Karlheinz Schüffler
Zweite, neu bearbeitete Auflage, Springer Spektrum 2017, xv + 280 Seiten, 24,99 €
eBook: 19,99 €
ISBN 978-3-658-15185-0
ISBN 978-3-658-15186-7 eBook
Ein Tasteninstrument sauber zu stimmen - im Zeitalter präziser elektronischerMessgeräte scheint das keine allzu große Kunst mehr zu sein. Dass dahinter aber (aus theoretischer und historischer Perspektive) eine Menge Mathematik verborgen ist, zeigt das Buch „Pythagoras, der Quintenwolf und das Komma“ von Karlheinz Schüffler.
In der heute gebräuchlichen gleichstufigen Stimmung entsprechen sieben Oktaven genau zwölf (gleichstufige) Quinten. Das ist aber nicht richtig, wenn die Quinten völlig rein gestimmt werden, wie eine einfache Rechnung zeigt: Das Frequenzverhältnis der Oktave zum Grundton ist 2 : 1, das der reinen Quinte 3 : 2. Das Verhältnis von zwölf Quinten zu sieben Oktaven ist also
\(\varepsilon_P:=\frac{\left(\frac{3}{2}\right)^{12}}{2^7}=\frac{3^{12}}{2^{19}}\approx 1,\!0136\)
Dies entspricht etwa 1/8 eines Ganztons. Der Unterschied ist also deutlich hörbar. Der Überlieferung nach war dieses Phänomen bereits Pythagoras bekannt; das Intervall mit Frequenzverhältnis \(\varepsilon_P\) ist das berühmte „Pythagoräische Komma“. Zwischen der 11. Quinte und der 12. Oktave entsteht dabei ein Intervall, das genau um das Pythagoräische Komma kleiner ist als eine reine Quinte, die sogenannte „Wolfsquinte“, die für das Ohr unschön klingt.
Die aus Quinten und Oktaven generierte „pythagoräische Skala“ war bis ins Mittelalter hinein das vorherrschende System in der Musik. Mit der Entwicklung der Mehrstimmigkeit erkannte man immer mehr die Nachteile der pythagoräischen Tonleiter, denn neben der Wolfsquinte klingen in ihr auch Dur- und Moll-Akkorde nicht rein und das Transponieren in andere Tonarten ist nur sehr eingeschränkt möglich.
Während Streicher und Sänger ihre Intonation der jeweiligen Tonart anpassen können, ist dies bei einem Tasteninstrument nicht möglich. Temperierung bedeutet, eine Stimmung zu wählen, bei der möglichst viele Tonarten spielbar sind und gleichzeitig die Akkorde nicht allzu unsauber klingen.
Durch die Musikgeschichte hindurch gab es unterschiedliche Ansätze, das Temperierungsproblem zu lösen. Karlheinz Schüffler systematisiert und beschreibt in seinem Buch unterschiedliche historische Tonsysteme, angefangen von der pythagoräischen Skala über die rein-harmonische Stimmung und die Mitteltönigkeit bis hin zum heute meist verwendeten gleichstufigen System. Bemerkenswert im Vergleich zu anderer Fachliteratur ist dabei vor allem der Ansatz, die Skalen als Beispiele einer allgemeinen mathematischen Theorie von quintgenerierten Tonleitern zu beschreiben, sofern dies möglich ist.
Das erste Kapitel legt die Grundlagen für die folgenden und bietet dabei einen Überblick über die behandelten Themen. So wird z.B. die für das Buch zentrale Intervallarithmetik erklärt, das Cent-Maß wird eingeführt und das Eulersche Tongitter wird vorgestellt. Leider teilt der Autor dem Leser nicht immer mit, welche Konzepte er in einem späteren Kapitel genauer erläutern wird und welche nicht. Im zweiten Kapitel wird die bereits im ersten Kapitel eingeführte Intervallarithmetik verwendet, um eine allgemeine (algebraische) Theorie von quintgenerierten Skalen herzuleiten. Der Begriff „Quinte“ kann je nach verwendeter Temperierung eine unterschiedliche Bedeutung haben. Beispielsweise umfasst die reine Quinte der pythagoräischen Skala 702 Cent, die Quinte der gleichstufigen Temperierung hat 700 Cent und diejenige von mitteltönigen Stimmungen zwischen 694 und 698 Cent. Deshalb definiert der Autor eine abstrakte Quinte und nutzt Gruppenstruktur und Äquivalenzklassen, um allgemeine Eigenschaften von quintgenerierten Tonleitern beschreiben zu können. Ein sehr interessanter Ansatz, weil er die Stärke mathematischer Abstraktion an einem einfachen Beispiel zeigt. Schade nur, dass abstrakte Theorie und konkrete Beispiele nicht immer scharf genug getrennt werden.
