Gemeinsame Stellungnahme der Fachverbände 1 DMV / GDM / MNU zu den Ergebnissen der internationalen Mathematikstudie TIMSS-3 - Wieder schlechte Noten für den Mathematikunterricht in Deutschland - Anlaß und Chance für einen Aufbruch

KMK-Anhörung TIMMS am 26./27.6.1997

Am 24. Februar 1998 wurden in den USA die Ergebnisse für den dritten Teil der internationalen Leistungsstests TIMSS (Third International Mathematics and Science Study), kurz als TIMSS-3 bezeichnet, veröffentlicht. TIMSS-3 mißt u.a. die mathematischen Leistungen in den Abschlußjahrgängen 12 und 13 der Sekundarstufe II. In diesen Tagen hat die deutsche Auswertergruppe um Prof. Dr. Baumert am MPI in Berlin eine detaillierte Einordnung der bundesdeutschen Zahlen erarbeitet, zumal die vorliegenden Ergebnisse der internationalen Studie aufgrund der sehr heterogenen Testpopulation einer sorgfältigen Interpretation bedürfen. Doch wie immer man die zu vergleichenden Teilpopulationen ansetzen mag: Erneut haben die Schülerinnen und Schüler aus Deutschland nur mäßig abgeschnitten. Insgesamt bestätigt sich damit das wenig schmeichelhafte Bild von defizitären Mathematikleistungen der Schüler und Schülerinnen in den Klassenstufen 7 und 8 (TIMSS-2) jetzt auch für die Abschlußjahrgänge in der Sekundarstufe II. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, daß die vor einem Jahr beklagten Defizite der unteren Jahrgängen im Laufe der Schulzeit kompensiert werden. So belegt Deutschland im Bereich Mathematics Literacy (Mathematische Grundbildung) im internationalen Vergleich nur einen Mittelfeldplatz, bei Advanced Mathematics (voruniversitäre Mathematik ) gehören wir zur unteren Gruppe. Auch wenn die TIMSS-Untersuchung sicher nur einen Ausschnitt des gesamten Mathematik-Curriculums überprüft, so sind die Ergebnisse doch schon so alarmierend, daß die Chance zu einer grundlegenden Akzentänderung in der schulischen Mathematikausbildung ergriffen werden muß. Die Benennung möglicher Gründe für das schlechte Abschneiden zeigt zugleich die Richtung der Neuakzentuierung an.

Einige der Gründe liegen sicher, wie wir in unserer Erklärung zu TIMSS-2 im Februar 1997 hervorgehoben haben, außerhalb der Mathematik in der verbesserungsbedürftigen gesamtgesellschaftlichen Sicht von Schule und Erziehung, in einer nicht genügenden Wertschätzung von Bildung. Zum einen ist die Anstrengungsbereitschaft nicht sehr ausgeprägt, zum anderen ist der Stellenwert, den man der mathematischen Ausbildung zuerkennt, zu gering. Die daraus erwachsenden Defizite kurzschlüssig der Lehrerschaft anzulasten, hieße, die alltäglichen Probleme in den Schulen zu verkennen. Im Gegenteil, Lehrerinnen und Lehrer, die innovativ sein wollen, benötigen die uneingeschränkte, wertschätzende Aufmerksamkeit der Gesellschaft und auch der Schulbehörden. Hier sehen wir nachhaltigen Handlungsbedarf.

Für das auch in den Abschlußjahrgängen wieder so unbefriedigende Abschneiden der Schüler in Deutschland kommen zusätzlich zu den von uns schon zu TIMSS-2 genannten möglichen Ursachen weitere, sekundarstufen-II-spezifische hinzu: Die zu oft fehlende Verbindlichkeit, zumindest ausreichende Kenntnisse in Mathematik zu erwerben, zusammen mit den weitgehend fehlenden Prüfungsrelevanz bewirken nach unseren Erfahrungen einen nicht unwesentlichen Teil der Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft vieler Jugendlicher im Fach Mathematik.

