Einführung in das mathematische Arbeiten
Hermann Schichl und Roland Steinbauer
Springer Verlag; 2012, XII + 522 Seiten 19,95 €
ISBN 10: 9783827429940
ISBN 13: 9783642286452
Seit 2001 gehört die in der Studieneingangsphase angesiedelte Vorlesung „Einführung in das mathematische Arbeiten“ zum Pflichtpensum eines mathematischen Studienanfängers an der Universität Wien. Auch dort wird nämlich der breite Graben zwischen Schul- und Hochschulmathematik erkannt; auch dort führen die Schwierigkeiten des Übergangs zu einer allzu hohen „Drop–Out–Rate“, wie die Abbrecherquote im Neudeutschen heißt. Denn die meisten Abiturienten kommen mit Strukturmathematik zum ersten Mal in ihrem Leben auf der Hochschule in Berührung; auch das Wort „Beweis“ scheint aus der Schule zu verschwinden. All das kann man mit Fug und Recht bedauern – das ändert nichts an der Tatsache, dass sich etliche Studierende durch den hohen Abstraktionsgrad und die ungewohnten Sichtweisen in den ersten Wochen ihres Studiums überfordert fühlen und ihr Studium abbrechen. Nun gibt es meines Wissens keine Untersuchungen über die tatsächlichen Gründe für einen Studienabbruch. Manch einer stellt erst auf der Hochschule fest, dass er universitäre Mathematik nicht ausstehen kann; andere hegen eine tiefe Liebe zur Mathematik, ohne dass diese erwidert wird. In diesen Fällen kann auch das beste Projekt wenig ausrichten. Diejenigen Abbrecher, die sich lediglich überfordert fühlen, die aber nach einiger Eingewöhnung durchaus respektable Leistungen erzielen könnten, sollte man natürlich der Mathematik erhalten – hierfür sind Vorkurse wie der vorliegende sicher eine Möglichkeit, da sie den Einstieg in die Welt der Mathematik erleichtern können. Leider sind keine belastbaren Daten zum Erfolg dieser immerhin seit über 10 Jahren bestehenden Vorlesung im Text aufzufinden.
Der Aufbau des Buches bietet keine größeren Überraschungen: Nach einer Benennung der häufigsten Fallstricke zum Studienbeginn und der Ermahnung, die Übungsaufgaben auch wirklich zu lösen („Mathematik ist kein Zuschauersport“) gibt es zunächst eine Erläuterung der Begriffe „Definition“, „Satz“, „Beweis“ samt einigen allgemeinen Ausführungen zum Wesen der Mathematik. Das Kapitel über die Grundlagen berichtet aber auch über Indizes, vollständige Induktion, Funktionen und andere Dinge, die im weiteren Verlauf immer und immer wieder auftauchen werden. Anschließend steht Logik mitsamt boolescher Algebra zur Modellierung der Schaltkreislogik auf dem Programm. Hier bringt ein eigener Abschnitt dem Novizen das Thema „Beweisen“ näher. Dabei geben die Autoren nicht nur Formulierungshilfen und warnen vor häufigen Fehlerquellen, sondern erläutern auch, warum Beweise so wichtig sind. An die Logik schließt sich ein Kapitel über die Mengenlehre an. Naturgemäß wird diese fast ausschließlich naiv betrieben, aber die Axiome von Zermelo und Fraenkel werden ebenfalls erläutert. Zum Abschluss zeigt eine hübsche Diskussion, wie man innerhalb des rein naiven Ansatzes die Endlichkeit der Menge der natürlichen Zahlen nachweist: man betrachte die Menge derjenigen natürlichen Zahlen, die sich nicht durch höchstens 66 Zeichen definieren lassen. Diese Menge ist leer, denn ihr Minimum ließe sich mit 66 Zeichen beschreiben. Also lässt sich jede natürliche Zahl durch höchstens 66 Zeichen definieren – es gibt folglich nur endlich viele.
Im 5. Kapitel dreht sich alles um algebraische Strukturen; speziell werden Gruppen, Ringe und Körper behandelt. Die Autoren merken im Vorwort an, dass dieser Abschnitt den Anfängern sehr schwer fällt. Das wundert mich nicht, denn die wundervollen und überaus nützlichen Strukturen der Algebra können doch nur dann als wunderbar empfunden werden, wenn ausreichend viele Beispiele bereits vorhanden sind. Zu Beginn sieht der Zoo der Ringe doch eher abschreckend aus – die Leistungsfähigkeit der Algebra zeigt sich erst viel später. Immerhin kann der Leser in dem folgenden Kapitel über Zahlbereiche etliche Beispiele kennenlernen. Als Braunschweiger freut man sich natürlich, dass bei der Einführung der reellen Zahlen die Dedekindschen Schnitte verwendet werden. Und auch einen kleinen Ausblick auf spätere Highlights der Mathematik gibt es mit dem Satz von Abel bereits. Sogar Quaternionen und Oktaven werden eingeführt, so dass die Riege der alternativen reellen Divisionsalgebren endlich einmal im ersten Semester komplett beisammen ist. Das letzte und umfangreichste Kapitel behandelt die analytische Geometrie vor allem der Ebene und des Raumes, aber auch in höheren Dimensionen. Damit wird ein sehr solides Gerüst für die Grundvorlesung Lineare Algebra gelegt und eventuelle Lücken des Lesers im Bereich der Geometrie beseitigt.
An der Darbietung des Stoffs gibt es nichts auszusetzen. Die Mathematik wird präzise präsentiert und mit vielen Beispielen und zusätzlichen Erläuterungen unterfüttert; die Sprache ist gut verständlich, flüssig und angenehm zu lesen. Die Stoffauswahl ist dem Ziel angemessen. Da ein Teil der behandelten Themen (hoffentlich!) in der Schule behandelt wurde, kann sich der Anfänger auf die für ihn ungewohnte Darstellung der Mathematik konzentrieren. Aber es gibt auch ausreichend viel Neues zu entdecken – langweilig sollte es hier keinem werden. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis hilft bei der weiteren Arbeit. Da auch Fachartikel aufgeführt sind, wird hoffentlich der eine oder andere schon zu Studienbeginn zum Lesen eines solchen Aufsatzes verführt. Die hierbei sicherlich hilfreiche Übersetzung von englischen Phrasen wie „now everything is proved“ und ein kleines englisch–deutsches Fachwörterbuch befindet sich im Anhang.
Einem Mathematik–Anfänger kann ich daher das Buch unbedenklich empfehlen. Nach dem gründlichen Durcharbeiten ist er auf die Grundvorlesungen eingestimmt und exzellent vorbereitet. Das nützt nicht nur den Studierenden, sondern auch dem Dozenten!
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Februar 2013, Band 60, Heft 1
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Rezension: Harald Löwe