Berühmte Aufgaben der Stochastik
von den Anfängen bis heute
Rudolf Haller, Friedrich Barth
Verlag: Oldenbourg Wissenschaftsverlag (1. September 2013), 79,95 €
ISBN-10: 3486728326
ISBN-13: 978-3486728323
Die Anfänge der Wahrscheinlichkeitsrechnung als mathematischer Disziplin sind vorrangig in Berechnungen von Chancenverhältnissen und „gerechten“ Spieleinsätzen zu finden, wie sie verstärkt ab der Mitte des 17. Jahrhunderts auftraten. Der mathematische Begriff der Wahrscheinlichkeit wurde allerdings erst um ca. 1700, insbesondere in Jakob Bernoullis „ars conjectandi“ (1713) manifest. Die kombinatorische Bestimmung von „Möglichkeiten“ hatte bereits eine wesentlich längere Tradition, jedoch scheinen im allgemeinen das Aristotelische Dogma von der Unberechenbarkeit des Zufalls und die immer wieder propagierten Verbote von Glücksspielen die substantielle Beschäftigung mit entsprechenden Problemen stark behindert zu haben.
Bis heute haben konkrete Aufgaben die Weiterentwicklung von Konzepten und algebraischen sowie analytischen Methoden der Stochastik motiviert. Insofern bilden Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik innerhalb der mathematischen Teilgebiete einen Bereich, der in besonderer Weise mit seinen inner- wie außermathematischen Anwendungen in Wechselwirkung steht.
Das Buch „Berühmte Aufgaben der Stochastik“ von Friedrich Barth und Rudolf Haller greift gerade diesen Aspekt auf. Beide Autoren sind Verfasser mehrerer gymnasialer Unterrichtswerke, besonders des auch für einführende Hochschulkurse empfehlenswerten „Stochastik-Leistungskurs“ (1. Aufl. München 1983), der zusammen mit dem zugehörigen Lösungsbuch immer noch im Handel ist. Eine Besonderheit dieses Lehrbuchs ist der reiche Fundus an historischen Problemstellungen, insbesondere aus der Zeit zwischen ca. 1650 und ca. 1750, die auch den Kernbestandteil des neuen Buchs bilden.
Die einzelnen „berühmten Aufgaben“ werden in der Regel in der chronologischen Reihenfolge ihres ersten Auftretens vorgestellt. Gemäß Inhaltsverzeichnis sind es ca. 140 Probleme, die meist noch in verschiedenen Ausprägungen und Lösungsansätzen erläutert werden. Der Hauptanteil des Buchs betrifft den Zeitraum bis ca. 1750. Natürlich werden die „klassischen“ Aufgabenstellungen genau diskutiert: Das bereits in älteren Quellen behandelte, aber erst im Briefwechsel zwischen Pascal und Fermat gelöste Problem über die gerechte Aufteilung des Spieleinsatzes bei vorzeitigem Spielabbruch, die von Huygens formulierten 5 Probleme, darunter das über die Ruinwahrscheinlichkeit eines Spielers, die Berechnung von Lebenserwartungen. Auch Nikolaus Bernoullis „Petersburger Problem“ von 1713 wird ausführlich vorgestellt. Es betrifft die paradoxe Situation eines simplen Spiels, das mit überwältigender Wahrscheinlichkeit nach einer geringen Zahl von Durchgängen beendet ist, jedoch trotzdem eine unendliche Gewinnerwartung aufweist und damit nach den üblichen Regeln einen unendlichen Spieleinsatz verlangt. Daneben findet man eine Vielzahl von Würfelproblemen, wie sie bereits in der ihrer Zeit weit vorauseilenden Schrift „De Vetula“ (ca. 1250) berührt worden sind. Zutreffenderweise setzt das Buch aber schon bei uralten Zufallsexperimenten und den damit verbundenen Anzahlbestimmungen ein. Der Leser lernt die in der Antike weit verbreiteten Astragaloi – das sind die Sprungbeine von Paarhufern, die vier unterschiedlich wahrscheinliche Seitenflächen aufweisen – als Zufallsgeräte samt ihrem Einsatz für Orakel kennen. Überhaupt bietet das Werk eine Vielzahl von ebenso interessanten wie lehrreichen kulturhistorischen Bezügen. Für die eher „moderneren“ Zeiten stehen, um nur einige Themen zu nennen, das inverse Schließen aufgrund der Bayesschen Formel, verschiedenste Urnenexperimente, darunter auch das der berühmten Pólya-Urne, aber auch einige sehr interessante Paradoxa, wie etwa das „pairwise-worst-best-paradox“ von Colin Blyth. Dass das notorische Ziegenproblem keine Berücksichtigung findet, ist wahrhaftig kein Mangel.
Die historischen Lösungsansätze werden im Detail erklärt und, falls der Situation angemessen, mit modernen Methoden verglichen. Dabei genügt die Auswahl der Aufgaben dem Prinzip der Zugänglichkeit mit möglichst elementaren, vorrangig kombinatorischen, Mitteln. Somit ist das Buch bereits für Oberstufenschüler und mathematische Laien mit Grundkenntnissen lesbar. Manche der verzwickten kombinatorischen Betrachtungen sind aber auch für den mathematisch Gebildeten eine Herausforderung. In diesem wahrlich nicht einfachen Rahmen ist den Autoren in aller Regel eine sehr durchsichtige und verständliche Darstellung gelungen. Durch die Beschränkung auf elementare Problemstellungen wird allerdings die Repräsentativität der Aufgaben für den gleichzeitigen Entwicklungsstand der Stochastik spätestens ab Laplace wesentlich eingeschränkt. Asymptotische Betrachtungen bei großen Fallzahlen, wie sie bereits im 18. Jahrhundert einsetzten und bei Laplace zu einem wesentlichen Element der Wahrscheinlichkeitsrechnung wurden, fehlen fast vollständig, ebenso wie statistische Aufgabenstellungen im engeren Sinne.
Trotz des historischen Zugangs handelt es sich bei den „berühmten Aufgaben“ nicht um ein eigentlich mathematikgeschichtliches Werk. Die Autoren legen den Schwerpunkt ihres Interesses eher in die Variabilität von Lösungsmethoden als in konzeptionelle Entwicklungen. Tatsächlich liegt jedoch ausgerechnet die Genese des mathematischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs mitten in einer von dem Buch besonders ausführlich erfassten Periode. Dieser Tatsache hätte man vielleicht stärker Rechnung tragen sollen. Trotzdem ist das vorliegende Werk eine gute Basis auch für historische Untersuchungen, wenn es durch geeignete Quellen ergänzt wird. Auch wenn die Originalliteratur jeweils explizit aufgeführt und zum großen Teil im Internet in digitalisierter Form zugänglich ist, könnte in systematischerer Weise auf Sammelwerke, Übersetzungen und Kommentare hingewiesen werden. Fehlende Seitenangaben bei Zeitschriftenaufsätzen erschweren ebenfalls die weiterführende Lektüre.
Leider weist das Buch von Barth und Haller eine recht erhebliche Zahl an Flüchtigkeitsfehlern, Schreibfehlern sowie kleineren Ungereimtheiten oder auch Redundanzen auf. Trotz der insgesamt sehr guten Ausstattung und reichen Illustrierung genügen Text- wie auch Formelsatz nicht professionellen Anforderungen. Andererseits bietet das Buch eine ausgezeichnete Basis für verschiedenste Unterrichtszwecke, etwa als Arbeitsgrundlage für stochastische Arbeitsgemeinschaften und Seminare ab der gymnasialen Oberstufe, als Fundus für Übungen zu Stochastikvorlesungen, zum problemorientierten Selbststudium der elementaren Kombinatorik, als Interpretationshilfe für historische Originalquellen. Aufgrund der vielenVorzüge möchte man daher den „berühmten Aufgaben“ eine gute Verbreitung wünschen.
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, April 2015, Band 62, Heft 1
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Rezension: Hans Fischer (Eichstätt)