Bei einer Interpretation der TIMSS-3-Ergebnisse muß die oft verfestigte Struktur von inhaltlich streng getrennten Semesterkursen - Analysis, Lineare Algebra / Analytische Geometrie, Stochastik - im Mathematikunterricht der Sekundarstufen II neu bedacht werden. Eine zu häufig nur additive Aneinanderreihung der Inhalte leistet einem Schubladendenken in der Mathematik Vorschub. Auf diese Weise werden die zu Sicherheit im mathematischen Umgang notwendigen Wiederholungs- Vertiefungs- und Vernetzungseffekte beim Schüler nicht gefördert, wobei zusätzlich der Stoff aus der gymnasialen Klasse 13 auch kaum vom TIMSS erfaßt wird. Daher ist in den Abschlußjahrgängen 12 und 13 auch kein signifikanter Qualitätszuwachs zu ermessen.

Will man eine wirksame und breite Grundbildung in der gymnasialen Mathematik erreichen, so stellt sich ganz dringlich die Frage nach angemessenen Konzeptionen für die Grundkurse in der Mathematik. Diese Problematik bleibt bestehen, solange Grundkurse im wesentlichen als 'ausgedünnte' Leistungskurse aufgefaßt werden. Natürlich stellt die Entwicklung grundkursspezifischer Curricula und Organisationsformen in unserem föderalen Bildungssystem mit den wechselseitigen Prüfungsanerkennungen ein Problem dar; dieses muß aber im Interesse eines effizienten Grundkursunterrichts gelöst werden.

Auch die Bezugswissenschaft Mathematik selbst hat sich seit der Reform des Mathematikunterrichts in den 60er Jahren wesentlich verändert. Es hat den Anschein, daß entsprechende Veränderungen im Grundverständnis und in den Weltbildern von Mathematik noch nicht überall den Unterricht erreicht haben. Beispielswiese werden Computerwerkzeuge in der Forschung als integrale Bestandteile verstanden und genutzt. Entsprechende Auswirkungen auf das Curriculum der Schulen, der Fachhochschulen und sogar der Anfängervorlesungen in Hochschulen sind im alltäglichen Lehrbetrieb eher die Ausnahme. Die Mathematik erscheint dem Lernenden daher noch allzu oft als tradierte monolithische, unveränderliche Theorie. Den überfälligen Sichtwechseln muß sicher einerseits die Lehrerausbildung Rechnung tragen, andererseits muß den z.T. vor mehreren Jahrzehnten ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern Gelegenheit gegeben werden, neue Kompetenzen zu entwickeln.

In mathematikspezifischer Hinsicht fühlen wir uns in unseren seinerzeitigen Einschätzungen bestätigt. Es wird im Mathematikunterricht bei uns in Deutschland generell zu viel Wert gelegt auf das routinemäßige, manchmal gar schematische Lösen innermathematischer Standardaufgaben; viele Stoffe werden nur kurzzeitig für die nächste Klassenarbeit gelernt und danach rasch wieder vergessen. Zu kurz kommen insbesondere das selbstständige, aktive Problemlösen, das inhaltliche, nichtstandardisierte Argumentieren, das Herstellen von Verbindungen mathematischer Begriffe mit Situationen aus Alltag und Umwelt sowie ein wiederholendes und vertiefendes Wiederaufgreifen weiter zurückliegender Stoffe und deren Vernetzung. Mathematische Grundausbildung muß mehr vermitteln als Fertigkeiten, die gegebenenfalls automatisiert werden können. Die Kraft des mathematischen Denkens liegt in der Fähigkeit zur Begriffs- und Modellbildung und zur Entwicklung leistungsfähiger Verfahren und Algorithmen zur konkreten Problemlösung; dafür muß Verständnis und auch Begeisterung geweckt werden.