Die Kapitel 3 bis 7 sind dann den unterschiedlichen Stimmungen bzw. Temperierungen gewidmet. Zunächst wird die bereits im Grundlagenkapitel eingeführte pythagoräische Stimmung, die aus reinen Quinten generiert wird, nochmals ausführlich erklärt, auch unter Berücksichtigung des historischen Kontexts (Kapitel 3). Das im folgenden Kapitel behandelte natürlich-harmonische System ist nicht ausschließlich aus Quinten generiert und nutzt stattdessen das auf Leonard Euler zurückgehende Eulersche Tongitter, welches in seiner klassischen Form in der einen Richtung aus reinen Quinten und in der anderen aus reinen großen Terzen besteht. Dieses Kapitel enthält einige interessante Aspekte, z.B. zur harmonischen Teilung von Intervallen und der dazugehörigen elementaren Mathematik. Es fehlt aber etwas der rote Faden, weshalb das Kapitel nicht leicht lesbar ist.
Es folgen zwei Kapitel über mitteltönige und andere historische Temperierungen. Die mitteltönigen Skalen werden generiert aus einer Quinte, die so gewählt wird, dass entweder möglichst viele reine große Terzen oder möglichst viele reine kleine Terzen entstehen. Die anderen vorgestellten historischen Temperierungen lassen sich meist nicht allein aus Quinten erzeugen.
Allen bisher vorgestellten Temperierungen ist gemeinsam, dass dabei unterschiedlich große Halbtöne entstehen. Dadurch erhält jede Tonart ihre eigene Charakteristik. Bei der in Kapitel 7 beschriebenen gleichstufigen Temperierung ist dies anders. Sie entsteht, indem man die Oktave in zwölf genau gleich große Intervalle (Halbtöne) teilt. Mathematisch basiert die Teilung im wesentlichen auf dem geometrischen Mittel.
Das letzte Kapitel enthält eine Ansammlung von mathematischen Konzepten, die in einem Zusammenhang zur Thematik stehen, in den übrigen Kapiteln aber als zu schwierig für mathematisch weniger versierte Leser angesehen wurden. Über Jahrhunderte wurde die Musik als eng verwandt mit mathematischen Disziplinen angesehen. Das ist heute nur noch Wenigen bewusst. Karlheinz Schüffler zeigt in seinem Buch, wo man mathematische Konzepte aus der Schulmathematik und dem Grundstudium in der Musiktheorie wiederfinden kann.
Hier nur einige Beispiele:
- der Logarithmus,
- der Strahlensatz aus der elementaren Geometrie,
- arithmetisches, geometrisches und harmonisches Mittel,
- Primzahlen,
- Äquivalenzklassen,
- Gruppenstruktur.
Bei weitem das meiste mathematische Vorwissen benötigt man für folgenden Satz, der im Buch auf mehrere Arten bewiesen wird: Für \(q\in\mathbb{C}\) mit \(|q|=1\) ist die Menge \(\{q^k\;:\;k\in\mathbb{Z}\}\) entweder endlich oder sie liegt dicht im Einheitskreis der komplexen Ebene. (Als Anwendung auf die Musiktheorie kann man hieraus folgern, dass man jedes Intervall beliebig genau durch Aufeinanderschichten von reinen Quinten und geeignete Reoktavierung approximieren kann.)
Laut Klappentext ist das Buch auch an Nichtmathematiker gerichtet. Tatsächlich werden für die meisten vorgestellten Themen nur relativ geringe mathematische Vorkenntnisse gebraucht. Allerdings wird der Laie vielerorts von der stark formalen Sprache irritiert sein, während der Mathematiker an manchen Stellen die mathematische Präzision vermisst. Trivialitäten werden teilweise sehr breit und unnötig kompliziert dargestellt, über schwierigere Punkte dagegen wird stellenweise schnell hinweg gegangen. Und nicht immer wird transparent genug dargestellt, welchen Mehrwert es mit sich bringt, aus der Musiktheorie wohlbekannte Tatsachen zu mathematisieren.
Trotzdem kann das Buch durchaus als Grundlage für ein interdisziplinäres Seminar für Lehramtsstudierende mit den Unterrichtsfächern Mathematik und Musik dienen, sofern der Dozent bereit ist, genügend Zeit und Mühe in die Betreuung zu investieren.
„Pythagoras, der Quintenwolf und das Komma“ behandelt ein spannendes Thema, zu dem es sonst wenig deutschsprachige Literatur gibt. Für den mathematikinteressierten Musiker oder den musikinteressierten Mathematiker bietet das Buch eine Vielzahl von interessanten Ansätzen zum Weiterdenken, vielleicht gerade deshalb, weil in der Darstellung noch nicht alles ausgereift und glattgeschliffen ist.
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Oktober 2017, Band 64, S. 249–252
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Rezension: Cornelia Kaiser (Uni Paderborn)