World Scientific 2016, xix+489 Seiten, 41,90 €
George Gheverghese Joseph
ISBN 978-1-786-34061-1
ISBN 978-1-786-34063-4
Den meisten Mathematikern ist bewußt, dass die von uns verwendeten arabischen Ziffern indischen Ursprungs sind und die Null als Rechengröße in Indien erfunden wurde. Schon weniger bekannt ist, dass selbst der Name Sinus für die bekannte trigonometrische Funktion von einer Fehlübersetzung der arabischen Umschreibung eines Sanskritwortes ist, mit dem die Hälfte der Sehne eines Kreisbogens bezeichnet wurde. Namen und Lebensdaten der großen indischen Mathematiker sind den meisten unbekannt, sieht man einmal ab von Srinivasa Ramanujan (1887–1920), dem kürzlich ein Hollywood Spielfilm („TheMan Who Knew Infinity“, 2015) gewidmet war. Das hier zu besprechende Buch bietet eine ausgezeichnete Möglichkeit Wissenslücken zu schließen und die kulturhistorische Bedeutung der indischen Mathematik besser einschätzen zu lernen.
Die Anfänge der indischen Mathematik liegen in der Induskultur (nach einer der zentralen Fundstätten auch Harappa-Kultur genannt), die auf dem Gebiet des heutigen Pakistan und Nordwestindiens etwa 3000–1700 v. Chr. Bestand hatte. Aus ihrer Blütezeit (ca. 2600–1900 v. Chr.) kennt man ausgefeilte Stadtarchitekturen mit Be- und Entwässerungssystemen, deren Artefakte und Zeichensysteme (die Schrift ist bis heute nicht entziffert) auf das Vorhandensein eines Dezimalsystems hinweisen. Nachgewiesen sind auch intensive Handelskontake mit Mesopotamien.
Die der Induskultur nachfolgende vedische Kultur (ca. 1500–100 v. Chr.) mit einer aus dem Nordwesten eingewanderten Herrscherschicht von zunächst nomadischen Ariern hinterließ im Gegensatz zur Induskultur eine streng reglementierte Sakralarchitektur. Die in Sanskrit überlieferten Konstruktionsanleitungen für Altäre („Salbasutras“) sind die ersten schriftlichen Zeugnisse indischer Mathematik. Ursprünglich wurden diese Konstruktionsanleitungen aber mündlich überliefert. Es ist plausibel, aber nicht nachweisbar, dass die den Salbasutras zugrundeliegende Geometrie ihren Ursprung in der Induskultur hat.
In der Spätphase der vedischen Kultur (auf die die Entwicklung des Kastenwesen zurückgeht) entstanden zwei Religionen, der Jainismus und der Buddhismus. Nach der Kodifizierung des Sanskrit durch Panini (ca. 500 v. Chr.) war Mathematik insbesondere Teil der religiösen Literatur des Jainismus. In die folgende Zeit (bis etwa 500 n. Chr.) fällt die vollständige Entwicklung des indischen Dezimalsystems mit der Null als Rechengröße.
Mit dem Astronomen und Mathematiker Aryabhata (456–540 n. Chr.) beginnt die „klassische Periode“ der indischen Mathematik. In seinem Text „Aryabhatiyah“ aus dem Jahr 499 beschrieb er in 33 von 121 Versen mathematische Themen, speziell Rechentechniken für arithmetische und geometrische Fragestellungen. Der Text war extrem einflussreich und wurde immer wieder kommentiert, so zum Beispiel von Bhaskara (ca. 600–680).
Brahmagupta (598–670) entwickelte die Mathematik der Aryabhatiya weiter und leistete Pionierarbeit in Arithmetik und Algebra, speziell zum Rechnen mit negativen Zahlen und beim Lösen von Gleichungen. Er schrieb aber auch über Drei- und Vierecke sowie über Kreisgeometrie.
Mahavira (ca. 800–870), der bekannteste indische Mathematiker des 9. Jahrhunderts, griff die Schriften von Brahmagupta und ältere Jainistische Texte zur Kombinatorik auf.
Ein bedeutender persischer Mathematiker, der im Gefolge der Raub- und Eroberungszüge seines Dienstherren Mahmud von Ghazna genug Zeit in Indien verbrachte um ein Buch über Indien zu schreiben, Sanskrit zu lernen und Werke aus dem Sanskrit ins Arabische zu übersetzen war Al-Biruni (973–1048).