Das alles bedingt eine Veränderung der Leistungsanforderungen an unsere Schülerinnen und Schüler auch in der Sekundarstufe II, in allgemein- und in berufsbildenden Schulen. Unser Mathematikunterricht muß sich verändern, Innovationen sind nötig! Mathematik ist existentieller Bestandteil unserer Kultur. Mathematik ist u.a. auch die Sprache, in der Wissen ausgedrückt wird, bevor es durch Computersoftware benutzt werden kann; deshalb ist z.B. die Beherrschung der Übersetzung zwischen Alltagswissen und präziser mathematischer Darstellung eine Schlüsselqualifikation, die unsere Jugendlichen weit besser beherrschen müssen, als sie es in den Tests gezeigt haben. Wirtschaft und Gesellschaft brauchen auf allen Stufen unseres Bildungswesens Absolventen, die im Kernfach Mathematik vielseitig ausgebildet sind. Darüber hinaus bleiben im Schulunterricht erworbene mathematische Basisqualifikationen unabdingbare Voraussetzungen für eine erfolgreiche Studierfähigkeit. Nicht nur die naturwissenschaftlichen und ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen sind hierauf angewiesen, sondern auch zahlreiche andere Studienrichtungen und Berufsfelder.

Erneut bieten wir, die unterzeichnenden Verbände, den Verantwortlichen in Politik und Bildungsverwaltung unsere vielfältige Forschungs- und Sachkompetenz an, um die Implementierung und Realisierung neuer, zeitgemäßer und erfolgversprechender Konzepte voranzutreiben. Dabei erachten wir es als wesentlich, daß die Lehrerausbildung in Mathematik verbessert und die Lehrerfortbildung konsequent reaktiviert und ausgebaut wird. Es muß wieder eine Aufbruchstimmung und Fortbildungskultur entstehen, wie sie während der Modernisierung des Mathematikunterrichts vor fast 30 Jahren schon einmal anzutreffen war. Eine solche Kultur kann aber auf Dauer nur bestehen, wenn in den Schulen selbst die kooperative Verantwortung für den Mathematikunterricht innerhalb der Fachkonferenzen gestärkt wird, wenn kooperatives Lernen auch für Lehrer ermöglicht wird. Entsprechende Ansätze bedürfen der Unterstützung durch die Schulbehörden.

Über die derzeit im BLK-Modellversuchsprogramm angelaufenen Maßnahmen für die Sekundarstufe I hinaus sehen wir für die Sekundarstufe II gezielten Forschungs- und Entwicklungsbedarf, den wir bereit sind mitzutragen. Wir sehen allerdings eine aufkommende Gefahr darin, daß Aktivitäten auf der politischen Ebene vorrangig dazu führen, den Mathematikunterricht auf TIMSS-ähnliche Prüfungen hin zu orientieren. Bereitzustellende Ressourcen müssen mit hoher Priorität zur Verbesserung des Unterrichts führen. Alle Bemühungen um die Erfassung von Schülerleistungen haben letztlich dem Zweck zu dienen, die Qualität und Effektivität des Unterrichts zu steigern.

Insgesamt muß auch in Deutschland das Fach Mathematik den international üblichen und unstrittigen Grad an Wertschätzung und Verbindlichkeit zurückerhalten, es muß wesentlicher Teil einer kulturellen Alphabetisierung sein. Eine erhöhte Bedeutungszuweisung wird auch die Leistungs- und Anstregungsbereitschaft aller Beteiligten positiv beeinflussen.

G. Törner, W. Blum, J.Wulftange

Duisburg, Kassel, Hannover, 21. Mai 1998

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Für die Deutsche Mathematiker-Vereinigung (DMV):
Prof. Dr. Günter Törner, FB 11 Mathematik, Gerhard-Mercator-Universität Duisburg, 47048 Duisburg, Tel. 0203 379 2667 / 2668; Fax 0203 379 3139; Email: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Für die Gesellschaft für Didaktik der Mathematik (GDM):
Prof. Dr. Werner Blum, FB 17 Mathematik / Informatik, Universität Kassel, 34109 Kassel, Tel. 0561 804 4623 / 4620; Fax 0561 804 4445; Email: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Für den Deutschen Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts (MNU):
StD Jürgen Wulftange, Lessingstr. 11, 30457 Hannover, Tel. 0511 46 12 16; Email: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!