prime numbers and the riemann hypothesisBarry Mazur und William Stein

Cambridge University Press 2016, XI + 142 Seiten, 21,99 €
ISBN 978-1-107-49943-0

Eines der prominentesten offenen Probleme der Mathematik ist die Frage nach der Gültigkeit der Riemann-Hypothese. Sie ist das achte der 23 offenen Probleme, die David Hilbert in der schriftlichen Version seines Vortrags auf dem Internationalen Mathematiker-Kongress im Jahr 1900 in Paris als zukunftsweisend benannt hat. Als einziges der Hilbertschen Probleme (von denen inzwischen viele gelöst wurden) steht sie auch auf der Liste der sieben Millenniums-Probleme, für deren Lösung das Clay Mathematics Institute einen Preis von jeweils einer Million US-Dollar ausgesetzt hat.

Es gibt eine Reihe von Büchern, in denen die Riemann-Hypothese und ihre Relevanz für die Theorie der Primzahlen für mathematisch interessierte Laien in unterschiedlichem Detailgrad erläutert wird. Das erklärte Ziel der beiden Autoren des vorliegenden Buches ist es, Lesern mit solider mathematischer Schulbildung Folgendes nahezubringen: man kann das Abzählen des Anteils der Primzahlen an allen natürlichen Zahlen bei aller augenscheinlichen Unregelmäßigkeit so systematisieren, dass sich ganz erstaunliche Regelmäßigkeiten zeigen.

Diesem Ziel ist der erste von vier Teilen des Buches gewidmet, der ungefähr die Hälfte des Textes ausmacht. In diesem Teil finden sich zwei Formulierungen der Riemann-Hypothese:

A: Für jede reelle Zahl X ist die Anzahl der Primzahlen, die kleiner als X sind, durch das Logarithmische Integral Li(X) approximiert, und diese Approximation ist Quadratwurzel-genau.
B: Die durch den Logarithmus der Primzahl gewichtete Zählfunktion \(\Psi\) der Primzahlpotenzen approximiert die Funktion f(X)= X Quadratwurzel-genau.

Alle in diesen Formulierungen vorkommenden mathematischen Begriffe werden im Vorfeld ausführlich motiviert, diskutiert und – für den mathematisch versierten Leser – präzise definiert. Die Diskussion der Zählfunktionen und ihrer Approximationen ist mit vielen Beispielen und Grafiken unterlegt, und ich denke die Autoren erreichen ihr Ziel, einen Text zu produzieren, der einem interessierten Geisteswissenschaftler den Ursprung und die Fragestellung der Riemann-Hypothese nahebringen kann.

Die Teile II bis IV des Buches setzen sukzessive mehr mathematische Kenntnisse voraus und haben den Anspruch, die Brücke zu Riemanns Formulierung seiner Hypothese durch die Nullstellen der Zeta-Funktion und die spektrale Interpretation der nicht-trivialen Nullstellen zu bauen. Leider sind diese Teile auch sukzessive weniger sorgfältig geschrieben.

Der zweite Teil, Distributions, enthält eine intuitive Beschreibung der grundsätzlichen Ideen, die den Dirac-Distributionen und ihren Fouriertransformationen zugrunde liegen. Er kulminiert in der Definition des Riemann-Spektrums als Menge der Spikes einer aus den Primzahlpotenzen gebildeten trigonometrischen Reihe.

Im dritten Teil, The Riemann Spectrum of the Prime Numbers, findet man empirische Daten, hauptsächlich in Form von Graphiken, darüber, wie sich die Spikes tatsächlich als steile Ausschläge in der Fouriertransformation einer aus der Zählfunktion der Primzahlpotenzen gewonnenen Funktion \(\Phi\) manifestieren. In dem kurzen Ausblickskapitel 34 wird auch der Zusammenhang des Riemann-Spektrums mit den Spektren von Zufallsmatrizen angesprochen. In diesem Kapitel zeigt sich, dass die Autoren über das Riemann-Spektrum nicht so denken, wie sie es für den Leser eingeführt haben. Sie stellen dort nämlich die Frage nach der Multiplizität der Spektralwerte, was in der gegebenen Definition der Spektralwerte als Spikes einfach nicht sinnvoll ist.

Im vierten Teil, Back to Riemann, soll die genannte Brücke geschlagen werden. Hier zeigen sich dann die Schwächen des Buches, die möglicherweise dem Umstand geschuldet sind, dass die Autoren das Buch über einen Zeitraum von zehn Jahren hinweg in kurzen Arbeitsphasen von je einer Woche im Sommerurlaub geschrieben haben. Zu Beginn von Teil IV nehmen die Autoren auf eine in Teil III nicht vorgestellte dritte Formulierung der Riemann-Hypothese auf der Basis der Funktion \(\Phi\) Bezug und machen diese zum Ausgangspunkt der weiteren Diskussion. Damit hängt der gesamte Abschnitt über Riemanns Funktion \(R(X)=\sum_{n=1}^\infty\frac{\mu(n)}{n}\mbox{li}(X^{\frac{1}{n}})\) und die daraus entwickelten Korrekturterme in der Luft. Für den Zusammenhang des Riemann-Spektrums mit den Nullstellen der Zeta-Funktion bieten die Autoren dann überhaupt keine Erklärung mehr an, sondern formulieren ganz lapidar eine fourth formulation (sic!) der Riemann-Hypothese:

D: Alle nicht-trivialen Nullstellen von \(\zeta(s)\) liegen af der vertikalen Gerade in der komplexen Ebene, die aus den Zahlen mit Realteil gleich 1=2 besteht. Diese Nullstellen sind nichts anderes als \(\frac{1}{2}\pm i\theta_1,\frac{1}{2}\pm i\theta_2,\frac{1}{2}\pm i\theta_3,\ldots,\) wobei die \(\theta_1,\theta_2,\theta_3,\ldots\) gerade die Zahlen aus dem Riemann-Spektrum sind.

Ich finde den ersten Teil des Buches sehr gelungen, die Teile II und III durchaus lesenswert, den vierten Teil aber enttäuschend.

Für eine zweite Auflage des Buches würde ich mir wünschen, dass neben den offensichtlichen Fehlern wie 1824–1908 (sic) als Lebensdaten von Gauß auch die genannten Ungereimtheiten behoben würden. Außerdem wäre es schön, wenn es für die wiederholt beschworene Vielfalt der Anwendungen einer Bestätigung der Riemann-Hypothese im Text auch weniger selbstreferentielle Belege gäbe. Bisher wird lediglich gesagt, welche Konsequenzen sie für die Approximationseigenschaften der zur Formulierung und Untersuchung der Hypothese herangezogenen Zählfunktionen und Korrekturterme hätte. Schließlich wäre zu überlegen, ob nicht in den „Endnotes”, die sich an die professionellen Mathematiker richten, etliche der zahlreichen Verweise auf Texte im Internet durch dauerhaftere Referenzen ersetzt werden können.

Rezension: Joachim Hilgert (Universität Paderborn)

Quelle: Springer Verlag, Mathematische Semesterberichte, Oktober 2018, Band 65, Heft 2 , S. 311-313
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags