra und Angewandter Mathematik vertraut gemacht.
Im Hauptstudium folgen einjährige Einführungskurse in die an der jeweiligen Hochschule vertretenen Vertiefungsgebiete. Diese sind insbesondere Grundlage für die ebenfalls einjährigen weiterführenden Kurse im gewähltenSchwerpunktgebiet. Damit kann die Stoffvermittlung für die Prüfungsfächer Reine Mathematik, Angewandte Mathematik und Nebenfach nach acht Semestern abgeschlossen sein.
Der Schlußstein ist die Diplomarbeit, die neben ihrer Funktion als Prüfungsleistung die entscheidend wichtigere Aufgabe hat, den kreativen Umgang mit den typisch mathematischen Arbeitstechniken bei der im wesentlichen selbständigen, aber unter Anleitung durchgeführten Bearbeitung eines speziellen Problems -- d.h. in der Durchführung eines kleinen Projekts -- zu erlernen. Für die Bearbeitungszeit für die Diplomarbeit (sowie das Ablegen der mündlichen Prüfungen) wird ein Jahr benötigt; diese Frist sollte in eine Einarbeitungszeit von 6 Monaten (Vorbereitungsphase), deren Beginn förmlich festgestellt werden sollte, und eine Bearbeitungsphase von 6 Monaten aufgeteilt sein.
Das Mathematik-Diplom besitzt ein klares, von der breiten Palette der Arbeitgeber akzeptiertes Qualifikationsniveau (deutlich höher als bei Mathematisch-Technischen Assistenten, deutlich niedriger als bei Mathematikern mit Promotion). Bei einer Abwertung dieses Diploms zu einem "Kurzdiplom" ohne gewichtige Diplomarbeit würde die Akzeptanz verlorengehen; dies würde zu einem Ersatz des Diploms durch die Promotion und somit zu einer erheblichen Verlängerung der Studienzeiten bis zum real berufsqualifizierenden Abschluß führen.
    Die hier zusammengefaßten Argumente werden nun detaillierter erläutert. Zunächst wird präzisiert, welche Rolle die Berufssituation des Mathematikers dem Diplom zuweist. Dann wird ausgeführt, welche Struktur dies Ausbildungsziel für den Diplomstudiengang nach sich zieht und welche fachspezifischen Züge dabei zum Tragen kommen. Schließlich verdeutlichen wir noch einmal die Konsequenzen einer Reglementierung, die diese Sachlage verkennt.
2. Zur Wertigkeit des Mathematik-Diploms

Das Diplom in Mathematik stellt den vollwertigen, bereits berufsqualifizierenden Abschluß des Diplomstudiengangs Mathematik dar. Während z. B. kein Jurastudent nach dem ersten Staatsexamen (d h. seinem ersten berufsqualifzierenden Abschluß) als Rechtsanwalt, Richter oder Staatsanwalt tätig werden darf, sondern dafür eine mit staatlichen Geldern finanzierte Referendarausbildung und ein zweites Staatsexamen absolvieren muß, kein Lehramtsstudent nach seinem ersten Staatsexamen als Lehrer eingestellt wird, sondern dafür noch einen mit staatlichen Geldern finanzierten Vorbereitungsdienst von etwa 2 Jahren (d. h. vier Semestern) mit einer zweiten Staatsarbeit absolvieren muß, sich kein Medizinstudent nach seinem dritten Staatsexamen als Arzt niederlassen darf, sondern dafür zunächst noch eine umfangreiche Ausbildung zu durchlaufen und durch Prüfungen abzuschließen hat, kaum ein Chemiker eine Chance hat, ohne Promotion eine adäquate Stellung zu finden, bildet die Diplomprüfung den einzigen berufsqualifizierenden Abschluß in Mathematik. Seit jeher muß ein Diplom-Mathematiker ohne weitere (staatlich finanzierte) Zusatzausbildung und -prüfung unmittelbar in seinem Beruf tätig werden.

Der Berufseinstieg und die Tätigkeit als Mathematiker sind besonders schwierig, weil es -- anders als z. B. bei Zahnärzten, Apothekern, Priestern o. ä. -- kein einheitliches Berufsbild eines Diplom-Mathematikers gibt. Die sich ständig verändernde Palette der Einsatzgebiete von Mathematikern reicht z. B. von Versicherungen (mit Tätigkeitsfeldern, die z. T. erst in den letzten Jahren durch die Deregulierung des Versicherungsmarktes entstanden sind) über Banken (denen erst kürzlich die Notwendigkeit von effizientem Controlling drastisch bewußt wurde), Unternehmensberatungen (die eine schnelle Übernahme von Innovationen zu bewerkstelligen hatten), Computer- und Software-Firmen (die komplexe Strukturprobleme zu lösen haben), Chemie- und Pharma-Firmen (die biometrische/klinische Studien ihrer Produkte zu planen und durchzuführen haben), Rechenzentren (mit firmenweiten Beratungs- und Koordinierungsaufgaben), kommunikationstechnischen Firmen (die unterschiedlichste Dienste strukturieren und implementieren müssen), allen Arten von Produktionsbetrieben (bei denen eine effiziente Lagerhaltung/on-line Produktion zu organisieren ist) bis hin zu Ausbildungszentren -- es gibt wohl kaum eine Branche, in der nicht Diplom-Mathematiker tätig sind.

Überdies müssen nur wenige Berufsgruppen technische Revolutionen so intensiv mitgestalten wie Mathematiker: Die in der Zeit von Rechenstäben und mechanischen Tischrechnern (d. h. bis in die 60er Jahre hinein) ausgebildeten Mathematiker mußten z.B. Großrechenzentren aufbauen und leiten, Softwarehäuser initiieren und jeweils auf dem neuesten Stand halten. Dies bedeutet, daß ein Diplom-Mathematiker in der Lage sein muß, auch nach 25 Jahren Berufstätigkeit neue Entwicklungen nicht nur zu adaptieren, sondern vorauszusehen und aktiv mitzugestalten.

Die breite Palette der Arbeitgeber von Diplom-Mathematikern hat die derzeitige Konzeption der Ausbildung dadurch honoriert, daß sie das Diplom als vollwertigen Berufsabschluß akzeptiert und -- anders als z. B. in der Chemie -- die Promotion nicht erwartet.

3. Struktur des Diplomstudiengangs Mathematik

Alles dies hat gravierende Konsequenzen für die Struktur des Diplom-Studiengangs in Mathematik: Es darf dabei nicht in erster Linie um die Vermittlung und Einübung von Fertigkeiten gehen, die derzeit in Firmen angewandt werden. Vorlesungen, Übungen und Seminare haben vielmehr über das Ziel der Vorbereitung auf Prüfungen hinaus die viel wichtigere Aufgabe, den Studierenden ein umfangreiches mathematisches (Grundlagen-) Wissen, die breite Kenntnis mathematischer Methoden, das Erkennen und Nutzen logischer Strukturen und ein Denktraining zu vermitteln, das auch nach Jahrzehnten noch Innovationen mitzugestalten erlaubt.

An den verschiedenen Mathematischen Fachbereichen hat die kontinuierliche Weiterentwicklung des Diplom-Studiengangs Mathematik daher zu sehr ähnlichen Ergebnissen geführt. Die Ausbildung gliedert sich in folgende drei Stufen:

In den ersten vier Semestern (Grundstudium) werden die Studenten mit den grundlegenden Begriffen und Methoden aus Analysis, Algebra und Angewandter Mathematik vertraut gemacht. Mathematisches Argumentieren erfordert, die Sprache sehr viel präziser zu benutzen, als dies für den umgangsprachlichen Gebrauch notwendig ist. Dies ist ein schwieriger Umgewöhnungsprozeß, der seine Zeit braucht. Im Übungsbetrieb werden zu allen Veranstaltungen des Grundstudiums studentische Tutoren eingesetzt, die den Studienanfängern helfen.
Im Hauptstudium folgen einjährige Einführungskurse in (die an der jeweiligen Hochschule vertretenen) Vertiefungsgebiete. Erstens werden in einem solchen Kurs die Kenntnisse für eine der mündlichen Diplomprüfungen erworben. Zweitens sind sie die Grundlage für die ebenfalls einjährigen weiterführenden Kurse im gewählten Schwerpunktgebiet für die Diplomarbeit. Von den Studierenden wird erwartet, daß sie diese Kurse im 5. + 6. sowie im 7. + 8. Semester hören. Diese Vorlesungen im Schwerpunktgebiet können nur erfolgreich absolviert werden, wenn die vorhergehenden Lehrveranstaltungen wirklich verstanden und die wesentlichen Begriffe aus diesen eingeübt sind. Parallel zu den Kursen werden Seminare verlangt und angeboten, in denen Studenten Vorträge halten, an denen sie etliche Wochen gearbeitet haben. Es ist mehr als ein Seminar nötig, ehe Studenten sich beim Vortragen mathematischer Argumentationsketten von den Vorlagen lösen können. Zeitaufwendig ist am Mathematikstudium eben nicht die Bewältigung einer Stoffülle, die sich "entrümpeln" ließe. Zeitaufwendig ist das Erlernen der mathematischen Denkweise und des argumentativen Umgangs mit abstrakten Begriffen, die erst nach intensiver Beschäftigung wieder einer anschaulichen Verwendung zugänglich werden -- weit jenseits der Alltagsbedeutung des Wortes "anschaulich".
Der Schlußstein der Ausbildung ist die Diplomarbeit, der eine besonders große Bedeutung zukommt: Neben ihrer Funktion als Prüfungsleistung hat sie die entscheidend wichtigere Aufgabe, im Rahmen der wissenschaftlichen Ausbildung den kreativen Umgang mit den typisch mathematischen Arbeitstechniken bei der im wesentlichen selbständigen, aber unter Anleitung durchgeführten Bearbeitung eines spezielleren Problems zu erlernen, d.h. ein intellektuell anspruchsvolles kleines Projekt durchzuführen -- und die Durchführung von anspruchsvollen Projekten ist der Kern der Berufstätigkeit von Diplom-Mathematikern. Ein solches Projekt besteht in der Regel aus der Einarbeitung in die spezielle Thematik (wobei das allgemeine Grundwissen vorhanden sein muß), der Materialsammlung zu dem speziellen Problem -- dies wird häufig in einer Sichtung und Aufarbeitung der relevanten Literatur bestehen --, der Behandlung der Fragestellung (mit dem Ausloten auch von Irrwegen) und dem Erstellen eines präzisen und dennoch verständlichen Abschlußberichts (u. a. einer Dokumentation der erstellten Software). Dieser "learning by doing'"-Effekt kann nicht durch die vorhergehende Vertiefungsphase erreicht werden. Insbesondere hieraus ergibt sich die immer wieder vorgetragene Forderung einer Einarbeitungsphase für die Diplomarbeit.
4. Dauer der Diplomarbeit und der Regelstudienzeit

Es besteht Einhelligkeit, daß eine Verkürzung der gegenwärtigen tatsächlichen Studienzeiten im Diplom-Studiengang Mathematik im Interesse eines sorgfältigen Umgangs mit der Lebenszeit junger Menschen sinnvoll und wünschenswert ist und daß die mathematischen Fachbereiche daher Maßnahmen treffen sollten, um die tatsächliche Studiendauer zu reduzieren.

Unstrittig scheint dabei zu sein, daß das Grundstudium (bis zum Vordiplom) nicht mehr als 80 SWS umfassen und innerhalb der ersten vier Semester absolviert werden sollte, die Vordiplomprüfung bis zum Beginn des fünften Semesters abgeschlossen sein sollte, das Hauptstudium etwa 80 SWS umfassen sollte, wobei etwa 20 SWS auf das Nebenfach entfallen und für Wahlpflichtveranstaltungen ein angemessener Anteil des Stundenvolumens vorzusehen ist; das Studium also insgesamt etwa 160 SWS umfassen soll, die Stoffvermittlung für die Prüfungsfächer Reine Mathematik, Angewandte Mathematik und Nebenfach insgesamt in acht Semestern erfolgen sollte.

(Für Details sei auf das Dokument 101/1995 der HRK verwiesen.)

Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß bereits dieser Teil des Studiums einen hohen Grad an Studierfähigkeit und Studiendisziplin voraussetzt, daß hierbei davon ausgegangen wird, daß die Studierenden in allen Lehrveranstaltungen unmittelbar erfolgreich sind (und nicht einzelne Veranstaltungen bei anderen Dozenten wiederholen müssen), und daß die wirtschaftlichen Verhältnisse der Studierenden so gut sind, daß diese sich (auch in der vorlesungsfreien Zeit) uneingeschränkt auf ihr Studium konzentrieren können.
Es ist klar, daß bei diesem Studienverlauf innerhalb der ersten acht Semester noch keine Einarbeitung in das engere Gebiet der Diplomarbeit erfolgt ist. Gezielte Vorbereitungen für die mündlichen Prüfungen können ebenfalls erst im Anschluß an das achte Semester erfolgen.

Für die Diplomarbeit (sowie die vier mündlichen Prüfungen) sollte ein Zeitraum von zwei Semestern vorgesehen werden, wobei das erste Semester als Einarbeitungsphase für die Diplomarbeit sowie zum Vorbereiten und Ablegen der drei o. g. Prüfungen, das zweite Semester der Anfertigung der Diplomarbeit sowie zum Vorbereiten und Ablegen der Schwerpunktprüfung dient.

Um die Rolle der Diplomarbeit zu beschreiben, kann die geschichtliche Entwicklung der Mathematik nicht unberücksichtigt bleiben. Einmal bewiesene mathematische Ergebnisse stehen von ihrer Entdeckung an immer zur Verfügung, sie können nicht wieder falsch werden. Trotzdem können sie durch die Entwicklung verändert werden: Mathematische Ergebnisse sind Folgerungen aus Voraussetzungen. Es sind die folgernden Argumente, die richtig bleiben, die Voraussetzungen dagegen können sich für spätere Anwendungen als zu einschneidend erweisen. Dann müssen neue Argumente gefunden werden, die mit schwächeren Voraussetzungen, mit subtileren Begriffen auskommen. Darüber hinaus erfordern neue Fragestellungen oft den Umgang mit völlig neuartigen, zunächst auch für Mathematiker unanschaulichen Begriffen, die übrigens im Laufe der Geschichte immer abstrakter geworden sind. Immer jedoch bauen die Argumente zu neuen mathematischen Ergebnissen auf älteren Argumenten und Resultaten auf, die zum Teil seit Archimedes, Newton, Gauss oder Hilbert nicht mehr geändert werden mußten, weil die Mathematiker stets ihre Voraussetzungen möglichst schwach gewählt haben, so daß oft auch viel später gefundene, subtilere Begriffe die Voraussetzungen von genialen, älteren Argumenten erfüllen. Da mathematischer Fortschritt sich in der geschilderten Weise immer als begrifflicher Fortschritt manifestiert, und niemals als technisch-apparative oder lexikonartige Wissenszunahme, nimmt die Mathematik hierdurch eine Sonderstellung unter den Naturwissenschaften ein. Neue mathematische Ergebnisse werden daher nie so publiziert, daß die Argumente vollständig genug wären, um sie ohne die Lektüre weiterer, langer Artikel nachvollziehen zu können. Das macht die mathematische Literatur für Studenten sehr schwer verständlich. Deshalb sind nur besonders ausgewählte Texte als Vorlagen für Seminarvorträge geeignet, also in der Studienphase nach dem Vordiplom als Trainingsmaterial verwendbar. Ohne jeden Zweifel muß ein Mathematiker aber so weit ausgebildet werden, daß er sich zutraut, aus der vorhandenen Literatur die für ihn relevanten Antworten herauszusuchen. Dazu muß dies einmal durchexerziert werden. Die meisten Diplomarbeiten können so beschrieben werden: eine interessante, aber zunächst für den Studenten undurchdringliche Arbeit aus der Literatur soll an die Vorkenntnisse des Studenten angebunden werden; dann sollen die neuen Inhalte des Artikels erarbeitet werden, was eben die Auffindung der ausgelassenen Argumente erfordert; ein guter oder sehr guter Student soll sich dann auch an den naheliegenden Weiterungen der Arbeit versuchen. Einen Erfolg dieses erprobten Ausbildungskonzepts sehen wir schon in den mündlichen Diplomprüfungen: Die meisten Studenten können ihre Kenntnisse mit gutem Überblick darlegen, sie sind weit souveräner, als wir das bei den Seminarvorträgen erleben. Von einem Diplommathematiker wird erwartet, daß er seine Fähigkeiten auch in Situationen erläutern und einsetzen kann, die er in seiner Ausbildung nicht kennenlernen konnte. Daher sind die oben geschilderten Fähigkeiten, die während der Diplomarbeit herangebildet werden sollen, von nicht zu ersetzender Bedeutung für seine Berufschancen. Diese Fähigkeiten können nicht in 6-monatigen Diplomarbeiten herangebildet werden, die ja nur noch druckreif ausgearbeitete Seminarvorträge sein würden.

Hieraus resultiert der Vorschlag einer Bearbeitungszeit für die Diplomarbeit (sowie das Ablegen der mündlichen Prüfungen) von einem Jahr, die in eine Einarbeitungszeit von 6 Monaten (Vorbereitungsphase) und eine Bearbeitungsphase von 6 Monaten aufgeteilt werden soll, wobei der Eintritt in die Vorbereitungsphase (i. d. R. mit dem 9. Semester) förmlich festzustellen ist. Insgesamt führt dieser Vorschlag auf eine Regelstudienzeit von 10 Semestern.

5. Konsequenzen eines "Kurzdiploms"


Das Mathematik-Diplom ist bisher ein vollwertiger, berufsqualifizierender Abschluß des Diplomstudiengangs Mathematik mit einem klaren, von der breiten Palette der Arbeitgeber von Diplom-Mathematikern akzeptierten Qualifikationsniveau (deutlich höher als bei Mathematisch-Technischen Assistenten, deutlich niedriger als bei Mathematikern mit Promotion). Bei einer Abwertung dieses Diploms zu einem "Kurzdiplom" ohne eine gewichtige Diplomarbeit würde die Akzeptanz durch die Firmen schon in wenigen Jahren gefährdet sein; dies würde zu einem Ersatz des Diploms durch die Promotion führen -- und somit zu einer erheblichen Verlängerung der Studienzeiten bis zum real berufsqualifizierenden Abschluß.

Um einerseits die Wertigkeit des Mathematik-Diploms zu erhalten und um andererseits überhöhten Studienzeiten entgegenzuwirken, muß den Studierenden im Diplomstudiengang Mathematik eine Regelstudienzeit von 10 Semestern und eine (in eine 6-monatige Vorbereitungsphase und eine 6-monatige Bearbeitungszeit aufgeteilte) 12-monatige Bearbeitungsdauer für die Diplomarbeit eingeräumt werden.

Für detaillierte Hinweise zu Studienverlauf und Prüfungsorganisation im Diplomstudiengang Mathematik sei auf die Empfehlungen der HRK-Fachkommission Mathematik vom 26.10.1994 (HRK-Drucksache Nr. 1200/94) verwiesen.

Autoren

Prof. Dr. Dirk Ferus, Fachbereich Mathematik der TU Berlin,
Straße des 17. Juni 136; 10623 Berlin

Prof. Dr. Hermann Karcher, Mathematisches Institut der Universität Bonn,
Beringstraße 1; 53115 Bonn

Prof. Dr. Norbert Schmitz, Institut für Mathematische Statistik der Universität
Münster, Einsteinstraße 62; 48149 Münster

Erklärung zur Entschließung der HRK

die Studienstrukturreform in Mathematik betreffend (Dokumente zur Hochschulreform 101/1995)

Wir protestieren gegen die Leichtfertigkeit, mit der ein Gremium wie die HRK die Bedenken ihrer Fachleute ignoriert und - gegen die entschiedenen Proteste ihrer eigenen Fachkommission - einen in entscheidenden Punkten verkürzten Text als die von diesen Fachleuten erarbeitete Empfehlung herausgibt.

Wir, die Unterzeichnenden, sind darin einig, daß die Diplomarbeit in Mathematik nicht nur eine Prüfungsleistung ist, sondern ebenso ein unverzichtbarer Ausbildungsbestandteil. Die dabei angestrebte Qualifizierung können wir mit sechsmonatigen Diplomarbeiten ohne Einarbeitungsphase und in einer Regelstudienzeit von neun Semestern nicht erreichen. Eine solche mit Fächervergleich begründete Verkürzung hätte langfristig viel negativere Folgen für die Berufsaussichten unserer Absolventen, als die Nichtfachleute sich das heute vorstellen können. Wir warnen eindringlich.

Aachen:
Bemelmanns, Dahmen, Enß, Engels, Esser, Görlich, Grädel, Hermann, Jank, Jarausch, Jongen, Krafft, Krieg, Mathar, Nessel, Oberschelp, Pahlings, Plesken, Rauhut, Reinermann, Rohde, Rückmann, Schmincke, Schoenwalder, Walter

Augsburg:
Eschenburg, Heintze

Bayreuth:
Baptist, Kerber, Krämer, Laue, Lempio, Leugering, W. Müller, Peternell, Schittkowski, M. Schneider, Schreyer, Simader, Wiegner

Berlin FU:
Aigner, Begehr, Behrends, Deylitz, Fiedler, Gorenflo, Guthschmidt, Koppelberg, Kurotschka, Lenz, Scheerer, Schmersau, Schulz, Vogt, Werner

Berlin HU:
Bank, Baum, Brüning, Bunke, Friedrich, Gröger, Holzapfel, Kirchberg, Kramer, Küchler, Kummer, Kurke, Leiterer, März, Naumann, Roczen, Römisch, Schulz, Zink

Berlin TU:
Becker, Bobenko, Breger, Deuschel, Ferus, Förster, Frank, Gärtner, Grigorieff, Grötschel, Herz, Jeggle, Jung, Krüger, Kunisch, Kutzler, Latz, Möhring, Pohst, Pommerenke, Scheutzow, Schweizer, Seiler, Simon, Thiele, Wegner, Winkler, Wüst, Ziegler

Bielefeld:
Carstens, Deuber, Dress, Elsner, Fischer, Götze, Hansen, Helling, Herget, Mennicke, Pejas, Poguntke, Rehmann, Ringel

Bochum:
Abresch, Albeverio, Bartenwerfer, Böger, Böhme, Braess, Dette, Ehlich, Flenner, Gerritzen, Jost, Skirde, Spallek, Storch, Verfürth, Wassermann, Ye, Zieschang

Bonn:
H.W. Alt, Ballmann, Bödigheimer, Franke, Frehse, Hamenstaedt, Harder, Hildebrandt, Karcher, Koepke, Leis, Lieb, Luckhaus, Raab, Schäl, Scherer

Braunschweig:
Brass, Harborth, Hempel, Jaenicke, Janssen, Kemnitz, Kreiß, Löwen, Mathiak, K.P. Meyer, Schaßberger, Zimmermann

Chemnitz:
Beer, Böttcher, Eger, Happel, Heinrich, Hofmann, Jentsch, Junghanns, Lanckau, Lang, Luderer, Martini, Mehrmann, Meyer, Silbermann, Tröltzsch, vom Scheidt, Wanka

Clausthal:
Demuth, Hanschke, Hilgert, Klotz, Lucht, Pesch

Cottbus:
Bader, Küenle, Martin, Reemtsen

Darmstadt:
Alber, Bokowski, Bruhn, Burmeister, Eichenauer-Herrmann, Farwig, Hartmann, Heil, Herrmann, Hoschek, Keimel, Kindler, Kindler, Krabs, Laugwitz, Lehn, Mäurer, Meister, Nolte, Rentrop, Schellhaas, Spellucci, Steidel, Streicher, Stroppel, Törnig, Trebels, Trebels, v. Finckenstein, Wille

