Konrad Zuse und die Schweiz – Wer hat den Computer erfunden?
Herbert Bruderer
Oldenbourg Wissenschaftsverlag (21. März 2012), 39,80 €
ISBN-10: 3486713663
ISBN-13: 978-3486713664
An welchem deutschen Erfinder des letzten Jahrhunderts entzündet sich die Phantasie derart, dass 2012 Aquarelle von ihm neben dem Konstruktionsmodell seines ersten Rechners Z1 und einem Exemplar seiner Z11 auf der dOCUMENTA(13) präsentiert werden, über dessen Leistungen 2009 und 2010 so unterschiedliche Bücher erschienen wie Die Frau, für die ich den Computer erfand und Wer hat den Computer erfunden? (Untertitel)? In Konrad Zuse und die Schweiz (Haupttitel) beschreibt der Züricher Informatiker Herbert Bruderer faktenreich ein Kapitel aus dem Leben von Konrad Zuse (1910 – 1995). Das Inhaltverzeichnis des Buches stellt der Verlag hier zur Verfügung.
Zuse hatte während des zweiten Weltkriegs seinen vierten elektromechanischen Rechner, die Z4, gebaut. Auf seiner abenteuerlichen Flucht aus Berlin führte er noch Ende März 1945 die Z4 in Göttingen bei der damaligen Aerodynamischen Versuchsanstalt vor, um sie kurz danach im Allgäu in einem Mehllager zu verstecken. Im September 1949 unterzeichneten Zuse und Eduard Stiefel, der Leiter des Instituts für angewandte Mathematik der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, den Mietvertrag, so dass die Z4 von 1950 bis 1955 dann in Zürich zur Verfügung stand. 1950 war die ETH die einzige Universität auf dem europäischen Festland mit einem betriebsfähigen Computer (S. XI). Auf den ersten 27 Seiten des Buches und dem vierseitigen Vorwort wird über diese Zeit detailliert berichtet.
Um einen Einblick in das damalige Geschehen zu bekommen hier zuerst ein Zitat von Seite 77: Computer waren im angelsächsischen Sprachgebrauch ursprünglich Menschen, die Berechnungen ausführten. Computer waren meist Frauen. In der Regel ging es dabei um zeitraubende und eintönige Aufträge (Routinearbeiten), die Rechnerinnen und Rechner in Rechensälen mit (mechanischen) Tischrechenmaschinen erledigten. Und auf Seite 6: Der ETH stand [mit der Z4…] eine erhebliche Rechenleistung zur Verfügung. Sie entsprach einem damaligen Rechenbüro mit etwa 40 mit mechanischen Rechenmaschinen ausgestatteten Personen. Dabei brauchte die Z4 z.B. etwa fünf Minuten zur Multiplikation zweier 4 ´ 4 Matrizen (S. 15). Und das bei in einem Rechenwerk mit 2200 Telefonrelais (S. 12). Die Schilderungen mit vielen Einzelheiten der damaligen Vorgänge ergänzt Bruderer mit einem Zeitzeugenbericht von Urs Hochstrasser über Erlebnisse mit der Z4.
Es folgen sehr informationsreiche Tabellen zur Z4 mit dem Personalverzeichnis des Instituts für Angewandte Mathematik der ETH Zürich 1948 – 1964, eine sechsseitige Liste der mit der Z4 ausgeführten Aufträge nebst drei Seiten mit der Beschreibung der getätigten mathematischen Untersuchungen.
Diese aufschlussreichen Unterlagen zeigen u.a., was heute unter dem Begriff dual use diskutiert wird: Zu den ersten Aufträgen gehörten Berechnung der Spannungen in einer Talsperre und Berechnungen zum Raketenflug. In der Liste zu mathematischen Untersuchungen sind auch jeweils aus den Projekten entstandene Veröffentlichungen zitiert. Das ist ein Fundus von Themen, die jeden Numeriker auch heute noch interessieren sollten.
Das folgende Kapitel Die Maschinen von Charles Babbage, Alan Turing und John von Neumann unterscheidet sich – da mehr theoriebezogen – auch stilistisch von den ersten, während Kapitel 6 Wer hat den Computer erfunden? trotz einer siebenseitigen Liste Weitere betriebsbereite Röhrenrechner (Gesamtliste) doch die schon im Untertitel des Buches – wohl aus verkaufspsychologischen Gründen – gestellte Frage nicht eindeutig beantworten kann; trivialerweise: denn DEN Computer gab es nicht! Ein Abschnitt in diesem Kapitel berichtet über eine bisher wenig bekannte Begegnung und trägt die Überschrift Alan Turing und Konrad Zuse haben sich 1947 in Göttingen getroffen.
