Der Kodex des Archimedes
Das berühmteste Palimpsest der Welt wird entschlüsselt
Reviel Netz, William Noel
C.H. Beck, 2007, 303 Seiten, 19,90 €
ISBN: 3-406-56336-8
Am 29. Oktober 1998 wurde bei dem bekannten Auktionshaus Christie's in New York ein mittelalterliches Gebetsbuch für 2,2 Millionen Dollar versteigert. Dass es sich dabei nicht um irgendein altes Buch handelte, wurde bereits dadurch klar, dass die Versteigerung als unabhängige Mini-Auktion zwischen der Vormittags- und der Nachmittagssitzung der eigentlichen Versteigerung stattfand, bei welcher immerhin so bedeutende Werke, wie ein signiertes Exemplar der Doktorarbeit Marie Curies, eine Erstausgabe von Darwins Über die Entstehung der Arten oder auch eine Erstausgabe von James Clerk Maxwells Abhandlung über die Elektrizität angeboten wurden.
Bei besagtem Gebetsbuch handelte es sich um ein Palimpsest, welches unter den Gebetstexten Abhandlungen des großen antiken Gelehrten und Mathematikers Archimedes enthielt. Es handelt sich dabei, neben der bekannten Abhandlung Über schwimmende Körper, auch um die einzigen vorhandenen Versionen von Teilen der Methodenlehre und des Stomachions. Wie sich später noch herausstellen sollte, befinden sich auch Texte von Hyperides und Teile des bedeutendsten, als verschollen geglaubten, Aristoteles-Kommentar von Alexander von Aphrodisias in dem Palimpsest.
Es muss an dieser Stelle dazu gesagt werden, dass das Palimpsest nicht vollkommen unbekannt war, sondern bereits im Jahr 1906 von dem berühmten Gelehrten Ludwig Heiberg in Konstantinopel untersucht worden war. Hierbei handelt es sich jedoch ausschließlich um Texte, welche Archimedes zuzuschreiben sind, da Heiberg die anderen Texte nicht zuordnen konnte. Erst danach, im Zuge zweier Weltkriege, verschwand das Palimpsest in privaten Händen und wurde im Laufe der Zeit von den Wissenschaftlern bereits als unwiderbringlich verloren eingeschätzt. Da jedoch Heiberg in den Jahren 1910 - 1915 eine Ausgabe der Werke des Archimedes veröffentlichte, in welche er seine Kenntnisse des Palimpsests einfließen ließ, war nicht wirklich zu erwarten, dass nach dem Wiederauftauchen auch neue, bisher unbekannte Texte, zutage gefördert werden könnten.
Auf den ersten Blick erschwerend kam hinzu, dass das Palimpsest auch dieses Mal von einer Privatperson ersteigert wurde, was häufig dazu führt, dass Dokumente in irgendwelchen Privatsammlungen verschwinden, wie es knapp einhundert Jahre zuvor bereits passiert war. In diesem Fall trat glücklicherweise das genaue Gegenteil ein. Der neue Besitzer, der seinen Namen bewusst im Dunkeln lässt, stellte nicht nur das Palimpsest selbst der Forschung zur Verfügung, er finanzierte auch das gesamte Unternehmen und wendete dafür bis zum heutigen Tag einen Betrag auf, welcher dem Kaufpreis wohl in nichts nachsteht.
Durch diese Großzügigkeit kam es schließlich dazu, dass William Noel, Handschriftenkurator des Walters Art Museum in Baltimore, mit der Aufgabe betraut wurde, ein Expertenteam zusammenzustellen, mit welchem dem Palimpsest die letzten Geheimnisse entrissen werden sollten. Dafür benötigte er neben absoluten Experten der Behandlung und Konservierung alter Bücher und für antike Wissenschaften auch solche Experten der Daten- und Informationstechnologie, die mit Hilfe neuester bildgebender Verfahren die nicht lesbaren Texte, die zum Teil nicht nur abgekratzt und neu mit Gebetstexten überschrieben, sondern zusätzlich auch auf manchen Seiten mit religiösen Bildern übermalt waren, wieder lesbar machen sollten. Dabei wurden nicht nur aktuellste Erkenntnisse angewendet, sondern es wurden auch völlig neue Verfahren entwickelt.
Das Buch schildert diesen Prozess, welcher neben sensationellen Funden auch etliche Rückschläge und Frustrationen beinhaltete. Es erklärt, welche Probleme bei der Bearbeitung auftraten und zeigt, mit welcher Hingabe und welchem Einsatz die Beteiligten, die an dem Projekt arbeiteten, jeweils versuchten diese Probleme zu lösen und wie sie schließlich mit phantastischen Ergebnissen belohnt wurden. Parallel dazu führt Reviel Netz, Professor für antike Wissenschaft an der Stanford University und anerkannter Archimedes-Experte, die Leser in das Leben und das Werk von Archimedes ein und erklärt, warum die zum Teil tatsächlich vollkommen neuen Informationen, die zutage gefördert werden konnten, wissenschaftlich von enormer Bedeutung sind. Dabei handelt es sich vornehmlich um die Tatsache, dass Archimedes bereits mit dem aktual Unendlichen gearbeitet hat, was den antiken griechischen Mathematikern bisher abgesprochen wurde, sowie um die Tatsache, dass Archimedes bereits kombinatorische Berechnungen getätigt haben muss. Die Kombinatorik ist ein Zweig der Mathematik, dessen Entstehung bisher ins 16. oder 17. Jahrhundert datiert wurde, als berühmte Gelehrte wie Blaise Pascal diese Methoden für ihre Überlegungen zur Begründung der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie verwendet haben.
Es handelt sich also wirklich um bedeutende neue Informationen für die Geschichte der Mathematik. Trotz allem bleibt ein gewisses Unverständnis für die Tatsache, dass ein wirklich faszinierendes Buch durch ein viel zu reißerisches Äußeres und der Ankündigung, es würde unser wissenschaftliches Weltbild revolutionieren, ein wenig den Eindruck der Seriosität verliert. Entscheidet man sich trotzdem zum Kauf, so wird man jedoch mit der spannend erzählten Schilderung eines faszinierenden Projekts belohnt, zu welchem es auch eine sehr gelungene und informationsreiche, jedoch nur auf englisch vorliegende, Website www.archimedespalimpsest.org gibt.
(Rezension: Jörg Beyer)