Dortmund:
Becker, Blum, Danzer, Erle, Hazod, Mayer, Menke, Müller, Reimer, Scharlau, Schneider, Schröder, Steinmetz, Thedy, Walter, Wegner, Zamfirescu

Dresden:
Bär, Brehm, Deschauer, Dietze, Franz, Geise, Griewank, Kleinmichel, Kühne, Lampe, Nollau, Picard, Reitmann, Rhodius, Riedrich, Sasvari, J.W. Schmidt, K.D. Schmidt, Scholz, Schwetlick, Terno, Timmermann, Varnhorn

Duisburg:
Arnold, Bauer, Eberhardt, Freiling, Jetter, Leppig, Mohn, Pittnauer, Rogge, Schreiber, Törner, Wefelscheid, Wiegmann

Düsseldorf:
Grunewald, Petry

Eichstätt:
Blatt, Cornea, Falk, Felix, Ressel, Rohlfs, Schwermer, Sommer

Erlangen:
Bauer, Gerstner, Kurzweil, Neeb

Essen:
Frey, Lempken, Michler, Rück, Tran

Frankfurt:
Behr, Borges, Führer, Güting, Kultze, Metzler, Reichert-Hahn, Sieveking, Wolfart

Freiburg:
*Fakultätsrat, Bangert, Dziuk, Ebbinghaus, Eberlein, Kegel, Kröner, Lerche, Rüschendorf, R. Schneider, Soergel

Gießen:
Baumann, Beutelspacher, Fenske, Filippi, Häusler, Metsch, Stute, Timmesfeld, Walther

Göttingen:
Burmann, Christian, Denker, Hering, Kellerhals, Krengel, Kress, Lube, Notbohm, Patterson, Schaback, tom Dieck, Waak, Werner

Greifswald:
Bandlow, Bär, Boseck, Breier, Czichowski, Eichhorn, Feiste, Haase, Hemmerling, Mangel, Schlosser, W. Schmidt, Schimming, Schreiber, Voelkel, Wisliceny

Hagen:
Beekmann, Boos, Börger, Duma, Große-Erdmann, Kamps, Linden, Petersson, Pumplün, Veselic

Halle:
Stroth

Hamburg:
Andreae, Bandelt, Behnen, Berndt, Bredendiek, Daduna, Feldmann, Günther, Hofmann, Hübner, Krämer, Kremer, Mülich, Neuhaus, Pfeifer, Riemenschneider, Samage, Scheurle, Schuster, Seier, Slodowy

Hannover:
Ebeling, Hotje, Hulek, Kopfermann, Mader, Mielke, Mühlbach

Heidelberg:
Bock, Böge, Brandis, Cuntz, Dold, End, Freitag, Gloede, Jäger, Janko, Klingmann, Krieger, Loinert, Mammen, Matzat, D.W. Müller, Mürrmann, Puppe, Rannacher, Reinelt, Roquette, Rost, Tomi, Waldenfels, Wingberg

Ilmenau:
Abeßer, Babovsky, Harant, Hexel, Hoffmann, John, Liebscher, Marx, Nehse, Neundorf, Steigenberger, Stiebitz, Vogel, Vogt, Walther

Jena:
Alt, Althöfer, Engelbert, Freudenberg, Glaeske, Hermann, Hertel, Külshammer, Löbus, Manthey, Mecke, Nagel, Neumann, Runst, Zähle, Zimmermann

Kaiserslautern:
Becker, Brakhage, Franke, Greuel, Hamacher, Lüneburg, Neunzert, Pfister, Prätzel-Wolters, Radbruch, Schock, Schweigert, Trautmann, v. Weizsäcker

Karlsruhe:
Adams, Alefeld, Aumann, Bürger, Fieger, Henze, Herrlich, Heuser, Hinderer, Kuhn, Kulisch, Martensen, Niethammer, Plum, Rehm, C.-G. Schmidt, G. Schneider, M. Schneider, v. Renteln, Weil