Der Höhepunkt der klassischen Periode ist das Werk von Bhaskara II (1114–1185), der die Auflösung von Gleichungen, zum Teil in mehreren Variablen, aber auch Dreiecke und Vierecke sowie trigonometrische und kombinatorische Fragen behandelte. Auch seine Werke wurden in den nachfolgenden Jahrhunderten vielfach kommentiert.
Die bedeutendste Entwicklung der indischen Mathematik jenseits der klassischen Periode ist die Kerala-Schule, als deren Gründer Madhava (1340–1425) gilt. Von ihm sind keine Manuskripte zur Mathematik überliefert, es wird aber in späteren Schriften vielfach auf ihn Bezug genommen. Kerala, das an der westlichen Küste der Südspitze von Indien liegt, nimmt eine gewisse Sonderrolle ein. Hier fand ein intensiver Handelsaustausch mit Arabien statt lange bevor der Norden Indiens kriegerisch islamisiert wurde. Zwischen 800 und 1000 erlebte die Gegend eine friedliche Periode, in der eine bedeutende Bildungsinfrastruktur aufgebaut wurde. Es folgten hundert Jahre Krieg und die Ankunft der Portugiesen. Für das klassische Zeitalter der indischen Mathematik gibt es keine Belege von Aktivität in Kerala. Letztendlich fanden die klassischen Texte aber doch Eingang und wurden in beeindruckender Weise weiterentwickelt. Zum Teil Jahrhunderte vor den westlichen Astronomen und Mathematikern entwickelten die Mitglieder der Kerala-Schule, insbesondere Nilakhanta (1444–1544), korrekte Gleichungen für Planetenbahnen, Potenzreihen für gewisse trigonometrische Funktionen und Interpolationsformeln für Geschwindigkeiten.
Mit der Kolonisierung durch die Engländer ab Mitte des 18. Jahrhunderts begann auch die Marginalisierung der mathematischen Traditionen in Indien. Gheverghese Joseph beschreibt die hier skizzierten mathematischen Entwicklungen detailreich und mit vielen Beispielen, die dem Leser die Chance geben ein Gefühl für die Art und Weise zu bekommen, wie indische Mathematik tradiert wurde. Ein besonderes Augenmerk legt er auf die kulturhistorischen Verbindungen und argumentiert dabei für eine gewisse kulturelle Kontinuität in der oft als eher sporadisch beschriebenen indischen Mathematikgeschichte. Er beschreibt dabei die problematische Quellenlage und kennzeichnet deutlich, wo er eher spekuliert. Dabei bringt er immer wieder interessante Ideen ein, wie zum Beispiel die Frage, ob das dokumentierte Interesse portugiesischer Jesuiten an kalendarischen Berechnungen der Astronomen aus Kerala (kurz vor dem Wechsel zum gregorianischen Kalender) auch mit einem mathematischen Wissenstransfer einhergegangen sein könnte. Detailliert beschreibt er auch die Rezeptionsgeschichte indischer Mathematik speziell in England.
Sehr hilfreich für den Leser sind die ersten beiden Kapitel des Buches, in denen der Autor zunächst die zentralen Frage- und Problemstellungen in der Geschichte der indischen Mathematik auflistet und dann einen kurzen Überblick über diese Geschichte im Kontext der allgemeinen Mathematikgeschichte gibt. Für den in indischer Geschichte und Geographie nicht so bewanderten westlichen Leser wären weitere Karten (neben der einen zur Harappa-Zivilisation) hilfreich gewesen. Auch ein Glossar für die Sanskrit-Termini hätte ich zu schätzen gewußt. Die Reichhaltigkeit der präsentierten Information führt bisweilen zu etwas ermüdenden Aufzählungen und gewissen Schwierigkeiten, bestimmte Fakten, die man zur Einordnung noch einmal nachlesen möchte, wiederzufinden. Andererseits ist das Buch eben auch eine Fundgrube, die ich sicher nutzen werde, um der indischen Mathematik in der Lehre zukünftig einen angemessenen Platz einzuräumen.
Rezension: J. Hilgert (Uni Paderborn)
Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, März 2018, Band 65, S. 121-123. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.