Die Kapitel 7 und 9 Eigenbau des Röhrenrechners ERMETH bzw. Schweizer Remington Rand mit programmgesteuerter Rechenmaschine M9 beschäftigen sich dann mehr mit dem Aspekt Schweiz und einigen Verbindungen zu Zuse.
Auf Seite 127 ist dabei noch ein bezeichnender Aspekt des Faktenreichtums des Buches zu finden: Das Berner Museum für Kommunikation ist weltweit das einzige Museum, das einen Rechenlocher M9 der Zuse KG besitzt. Die folgenden Museen haben keine solchen Maschinen: […]“(?!?) Es folgen sieben Zeilen Text mit den Angaben zu solchen 14 Museen. Auf den Seiten 202 – 203 finden sich dann schließlich Internetadressen der meisten dieser Museen unter der Überschrift Museen mit Zuse-Maschinen ergänzt durch zwei Listen mit Internetadressen von weiteren bedeutenden technischen Museen bzw. Computermuseen in der Schweiz.
Das zweiseitige achte Kapitel Der Aufschwung des wissenschaftlichen Rechnens ist ein Text von Martin Gutknecht.
Das Quellen- und Schriftenverzeichnis umfasst 42 Seiten, das Sach- und Personenverzeichnis 15 Seiten. Aus dem dazwischen geschobenen Nachwort von Heinz Waldburger seien die letzten Sätze zitiert: Die Studierenden in den ersten Z4-Jahren waren sich wohl nicht bewusst, dass 1952 in Zürich meines Wissens die erste Informatikvorlesung auf dem europäischen Kontinent stattfand. Und vermutlich ahnte niemand, dass wir dank Zuse und dank des Triumvirats unserer Lehrer an der weltweiten Entwicklung der Informationstechnologie teilnahmen.
Das Buch strotzt vor Details und ist – insbesondere, da Bruderer bisher unbekannte Fakten belegen und Zeitzeugen befragen konnte – eine wichtige Quelle für die Mathematik- und Informatikgeschichte. Andererseits ermöglicht die gewählte Sprache auch interessierten Laien eine etwas Geduld erfordernde Lektüre. Viele zeitgenössische Fotos und auch Schaltpläne illustrieren den Text. Über Bibliotheken von Mathematik- bzw. Informatikinstituten sollte das Buch erhältlich sein.
Es lässt sich der Eindruck nicht unterdrücken, dass sich das Buch in den einzelnen Kapiteln auf frühere Texte stützt, die kaum redaktionell überarbeitet wurden. (Dazu einige Links weiter unten.) Der z.B. wiederholt erwähnte Aspekt Immerhin besass das verschlafene Zürich durch die ratternde Z4 ein, wenn auch bescheidendes, Nachtleben oder das schon oben erwähnte Mehllager einer Bäckerei seien dafür zwei typische, wenn auch ironisch ausgewählte, Beispiele. Ein sorgfältiges Lektorat des Verlages hätte auch für knappere Zitierweisen sorgen sollen, wobei hier nicht für die freiherrlich-fränkische Weise plädiert werden soll. Das Literaturverzeichnis ist wirklich umfassend (ca. 500 Titel) und enthält sehr oft nicht nur jeweils die üblichen bibliografischen, sondern auch zusätzliche inhaltliche Angaben. Im Text des Buches wird aber fast nie auf das Verzeichnis verwiesen, sondern es werden immer wieder die jeweils vollständigen bibliografischen Angaben ausgeschrieben. So sind allein auf Seite 56 viermal die Angaben zur selbstverständlich wichtigsten Quelle abgedruckt: Konrad Zuse: Der Computer – Mein Lebenswerk, Berlin, 5. unveränderte Auflage, 2010, Seiten 76, 78, 97 und 111.
Anhang
Zu einigen Texten, die inhaltlich hohe Überschneidungen mit dem Buch haben, sind Links auf dieser Seite der ETH nach Eingabe etwa der Suchworte Zuse und Bruderer zu finden. Von dort kommt man nach einigen Klicks z.B. zu dem Text von Did Alan Turing interrogate Konrad Zuse in Göttingen in 1947?
Im Literaturverzeichnis des Buches sind mehr als 20 weitere Artikel von Bruderer zum Inhalt des Buches angegeben. So sind die ersten beiden Seiten des Artikels Konrad Zuse und die ETH aus dem Informatik-Spektrum (2011, 34 (6) 565 – 576) zu finden. Hier gibt es dann als pdf-Datei die erste Auflage dieser 25-seitigen Festschrift von Bruderer: Konrad Zuse und die ETH Zürich - Zum 100. Geburtstag des Informatikpioniers Konrad Zuse.
Hingewiesen sei auf die ausführliche Rezension von Dominik Landwehr. Auf dieser Seite des Oldenbourg Verlages lassen sich schließlich noch drei knappe Auszüge von Rezensionen finden.
Rezension: Ralf Schaper (Uni Kassel)