Kiel:
Ahrens, Bender, Betten, Blessenohl, Gaschütz, Götzky, Günzler, Hähl, Irle, Johnsen, Knüppel, König, Kosmol, Laue, D. Müller, Rösler, R. Schmidt, Stellmacher, v. Grudzinski, Wenzel, H. Wolff, Wrobel

Köln:
Armbrust, Berndt, Bundschuh, Diener, Henke, Herrmann, Jannsen, Kawohl, Küpper, Landers, Lange, Milbrodt, Pfanzagl, Reckziegel, Thorbergsson,

Konstanz:
Barthel, Baur, Bohl, Hoffmann, Prestel, Puppe, Racke, Stoß , Strassen, Watzlawek

Leipzig:
Beyer, Fritzsche, Günther, Miersemann, Rademacher, Schumann, Zeidler

Magdeburg:
Girlich, Juhnke, G. Schulz, Werner

Mainz:
Kreck

Mannheim:
Binz, Böcherer, Butzmann, Nürnberger, Oettli, Pink, Potthoff

Marburg:
Böhmer, Dressler, Gromes, Gumm, Hesse, Knöller, Körle, Loogen, Mammitzsch, Portenier, Sommer, Steinebach

München TU:
Bulirsch, Buchner, Giering, Hartl, Karzel, Koch, Königsberger, Kroll, Sörensen

München U:
Batt, Buchholz, Donder, Eberhardt, Fritsch, Gänßler, Hämmerlin, Hauger, Kalf, Kellerer, Kraus, Pareigis, Pfister, Prieß, Pruscha, Rein, Richert, Sachs, Schäfer, Schlüchtermann, H.J. Schneider, Schottenloher, Schuster, Schwichtenberg, Steinlein, Wienholtz, Wolffhardt, Zimmermann, Zöschinger

Münster:
Alsmeyer, Bengel, Bosch, Clausing, Cryer, Diller, Elstrodt, Hamm, Hinrichs, Ischebeck, Kersten, Lang, Langmann, Lorenz, Maltese, Maurer, Meyer, Möller, Natterer, Peters, Plachky, Pohlers, Scharlau, Ullrich

Oldenburg:
Floret, Langenbruch, Leißner, Quebbemann, Schmieder, Späth, Vetter

Osnabrück:
Reiffen

Paderborn:
Bierstedt, Epkenhans, Kaniuth, Lenzing, Lusky, Unger

Potsdam:
Baumgärtel, Denecke, Junek, Läuter, Nagel

Regensburg:
Bröcker, Hackenbroch, Jänich, Knebusch, Kunz, Mennicken, Neukirch, Warlimont

Rostock:
K. Engel, W. Engel, Frischmuth, Hamann, Krüppel, Labahn, Liese, G. Mayer, Pazderski, Poppe, Richter, Stolle, Strecker, Takac, Wildenhain

Saarbrücken:
Albrecht, Berger, Brosamler, Decker, Fuchs, Gekeler, Grüter, Louis, G. Schmidt, Schulze-Pillot, Schupp, Wittstock, Zimmer

Siegen:
Betke, Delvos, Hirzebruch, Koschorke, Reiß, Reinhardt, Schempp, Wills

Stuttgart:
Blind, Degen, Dipper, Hesse, Kirchgässner, Kühnel, Tietz, Werner

Trier:
P. Dierolf, S. Dierolf, Gritzmann, Horst, Luh, Luschgy, Ries, Roters, Sachs, Sendler, Sonnemann, Thoai, Tiatschke

Tübingen:
Hadeler, Hering, Heyer, Huisken, Kaul, Kaup, Knapp, Loose, Lubich, Nagel, Räbiger, Salzmann, Scheja, Schlotterbeck, P. Schmid, Voit, Yserentant

Ulm:
Balser, Gessner, Hellwig, Jensen, Körner, Lütkebohmert, Pittelkow, Rieder, Runckel, F. Schulz, Schweiggert, Seydel, Stadtmüller, Wolff

Wuppertal:
Bongartz, Buhl, Frommer, Höhle, Knapp, Ossa, Reeken, Schlosser-Haupt, Vogt